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Tanz des Aufruhrs XIV

Tanz des Aufruhrs XIV,

was ist eine Friedenskonferenz? Jahrelang lassen die Gewaltigen Unfrieden gewähren, ja, schüren ihn, bis das Elend der Menschen zum Himmel schreit: dann gebärden sie sich als internationale Friedensapostel.

Die deutschen Medien, im Abglanz ihrer Domina, begannen ihre Meldungen in selbstgefälligem Stolz auf ihre Kanzlerin, die sich im Abgesang ihrer Regentschaft einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern will.

Doch lasset sie eitel sein, wenn sie nur Gutes tun – würden. Tun sie denn Gutes? Miteinander reden, selbst mit den größten Halunken, ist immer sinnvoll – wenn die Redner dafür sorgen würden, dass ihren Worten Taten folgen. „Das wird abzuwarten sein“, sagen die Profi-Beobachter an den Mikrofonen.

Für BILD war das Tete à Tete mit den Oberschurken dieser Welt – ohne ihre Hausheiligen Trump und Netanjahu – ein „Grusel-Gipfel“, dem sie nur ein Gruselbild widmeten. (BILD.de)

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit künftigen Friedens? Die Abwesenheit kriegerischer Handlungen ist kein Frieden. Wie kann sich Verständigung zwischen den Völkern entwickeln, wenn die Weltpolitik Sieger produziert, die gebrandmarkte Verlierer als Kontrast benötigen?

Frieden – selbst das Wort wird geächtet. Frieden stiften mit humanen Mitteln ist ein lächerlicher Traum der „Wohlstands-Oasen“. (BILD)

Nein, die Zeiten stehen auf Sieg und Niederlage, obgleich die Probleme der Welt globale Einigkeit benötigten. Der Wettlauf ums bloße Überleben wird umso mörderischer, je weniger die Existenz der Gattung gesichert ist. Wer leben will, ist

zur Friedenspolitik geradezu genötigt. Wer mit schierem Überleben davonkommen will, ist zur Utopie verpflichtet.

Die Fanfaren des Zeitgeists klingen anders:

„Weder individuell moralisches Verhalten noch die globale Politik dürften die Menschheit in die Lage versetzen, das Weltklima zu retten. Wir haben es mit einem globalen Dilemma zu tun, das sich auf derartigen Lösungswegen kaum erreichen lässt. Nicht mehr Moral und Altruismus sind gefordert, sondern Gewinnstreben, Risikovorsorge und Regulierung. Aus einem politisch-moralischen Problem wird ein ökonomisches. Es sind insbesondere die viel geschmähten Kapitalmärkte, denen dabei eine zentrale Rolle zukommt.“ (SPIEGEL.de)

Wie in Australien die Wälder, so lodern in Henrik Müllers Wirtschaftskolumnen die Begriffe. Wie erklärt er das Versagen der Moral beim Lösen von Problemen? Mit der einleuchtenden Begründung: Moral versagt beim Lösen von Problemen.

„Allerdings besteht die Gefahr, dass der innere Drang, das Richtige tun zu wollen, uns von wirksamen Problemlösungen weiter entfernt – was tragisch wäre. Der moralische Antrieb, Verantwortung übernehmen und etwas tun zu wollen, führt womöglich zum Gegenteil des eigentlichen Ziels, weil alle großen Emittentennationen mitziehen müssen, um wirklich etwas bewirken zu können. Im globalen Klimadilemma steckt eine gehörige Portion Tragik. Der kategorische Imperativ Immanuel Kants („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“) versagt bei komplexen Problemlagen. In einer simpleren Welt mag jeder einzelne die Folgen seines Handelns soweit erkennen, dass er ermessen kann, was es bedeuten würde, wenn sich alle Bürger so verhielten wie er selbst. Die Klimaschädlichkeit individueller Handlungen ist jedoch so gering, dass sie faktisch irrelevant ist. Dennoch treibt uns das Gewissen dazu, nicht gleichgültig zu sein. Wir wollen uns nicht schuldig machen. Ein guter Impuls. Aber dann wird es schwierig. Kann ich ernsthaft als Individuum in unserer Gesellschaft klimaneutral leben und arbeiten? Jeder einzelne ist heillos damit überfordert, all diese Kalkulationen anzustellen. Das müsste er aber können, sollte er sich verhalten, wie es Kant forderte: dass unser individuelles Verhalten zum allgemeinen Gesetz taugen soll. Von einem Gesetz allerdings können wir erwarten, dass die geballte Expertise der Wissenschaft und diverse Interessenabwägungen eingeflossen sind. Dafür sind politische Prozesse und demokratische Diskurse da. In komplexen Gesellschaften kann der einzelne Bürger gar nicht sämtliche Folgen im Blick haben. Dem individuellen Gewissen fehlt die Informationsbasis.“ (SPIEGEL.de)

