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Tanz des Aufruhrs XVII

Tanz des Aufruhrs XVII,

„Die schöne Antike verdiente immer Verehrung,
Doch nie, glaubte ich, Anbetung.
Ich sehe die Menschen der Antike, ohne die Knie zu beugen,
Sie sind groß, das ist wahr, doch Menschen wie wir“.
(Charles Perrault, Zeitalter Ludwigs XIV.)

So begann der Streit zwischen Alten und Modernen oder zwischen Griechen und Europäern. Wer hatte es weitergebracht? Die antiken Heiden oder die christlichen Abendländer? In welchen Disziplinen? In der Kunst, der Philosophie, in Technik und Naturwissenschaft?  

Hätten die Modernen es nicht weitergebracht als die Alten, hätte die Neuzeit sich nicht einbilden dürfen, den Fortschritt aus der Taufe gehoben und die gesamte Geschichte des Menschen überwunden zu haben – und in einem endlosen Progress weiter zu überwinden.

Als die italienische Frührenaissance die Griechen wieder ausgegraben hatte, wurden die Alten von den ersten Aufklärern Europas „angebetet“. Die Anbetung mäßigte sich zur „Verehrung“, je mehr die beginnende Naturwissenschaft die naturphilosophischen Spekulationen der Alten in den Schatten stellte. Mit den Entdeckungen von Kepler, Galilei und Newton wurde klar, dass die Griechen szientifisch nicht mehr mithalten konnten.

Im Politischen und Moralischen allerdings blieben die Aufklärer die Schüler Athens – bis zur amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und zur Französischen Revolution. Als die Sensationen der politischen Freiheitsbewegungen abgelöst wurden durch

Kapitalismus und Eroberung der Welt, wurde die Verehrung abgelöst durch das Gefühl einer umfassenden Überlegenheit.

Die Antike wurde verdrängt und aus dem Bildungskanon getilgt. Das obligate Lernen der griechischen Sprache im Gymnasium wurde zurückgedrängt oder – im Realgymnasium – ganz aufgegeben. Naturwissenschaftliche Fächer eroberten die Lehrpläne.

Die Bewunderung der hellenischen Demokratie wich der Selbstbewunderung der Modernen, die keine Grenzen ihrer Fortschrittsfähigkeiten anerkannten und ihre Demokratien in unersättliche Machtmaschinen verwandelten.

Auf die theoretischen Naturerkenntnisse waren die Europäer am wenigsten stolz. Stolzer, ja geradezu hochmütig waren sie auf die Machtfunktion ihrer Theorien. Wissen ist Macht: je mehr Wissen sie gewannen durch ökonomische Dominanz und furchterregende Waffen über Mensch und Natur, je mehr fühlten sie sich als Götter der Erde.

Die Verheißungen ihrer Religion hatten die Weisheit der Heiden bezwungen. Die Erwählten waren zu Königen der Welt geworden, die keine Mühe hatten, sie per Naturverwüstungen zu beherrschen:

„… und wir werden Könige sein auf Erden.“

„Und so jemand sie schädigen will, so geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde; und so jemand sie will schädigen, der muß also getötet werden. Diese haben Macht, den Himmel zu verschließen, daß es nicht regne in den Tagen ihrer Weissagung, und haben Macht über das Wasser, es zu wandeln in Blut, und zu schlagen die Erde mit allerlei Plage, so oft sie wollen.“

Das war die Prophezeiung der gegenwärtigen Ökokatastrophe, mit der die Christen die Natur in ihre Gewalt gebracht haben.

Aus Anbetung und Verehrung der Griechen waren Negation und Missachtung geworden. Die gegenwärtige Demokratiekrise ist eine Moralkrise, die Moralkrise ein Auslöschen der griechischen Urkultur.

Siegerin über die Heiden wurde das amoralische, naturfeindliche und apokalyptische Christentum, das sich die letzten demokratischen Fetzen vom Körper reißt und sich rüstet, im Einklang mit dem Pantokrator das finale Halleluja anzustimmen:

Uns ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.

Da die Erlöserreligion gespalten ist in drei unversöhnliche Fraktionen, steht uns der Endkampf dreier rivalisierender Religionen um die Herrschaft der Erde bevor – es sei, die Menschheit macht dem himmlischen Höllenzauber ein Ende und beginnt eine heidnische Friedensepoche unter der Ägide der Vernunft.