Das ist ein Abfackeln der gesamten Aufklärung und Humanität – ohne, dass diese Begriffe erwähnt werden. Bevor die Welt in Flammen steht, werden alle Überlebens- und Lebenswerte niedergebrannt. Was in Festtagsreden als Werte des Abendlands gepriesen werden, wird hier in lapidaren Sätzen ausgemerzt. Deutsche, seid stolz, dabei gewesen zu sein, als die Fundamente eures Seins zertrümmert wurden – und ihr habt nichts, aber auch gar nichts bemerkt.

Was ist Moral? Das Ordnen des Lebens nach bestimmten Prinzipien, um ein Höchstmaß an Erfüllung zu erleben.

Es gibt nur zwei Hauptprinzipien der Moral:

a) Ich glaube, am besten mein Leben zu leben, wenn ich dafür sorge, dass meine Mitmenschen, die weder über noch unter mir stehen, derselben Devise folgen können. Zusammen können wir eine Polis, eine Gemeinschaft errichten, in der jeder sein erfülltes oder glückliches Leben führt, weil jeder andere es auch führen kann. Wir sprechen von gleichberechtigten – matriarchalischen – Sippen oder demokratischen Völkern.

b) Ich glaube, am meisten auf meine Kosten zu kommen, wenn ich zur Schicht der Starken und Tüchtigen gehöre, die ihre Mitmenschen als Schwache und Verlierer traktieren und sie zwingen, ein höriges Leben in ihren Diensten zu führen. Wir sprechen von patriarchalischen, tyrannischen oder totalitären Staaten, in denen Herren ihren Knechten vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben.

Moral ist ein theoretischer Überbegriff, der sowohl moralisches als auch amoralisches Verhalten umfasst.

Im Alltagssinn ist Moral jenes Verhalten, das man für gut und empfehlenswert, Amoral für verabscheuenswert hält: Demokratie ist ein moralisch gutes Politgebilde. Tyrannei eine menschenunwürdige, amoralische Staatsform.

Warum hält Müller Moral für untauglich, unsere Probleme zu lösen? Weil er es ahnt und vermutet – ohne ein einziges Argument zu nennen. Es bestünde die Gefahr, „dass der innere Drang, das Richtige tun zu wollen, uns von wirksamen Problemlösungen weiter entfernt – was tragisch wäre. Der moralische Antrieb, Verantwortung übernehmen und etwas tun zu wollen, führt womöglich zum Gegenteil des eigentlichen Ziels, weil alle großen Emittentennationen mitziehen müssen, um wirklich etwas bewirken zu können.“

Aus welchem Antrieb schreibt Müller, um die Gefahren eines moralischen Antriebs zu vermeiden?

In Deutschland ist die uralte Erkenntnis abhanden gekommen, dass moralisches Handeln eine Wahl ist: das Gute und Förderliche zu erkennen, um das Schlechte und Verderbliche zu vermeiden. Handle ich nicht gut, so handle ich schlecht. Prinzipiell: es gibt nur gut oder schlecht. Ein Drittes gibt es nicht.

Es gibt historische Gründe, warum die Deutschen diese strenge Dichotomie hassen. Wahr und unwahr, richtig und falsch verwechseln sie mit den theologischen Begriffen gut und böse.

Im täglichen Leben kann es viele Fälle geben, in denen gute und schlechte Situationen schwer auseinanderzuhalten sind. Gerade deshalb wäre es wichtig, die theoretischen Normen herauszuarbeiten, an denen alles gemessen werden muss. Empirische Widersprüche und logische Kriterien müssen auseinandergehalten werden. Logik beurteilt Realität.

In der Aufklärung lösten sich die Deutschen von der Theologie und wechselten zur griechischen Ratio. Aufklärung war vor allem die Sache der Oberen und Gebildeten, das Volk verharrte im Glauben. Die meisten wurden noch im Geist der Religion erzogen, bevor sie an der Universität mit dem Geist der Aufklärung konfrontiert wurden.

Auch wenn sie vom Geist des Selbstdenkens überzeugt wurden, verblieben noch viele Teile ihres Ichs im Reich himmlischer Gebote. Zwischen Glauben und Denken ergaben sich viele Überlappungen und reziproke Aversionen. Der Kampf gegen die Kanzelpredigten ihrer Kindheit konnte verschwimmen mit dem Kampf gegen rationale Moralnormen. Die Romantiker lehnten die Moral der Aufklärung ab, die sie instinktiv mit der Moral ihres frommen Elternhauses verwechselten. Gott wurde zur Vernunft, Vernunft zur autoritären Bedrohung.

Freiheit von der Offenbarung wurde zur Freiheit von allen Vernunftregeln. Autonome Moral verschwamm mit fremdbestimmter Gottesmoral. Das Ergebnis dieser mangelhaften Klärung der Begriffe wurde zum deutschen Dickicht – bis zum heutigen Tag. Die meisten rebellieren noch immer gegen Vernunftmoral, als sei sie ihnen von Gott verordnet – auf den sie dennoch nichts kommen lassen.

Da sie Rationalität von Frömmigkeit nicht unterscheiden können, halten sie Aufklärung für den Inbegriff ihres Glaubens, Glauben für den Inbegriff der Aufklärung. Das war die Hegel‘sche Synthese aus Athen und Jerusalem, der irreführende Urkompromiss der neueren deutschen Geschichte, der in der Sturm- und Drangzeit begann und im deutschen Idealismus seinen Höhepunkt errang.

Warum versagt, nach Müller, Kants kategorischer Imperativ? Weil Kant nicht von Wir spricht, sondern von Ich. In einer Gesellschaft aber müssten die Probleme vom Wir gelöst werden, das Ich könne nur das private Verhalten bestimmen. Ein fundamentales Missverstehen des mündigen Ichs im demokratischen Wir.

Eine Polis besteht aus vielen Ichs. Das kollektive Wir-Gewissen wurde mit Erwachen des Ichs, nach Abflauen der mythisch-feudalen Epoche in Hellas, systematisch abgebaut. Demokratie kennt nur mündige Ichs. Anders gäbe es keinen Individualismus, auch keinen Liberalismus, der nur auf dem Boden des Individualismus funktionieren kann.

Müller hat nicht verstanden, was eine Demokratie ist. Sie besteht aus vielen Ichs, die, in Streit und Übereinstimmung, ein kollektives Wir bilden. Das demokratische Wir ist die Volksversammlung, in der jeder Einzelne seine individuelle Stimme erheben kann, die am Ende in die Abstimmung aller mündet.

Mit anderen Worten: das Ich ist nicht das Gegenteil des Wir, sondern dessen Voraussetzung. Auch in der modernen Demokratie muss jeder Einzelne seine Stimme abgeben. Die Summe aller Ichs ergibt das Wir der Polis, unterteilt in die Mehrheit der Abstimmungsgewinner und die Minderheit der Verlierer.

„Die Klimaschädlichkeit individueller Handlungen ist jedoch so gering, dass sie faktisch irrelevant ist“: falsch.

Klimaschädlichkeit ist die Summa aller individuellen Schädlichkeiten. Verhielten sich alle Ichs vorbildlich, wären alle Schwierigkeiten beseitigt. Das demokratische Ich verhält sich nicht nur privat vorbildlich – um vor seinen Kindern und vor sich selbst nicht als Heuchler dazustehen –, sondern erhebt seine Stimme auf dem Marktplatz: Leute, ich fordere von euch, dass ihr euch verhaltet, wie ich es euch vormache. Das klingt überheblich, doch es ist die normale Überheblichkeit des demokratischen Alltags. Diese egalitäre Überheblichkeit hat nichts mit der Berechtigung zu tun, Demokratie mit Gewalt vorzuschreiben oder anderen Nationen überzustülpen.