In seinem Buch „Die Erwartung der Endzeit, Vom Ursprung der Apokalypse“, beschreibt der Historiker Norman Cohn die Endzeitperspektive:

„Dieses Buch untersucht die tiefsten Wurzeln und das erste Auftreten einer Erwartung, die noch heute gilt. Dass es binnen kurzem zur wunderbaren Vollendung der Welt kommen wird, in der das Gute zuletzt über das Böse siegt und es ein für allemal zunichte macht; dass die menschlichen Werkzeuge des Bösen dann entweder leiblich vernichtet oder sonstwie beseitigt werden; dass die Auserwählten daraufhin in einträchtiger und konfliktfreier Gemeinschaft auf einer verwandelten und geläuterten Erde leben werden.“

Der christogene Westen – mit Ausnahme der USA – fühlt sich zu aufgeklärt, als dass er noch in den Spuren religiöser Endzeitperspektiven liefe. Weshalb die Lehre von den Letzten Dingen in Europa verdrängt wird. Die historisch-kritische Forschung hat der wörtlichen Auslegung der Schrift den Garaus gemacht, weshalb ihre Religion eine Chimäre ist aus unbedingtem Glauben an die Heilsgeschichte – und Resten instrumenteller Vernunft.

In Amerika gab es allzu viele fundamentalistische Einwanderermassen, die von keinem Strahl der Aufklärung getroffen wurden. Alles, was nach allgemeiner Menschenliebe und Vernunft riecht, wird von ihnen bis zum heutigen Tag als böser Einfluss Europas – besonders Deutschlands – bekämpft.

Trump ist für sie der Gesandte des Himmels, dem alle Mittel gestattet sind, die satanische Vernunft der Welt aus dem Weg zu räumen. Gottes Instrumente unterliegen keiner irdischen Moralkontrolle. Deutsche Journalisten stehen vor einem Rätsel.

Die Geschichte des christlichen Europa ist die Geschichte der Vernichtung der Kosmosverehrung und demokratischen Ethik der Griechen zugunsten automatischer Abläufe des Menschlichen, die keiner ethischen Überprüfung bedürfen.

Als die Europäer die Gesetze der Natur entdeckt hatten, wollten sie im Bereich der „moral sciences“ – so hießen die Geisteswissenschaften damals – dieselbe Sicherheit und Zuverlässigkeit wie in den Naturwissenschaften. Dieses Ziel konnten sie nur erreichen, indem sie die geheimen Gesetze des bislang verworrenen und unzuverlässigen Geistes entdeckten.

Wie Natur zum berechenbaren Uhrwerk geworden war, so sollte es auch im Bereich des Politischen, Psychologischen und Moralischen werden. Geist und Geschichte wurden zu Naturwissenschaften. Marx war nicht der einzige, der das moralische Bewusstsein zum Werkzeug eines objektiven Seins degradierte, das in seiner Entwicklung amoralisch ist und erst am Ende, im Reich der Freiheit, seine humane Qualität zu erkennen geben wird.

Die griechischen Philosophen hatten alle denkbaren Versionen der Ethik im Pro und Contra durchdacht, durchstritten und sich mehrheitlich für stoische Humanität entschieden. Auf diesem Grund erstanden die Menschenrechte, die von der Moderne übernommen wurden.

Für den dynamischen, prozess-süchtigen Fortschritt der Moderne war die durchdachte Ethik der Griechen zu statisch. Das war ihr Todesurteil. Was sich nicht im Status ständiger Veränderung bewegt, ist für einen – keine endgültige Lösung zulassenden – hektischen Fortschritt nicht wählbar.

Nachdem die Aufklärung den Bereich des Menschlichen ebenfalls in eine gesetzmäßige Maschine verwandelt hatte, war der freie Wille des Menschen oder seine politische Autonomie verschwunden. Aber nur für die Materialisten unter den Deterministen. Das war eine Randgruppe unter den Aufklärern, denen sich später Marx anschloss.