Ob meine Meinung richtig oder falsch ist, muss in Dialogen und öffentlichen Streitgesprächen untersucht werden. Gelingt die Untersuchung, können wir uns einig werden. Gelingt sie nicht, entscheidet die Mehrheit in der Volksversammlung. Dann werden wir sehen, ob die siegreiche Meinung jene heilsame und problemlösende Wirkung hatte, die ihre Befürworter verhießen – oder ob sie gescheitert ist. In der nächsten Volksversammlung können wir zum Resümee kommen und die notwendigen Folgerungen ziehen.

Was mein Ich tut, hat – idealerweise – jedes Ich als politisches Wesen zu tun. Das demokratische Ich ist kein demütig Ding, sondern ein stolzes Wesen, das zum gedanklichen Duell fordert. Wer obsiegt, darf hoffen, die Polis zu gestalten, wer verliert, hat jederzeit die Chance, bessere Argumente zu suchen, um sein Anliegen erneut einzubringen. Demokraten haben keine Angst, den gedanklichen Streit zu verlieren. Denn durch jeden Streit, der die Wahrheit suchte, wird er bereichert.

Wir lernen zusammen. Unser demokratisches Wir setzt das mündige Ich im Plural voraus. Wir gegen Ich auszuspielen, das wäre widersinnig.

„Der kategorische Imperativ Immanuel Kants („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“) versagt bei komplexen Problemlagen“ – falsch.

Grundlegende moralische Probleme sind schlicht und einfach: Besteht das Ziel des Lebens im Reichwerden auf Kosten der Natur? Im Reichwerden auf Kosten anderer? Was ist der Sinn des Lebens? Glücklich werden inmitten von Menschen, die glücklich sein wollen? Human werden, indem ich andere Menschen behandele, wie ich selbst behandelt werden will?

Ziele der Moral sind immer einfach. Nur die Mittel, diese Ziele zu erreichen, können kompliziert sein. Nämlich dann, wenn die moralischen Ziele allzu lang vergessen, verraten oder verboten wurden von Starken und Mächtigen, die ihr elitäres Glück auf Kosten des Glücks der Vielen durchpeitschen wollten.

Siehe die politischen Verhältnisse im Nahen Osten, in Libyen und vielen anderen Regionen der Welt, in denen die Probleme sich von Generation zu Generation vererbt – und potenziert haben.

Das heutige Weltproblem Nr. 1 ist simpel: Wollen wir überleben – oder wollen wir profit- und machtmäßig fortfahren wie bisher, als ob unserem Gewinn- und Machtstreben keine Grenzen gesetzt wären? Mit welchen Mitteln wir der Klimaverschärfung Herr werden wollen: das kann im Einzelnen kompliziert werden. Der Komplexität können wir Herr werden, wenn wir die instrumentellen Einzelheiten dem moralischen Ziel streng unterordnen. Vor allem nicht zulassen, dass das Ziel des Überlebens von mächtigen Interessen im Sinne des Weiter-so durchlöchert wird.

Das Interesse des Immer-weiter-so zur Erhaltung der bisherigen Übermacht muss – da es sich gegen die Interessen des Überlebens stemmt – als selbstmörderisch eingestuft werden. Die einfache moralische Frage, vor der wir stehen, lautet: Wollen wir überleben – oder wollen wir der menschlichen Gattung ein Ende bereiten?

Es wird kaum jemanden geben, der sagen wird: wir müssen weitermachen wie bisher, auch wenn wir Gefahr laufen, als homo sapiens zu verschwinden. Solche suizidalen Wünsche zu äußern, wäre gefährlich. Denn wer würde solchen apokalyptischen Reitern Recht geben – wenn er nicht selbst religiöse Untergangssehnsüchte hätte?

Schwierig ist nicht die theoretische Formulierung der klimatischen Moralfrage, sondern das psychologische Rätsel jener, die sich rational geben, aber irrational und selbstmörderisch handeln.

„In einer simpleren Welt mag jeder einzelne die Folgen seines Handelns soweit erkennen, dass er ermessen kann, was es bedeuten würde, wenn sich alle Bürger so verhielten wie er selbst.“ – Falsch. In jeder Welt, in der sich alle einmütig verhielten, könnte man die Gesamtfolgen einschätzen: sie wären identisch mit dem, was jeder Einzelne wollte.