Die meisten Aufklärer hielten am freien Willen fest – trotz totaler Kausalität der Handlungen. Unter ihnen Voltaire, der gelegentlich frotzelte: der Mensch ist eine Maschine. Doch insgesamt ließ er sich nicht beirren, dass der Mensch für sein Verhalten selbst zuständig sei.

Zur materialistischen Randgruppe der Aufklärer zählten d‘Holbach und La Mettrie. Doch den Geist der Enzyklopädisten repräsentierte d‘Alembert mit einer scharfen Absage an Mechanismus und Materialismus als letztes Erklärungsprinzip oder Lösung der Welträtsel.

Seine Erklärung des freien Willens beruhte auf einer Grenzziehung der Vernunft, die später von Kant übernommen wurde.

Der Mensch kann nur Phänomene der Natur erkennen, in ihr Innerstes kann er nicht eindringen. Kant formulierte später: Das Ding an sich bleibt uns verborgen.

D‘Alembert: „Was liegt uns auch im Grunde daran, in das Wesen der Körper einzudringen? Machen wir an diesem Punkte Halt und versuchen erst gar nicht, die allzu geringe Zahl unserer klaren und gewissen Erkenntnisse zu vermindern.“

Über Fragen nach Einheit von Seele und Körper, über deren gegenseitigen Einfluss, über die Frage nach letzten Gründen der Bewegung habe die Vorsehung einen Schleier gebreitet, den wir vergebens zu heben versuchen. „Ein trauriges Los für unsere Neugierde und für unsere Eigenliebe – aber es ist das Los der Menschheit.“ (zit. bei Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung)

D’Alemberts Philosophie verzichtet auf eine Weltformel, die uns das An-Sich der Dinge enthüllen soll, sie will im Gebiet der Erscheinungen stehen bleiben. Das erinnert nicht nur an die sokratische Bescheidung des „ich weiß, dass ich nichts weiß“, oder: die Natur kann mich nicht lehren, was für ein Mensch ich bin. Es erinnert auch an Kants Grenzziehung der Vernunft, die ohne Bescheidenheit undenkbar wäre.

Damit war der Versuch gescheitert, durch Umwandeln des Geistes die moralische Freiheit durch Mechanismen unmöglich zu machen. Der Mensch war wohl ein Teil der gesetzmäßigen Natur, ein seelen- und entscheidungsloses Rädchen der Natur war er nicht.

Ausgerechnet Newton, der mit der Gravitation ein Grundgesetz der gesamten Natur entdeckt hatte, war diese Bescheidenheit der menschlichen Vernunft zu verdanken. Er lehnte es ab, einen Beitrag zum „Wesen der Dinge“ geleistet zu haben. Der Physiker müsse verzichten, den Mechanismus des Universums gefunden zu haben.

„Das Wesen der Dinge, ihr reines An-Sich, hoffen wir vergeblich zu enträtseln“. Wir müssten uns damit bescheiden, das „Was“ festzustellen, ohne zugleich das „Wie“ zu erkennen. Kein wahrhaft Erstes oder schlechthin Ursprüngliches könne jemals von uns vollständig erkannt werden.

Heute gibt es einen Rückfall der Wissenschaft in ein angebliches Wissen des Wesentlichen. Neurologen wissen Bescheid, was der Mensch denkt, wenn sie seine Gehirnströme messen. Ökonomen wissen Bescheid über die Eigensucht des Menschen, wenn sie sein wirtschaftliches Verhalten beobachten. Verhaltenspsychologen wissen Bescheid über den Menschen, wenn sie dessen Stimuli kontrollieren. Intelligenzforscher wissen Bescheid über die Intelligenz des Menschen, wenn sie seine Antworten auf ihre Fragen kennen.

Das Grundgesetz dieser Überheblichkeit lautet: was quantitativ erfassbar ist, ist es auch qualitativ. Geheimnis der Qualität ist die Quantität.

Diese Sätze folgen der Devise Galileis: alles messen, was messbar ist und messbar machen, was noch nicht messbar ist. Der Blick wandert zurück zu Pythagoras, der das Wesen der Dinge in der Zahl erblickte.

Im Gegensatz aber zu den modernen Materialisten war Pythagoras kein Feind der Ethik. Das Leben des Einzelnen sollte durch moralisches Verhalten zur harmonischen Beziehung mit der Gesellschaft kommen. „Dies war das Grundgesetz der pythagoreischen Ethik und Politik, die in der Gerechtigkeit gipfelte.“ (Nestle)

Marx gehört nicht zu den Freiheitsfreunden der Aufklärung. Er regrediert in die calvinische Festgelegtheit des Menschen durch eine gesetzmäßige Natur. Mit einem Unterschied: der Gott Calvins wählt die Seinen nach unberechenbaren Prinzipien. Für die materielle Natur von Marx ist alles berechenbar. Nur nicht der genaue Zeitpunkt der Revolution und die Ankunft des Reiches der Freiheit.

Die moralische Unfähigkeit des Menschen durch Determiniertheit war zugleich eine Flucht vor Gottes Geboten. Rädchen können Weisungen der Bergpredigt nicht folgen.

Nun ergibt sich eine Sackgasse. Der heutige Zeitgeist des Kapitalismus legt Wert darauf, den Menschen durch Studium seiner Rädchenhaftigkeit konsumistisch zu manipulieren. Dennoch legt derselbe Zeitgeist davon überzeugt, dass der Mensch abendländischen Werten in freier Willensäußerung folgt. Das verträgt sich schlecht.

Hayek und Marx kennen keinen freien Willen, aber aus polaren Gründen. Bei Marx ist der Mensch einer gesetzmäßig-berechenbaren Natur untertan, bei Hayek folgt die Natur „Zeit und Zufall“. Beide legen Wert darauf, dass der Mensch die Abläufe der Geschichte nicht versteht.

Bei Marx gibt es eine Klasse der Weisen – die Führer der Partei –, die dem Proletariat den Weg zeigt. Bei Hayek gibt es niemanden, außer dem Markt selbst, der durch Gefallen oder Missfallen am Tun des Menschen entscheidet, welches Produkt er annimmt oder nicht. Im Sozialismus wie im Neoliberalismus ist der Mensch zu töricht, um zu verstehen, wie die Wirklichkeit tickt.

Beide konträre Wirtschaftsweisen haben den freien Geist der Aufklärung verraten und sich undurchsichtigen Zufällen oder geheimnisvollen Gesetzen unterworfen.

An Ketten der Natur zu laufen, gefällt der Moderne letztlich doch nicht. Sie will eine zuverlässige Natur im Rücken – und dennoch von ihr frei sein. Woher aber Freiheit nehmen und nicht stehlen?

Die Freiheit des Fortschritts ins unberechenbare Offene kommt durch – die Taufe. In der Taufe stirbt der Mensch der sündigen Natur ab und wird zum freien Kind Gottes.

Die Taufe der Moderne heißt: tägliche Neuerfindung des Menschen. Er muss sich regelmäßig und wesenhaft erneuern, um nicht mehr der alten Natur untertan zu bleiben. Das aber heißt: die alte Natur, die alte Gesellschaft müssen regelmäßig zerstört werden, damit eine nagelneue die Menschheit beglücken darf.

Zurzeit besteht die Erneuerung in der Digitalisierung der Gesellschaft. Die Stimmen der Erneuerung glühen vor Begeisterung, wenn sie die Wonnen der Zukunft prophetisch ausmalen. Klar, eine Sicherheit des Arbeitsplatzes wird es nicht mehr geben. Aber ich bitte Sie, welcher Freund der Freiheit wollte immer dasselbe tun? Die ewige Wiederholung des Gleichen ist eine Marter für Futuristen, die endlos weit in die Zukunft blicken.

Ohne Risiko geht’s nicht, sonst macht‘s keinen Spaß. „Untersuchungen haben ergeben“ – wie die Floskel der Soziologen heißt –, dass eine Mehrheit der Deutschen Angst hat vor der Erneuerung aller Dinge durch den Algorithmus, einer besonders wirkkräftigen Zahlenkombination, mit der das Geistige des Menschen in Quantität verwandelt werden kann.

Am Anfang der Neuzeit waren die Deutschen – wegen politischer Rückständigkeit – Gegner der Aufklärung. Als tiefe Denker und Dichter auch Gegner des materiellen und technischen Fortschritts. Das ändert sich ab der Bismarckzeit. In rasanter Aufholbewegung setzen sie sich an die Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts und der kapitalistischen Bereicherung.