Ein rationales moralisches Verhalten ist kein innerlich-religiöses Gesinnungsverhalten, das sich damit begnügt, von Gottes Radaraugen gesehen – und mit ewiger Seligkeit belohnt zu werden. Wer Luthers Fluch auf die Werkgerechtigkeit kennt, der weiß, dass autonome moralische Taten die Sünde wider den Geist bedeuten. Nicht die Frommen sollen und können die Welt retten, sondern Gott allein vermag es.

Seit Max Weber tatenlose Gesinnungs- und gesinnungslose Verantwortungsmoral gegeneinander ausspielte, verhöhnte er alle Aufrechten als Gesinnungsfreunde, die auf die praktischen Folgen ihrer moralischen Innerlichkeit keinen Wert legten.

Unsinn. Der Autonome, der seine Moral nach vielem Selbsterforschen, Streiten und Disputieren mit Andersdenkenden gefunden hat, will auch, dass seine Moral sich durchsetzt – zum Wohl der Menschen. Nicht mit Gewalt, aber mit der Macht der Überzeugung.

Wenn er kein politischer Idiot ist, weiß er, dass sein langfristiges Ziel gefährdet ist, wenn die aktuellen Machtverhältnisse gegen ihn stehen. Dann kann passieren, dass er kurzfristig verliert. Dennoch ist er überzeugt, dass eines ferneren Tages die Stunde seiner moralischen Utopie schlagen wird.

Wer das Beispiel der Geschwister Scholl für vorbildlich hält, wird seine Moral nicht mehr der zufälligen Macht des Augenblicks opfern.

„Jeder einzelne ist heillos damit überfordert, all diese Kalkulationen anzustellen. Das müsste er aber können, sollte er sich verhalten, wie es Kant forderte: dass unser individuelles Verhalten zum allgemeinen Gesetz taugen soll.“

Grauenhaft. Der Einzelne kann nicht alles wissen. Allwissende Menschen gibt es nicht. Er kann aber, ja, er muss alles prüfen und das Beste behalten. Er muss zur Kenntnis nehmen, was die Wissenschaft zu sagen hat. Versteht er es nicht, weil die Genies es für überflüssig hielten, sich deutlich auszudrücken, muss er ihnen auf den Pelz rücken.

Doch die Wissenschaft hat das Klima-Problem schon seit einem halben Jahrhundert erkannt und in mannigfacher Weise versucht, es in verständlicher Weise unter die Menschheit zu bringen.

Die Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen und sich ein adäquates Urteil zu bilden, nennt man Bildung. Sollte Müller den Pöbel für zu dumm halten, um sich ein angemessenes Bild von der Welt zu machen, müsste er die Kultusminister anklagen. Sie sind dafür zuständig, die Kinder so erkenntnis- und lernfähig zu machen, dass sie wissen, was in der Welt vorgeht. Und sich kundig machen können, mit welchen Mitteln die Übel der Welt zu beheben wären.

Kant meint nicht, dass irgendein zufälliges Individualverhalten „zum allgemeine Gesetz taugen soll.“ Sondern, dass selbst jenes Verhalten gesucht werden muss, welches als allgemeines Gesetz taugen soll. In der Klimafrage hieße das: wenn sich alle so verhielten, dass das Klima sich nicht mehr verschlechtern könnte, dann wäre es allgemein tauglich.

Kants kategorischer Imperativ wäre noch immer die beste Moral zur Rettung der Menschheit: Mensch, verhalte dich so, dass die Menschheit überleben kann, wenn jeder sich verhielte wie Du.

„In komplexen Gesellschaften kann der einzelne Bürger gar nicht sämtliche Folgen im Blick haben. Dem individuellen Gewissen fehlt die Informationsbasis.“ Unsinn.

Wäre die Welt so kompliziert, dass jeder Mensch nur einen Teil überblicken könnte, dann wären wir verloren. Wie sollten wir ermessen, ob wir unsere fragmentierten Weltteile richtig erkennen, wenn wir ihre Zusammenhänge mit der ganzen Welt nicht zusammen schauen könnten? Wir wären dem Erkennen anderer ausgeliefert, deren Erkenntnisqualitäten wir nicht beurteilen könnten.