Der Erste Weltkrieg sollte den Gottesbeweis erbringen, wer den Wettbewerb der Völker gewonnen hätte. Die Deutschen waren es nicht. Nicht, weil sie begriffsstutziger gewesen wären, sondern weil neidische Politführer der Gegenseite es in ihrer Häme so bestimmten.

Nachdem sie auch den zweiten Gottesbeweis verloren hatten, haben sie ihren Gott aufgegeben und sind zum Gott ihrer Befreier übergelaufen. Das war der Gott der Penunzen und des Fortschritts. Die Folgen des neuen Gottes sind zu besichtigen, wenn der Herr der Wallstreet und digitalen Unsterblichkeit Bankrott zu machen scheint.

Je mehr die Deutschen die Hinfälligkeit ihrer adoptierten Götter bemerken, je nackter stehen sie da. In einem halben Jahrhundert der Vergangenheitsbewältigung konnten sie die hässlichsten Flecken ihrer Vergangenheit zwar überpinseln, doch welche Lebensqualitäten sie besitzen – das weiß nur der Wind.

Die Gründe ihres Nichts liegen auf der Hand. Man kann kein neues Leben beginnen, wenn man a) an kein traditionelles Lebensgefühl andocken kann oder b) sich nicht klar macht, dass man von Grund auf alles selbst erarbeiten muss.

Da die Deutschen ihre Dichter und Denker blind anbeten, aber nichts von ihnen wissen wollen, können sie ihre Wurzeln nicht finden. Weder im Guten noch im Schlechten. Da sie keine Erinnerung haben, hängen sie in der Luft. Es fehlt ihnen das „anamnestische Bewusstsein“, das ihnen die Vorzüge und Nachteile ihrer Geschichte verständlich machen könnte. Was immer die Herzen der Deutschen erregt, es muss mit Hollywood, Pop oder Silicon Valley zusammenhängen. Gab es je eine luftigere Luftikusgesellschaft als die deutsche, die keine Erdung kennt?

Die Luftikus-Gesellschaft schwebt auf selbst emittierten CO2-Wolken des Wohlstands. Schreibt ein Volkswirt der Deutschen Bank in der WELT:

„Wo sich der Staat zurücknimmt und der Einzelne sich entfalten kann, steigt der Wohlstand. Umgekehrt gilt aber: Wenn der Staat dem Einzelnen die Freiheit nimmt, verarmt die Gesellschaft.“ (WELT.de)

Der Liberalismus der Volkswirtschaft besteht aus der Unverträglichkeit des Staates mit der Ökonomie. Der Staat soll für eine funktionierende Polizei und Müllabfuhr sorgen, sich ansonsten aus allen anderen Dingen raushalten. Wieder einmal Staat, damit Demokratiefeinde nicht von der Herrschaft des Volkes reden müssen.

Die Demokratie wurde einst erfunden, um die Freiheit des Einzelnen zu optimieren. Alles, was man für den „Staat“ machte, tat man für die ganze Gesellschaft und damit für sich. Hätte es die Polis nicht gegeben, wären die vielen schwachen Einzelnen die Knechte der wenigen Starken geblieben.

Wohlstand ist das quantitative Äquivalent für ein gutes Leben im Kapitalismus. Wer je erfüllte Momente erlebte, wird wissen, dass Wohlstand nicht dazu gehört. Ja, gegen eine gewisse Sicherheit des vollen Magens ist nichts einzuwenden. Doch Kapitalismus gibt sich mit selbstbestimmten Bedürfnissen nicht ab. Er bestimmt, ab welchem Kontostand ein Einzelner sich glücklich fühlen darf. Er bestimmt, was Genie und Leistungsfähigkeit ist. Er bestimmt, woraus Freiheit zu bestehen hat: aus einem leistungsstarken Porsche, mit dem der Tüchtige – das Leben anderer gefährdend – über die Autobahn brettern darf.

Freiheit der Kapitalstarken ist identisch mit der Freiheit des Sturm und Drang, der mit der rationalen Freiheit seiner väterlichen Aufklärer in den Clinch ging:

„Ist Aufklärung die Empörung gegen die religiöse Autorität im Namen des Vernunftgesetzes, so ist der Sturm und Drang die Empörung gegen das Vernunftgesetz im Namen des Lebens. Freiheit ist nicht Herrschaft der Vernunft, sondern Herrschaft des Lebens. Hier ist das Leben in der Tat der Güter höchstes, und der Übel größtes ist nicht die Schuld, sondern die Unterdrückung des Lebens durch die Moral. Dem demokratischen Ideal der Aufklärung tritt im Sturm und Drang ein neues, feudales Ideal entgegen. Höchstes Ideal ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, nicht das allgemeine Gesetz, sondern der geniale, über der Menge stehende Einzelne.“ (Korff, Geist der Goethezeit)

Höchste Form des freien Lebens ist die Bedrückung der Freiheit anderer. Je mehr nach meiner Pfeife tanzen, je freier und ungebundener darf ich mich fühlen. Diese Perversion der Freiheit gilt heute als Liberalität.

Wer ein solches Leben führt, ist kein zoon politicon. Er fällt zurück in den Feudalismus der Gewaltigen, die ihre Freiheit am deutlichsten wahrnehmen, wenn sie das Leiden anderer direkt unter ihren Füßen spüren.

„Die Verpflichtung Einzelner auf gesamtgesellschaftliche Ziele führt zu „politischem Moralismus“, wie von dem Philosophen Hermann Lübbe erstmals in einem jüngst wieder veröffentlichen Aufsatz aus dem Jahr 1984 beschrieben. Sachfragen werden zu Haltungsfragen umgemünzt, und wer widerspricht, wird zur moralischen Unperson gemacht. Politischer Moralismus ist nicht nur, aber vorzugsweise, ein Anliegen der politischen Linken, die schon immer von der Idee einer Gesellschaftsordnung fasziniert war, in der individuelle und kollektive Interessen verschmolzen sind. Sowohl die Gesellschaft als auch die Wirtschaft sollen von einem einheitlichen Willen geleitet werden“.

Wie im Rädchen-Mechanismus der Materialisten benötigen Sachfragen keine Moralantworten. Sie sind, wie sie sind und brauchen keine Gouvernanten. Sie gehorchen Gesetzen, die von keinem menschlichen Appell getroffen, von keinem kategorischen Imperativ korrigiert werden können. Der freie Mensch ist der gehorsame Mensch an der Leitkette der Notwendigkeit.

In der Theologie Calvins und Luthers war der Mensch entweder ein Sklave des Bösen oder ein Knecht Gottes.

„Wenn wir glauben, es sei wahr, dass Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, dass es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.“ (Luther)

Die materialistischen Aufklärer machten diesen despotischen Gott zur despotischen Natur – und fühlten sich plötzlich frei, weil sie nicht Gott, sondern der Natur folgen durften. Was aber war der Unterschied, wenn beide identisch waren?

Es sind nicht nur die Linken, die individuelle und kollektive Interessen harmonisieren wollen. Es war zufällig auch der Gründer des Kapitalismus, der eine unsichtbare Hand einführen musste, um die Gesellschaft der Eigensüchtigen nicht auseinanderfallen zu lassen.

Was sind das für eigenartige Feinde der Moral, die sich darüber entrüsten, von ihren moralischen Gegnern – als unmoralisch eingestuft zu werden? Müssten sie diese Benennung nicht als unfreiwillige Auszeichnung empfinden?

Die moralische Forderung des amoralischen Volkswirts lautet:

„Wenn wir die über Jahrhunderte errungene Freiheit und unseren heutigen Wohlstand nicht verlieren wollen, brauchen wir eine liberale Erneuerung. Das wird jedoch nur gelingen, wenn wir das uns von den politischen Moralisten auferlegte Joch abwerfen und einen neuen liberalen Aufbruch wagen.“

Mit anderen Worten: Trumpismus ist kein Fremder in Deutschland. Er gehört zur abstoßenden Tradition der Deutschen, die ihr kaltes Herz erwärmt. Die Gesetzlosigkeit des Sturm und Drang führte zur Freiheit der welterobernden Stürmer und Dränger, die Deutschland von aller Humanität befreien wollten:

„Wir werden die letzten Schlacken unserer Humanitätsduselei ablegen.“
(Sauckel, Gauleiter von Thüringen)

 

Fortsetzung folgt.