Das sapere aude, habe Mut, dich Deines Verstandes zu bedienen, müsste kapitulieren und in Demut gestehen: mein Verstand ist zu gering, als dass ich die Größe der Schöpfung ermessen könnte. Wir wären in der Religion Hiobs gelandet.

„Wer ist’s, der da verhüllt ohne Einsicht den Ratschluss? Darum habe ich geredet in Unverstand, Dinge, die zu wunderbar für mich, die ich nicht begriff.“

„Nicht mehr Moral und Altruismus sind gefordert, sondern Gewinnstreben, Risikovorsorge und Regulierung. Aus einem politisch-moralischen Problem wird ein ökonomisches. Es sind insbesondere die viel geschmähten Kapitalmärkte, denen dabei eine zentrale Rolle zukommt.“ Der reine Irrsinn.

Moral ist nicht das Gegenteil zu konkreten Mitteln, um sie zu verwirklichen. Es ist ihre Pflicht, jene Mittel herauszufinden, mit denen sie ihre Ziele am besten erreichen kann. Sehe ich einen Menschen auf der Straße ohnmächtig zusammenzusinken, muss ich nicht überlegen, ob ich ihm helfen soll, sondern wie ich ihm helfen kann.

Nicht anders in der Klimafrage. Kein verantwortungsbewusster Mensch wird eine Sekunde zögern, alles zu unternehmen, um – in politischer Kooperation – die Heimstatt Erde für die Menschheit zu retten. Das moralische Ziel steht fest, die Wahl der besten Mittel muss folgen.

Es geht auch nicht um verblasenen Altruismus, sondern um rationales Eigeninteresse, identisch mit dem Wohl möglichst der ganzen Menschheit.

Der Überlebensmoralist muss sich die Frage vorlegen, in welchem Maß der Kapitalismus zur Umweltkatastrophe beigetragen hat? Lassen sich Teile des jetzigen Kapitalismus noch retten – oder müssen wir eine vollständige Alternative suchen? Eine Alternative, die der Natur zurückgibt, was sie ihr nimmt, die Menschheit nicht in wirtschaftliche Gewinner und Verlierer spaltet und dem Problem des ökonomischen Überlebens nur so viel Energie widmet, wie es unbedingt notwendig ist.

Im Mittelpunkt einer zukünftigen Lebensweise im Einklang mit der Natur kann nicht mehr das Malochen und Produzieren stehen, sondern die pure Lebensfreude. Lustvolle Arbeit kann ebenso dazugehören wie lustvolles Philosophieren über die Welt.

Arbeiten als Strafe für eine ominöse Schuld wird ebenso verschwinden wie der Strafcharakter des Lebens auf der heillosen Erde. Auch der Tod wird nicht mehr der Sünde Sold sein, der überwunden werden muss zugunsten einer herrenmäßigen Unsterblichkeit.

Müller ist der Inbegriff eines abendländischen Moralhassers. Jedem moralischen Bemühen misstraut er a priori, ohne jedes Argument. Damit steht er nicht allein.

„Allerdings besteht die Gefahr, dass der innere Drang, das Richtige tun zu wollen, uns von wirksamen Problemlösungen weiter entfernt – was tragisch wäre. Der moralische Antrieb, Verantwortung übernehmen und etwas tun zu wollen, führt womöglich zum Gegenteil des eigentlichen Ziels.“

„Besteht die Gefahr“, „womöglich“. Wäre es tatsächlich besser, das Falsche zu wollen? Keinen moralischen Antrieb zu besitzen, um Verantwortung zu übernehmen? Aus welcher Motivation schreibt Müller selbst? Aus welcher Motivation sollten Kapitalisten alternative Methoden wählen, um das drohende Unheil zu verhindern?

Sind Retter der Menschheit gewissen- und gesinnungslose, amoralische Maschinisten, die nur Knöpfe drücken müssen, um das bisschen Welt wieder auf Vordermann zu bringen?

Moralische Selbstzerstörung des Abendlands ist die Ursache seiner klimatischen Zerstörung. Die allgemeine Humanität der Aufklärung ist dabei, geschreddert zu werden. Technik, Wirtschaft sind Instrumente, keine Heilmittel. Sie sind bloße Instrumente in Händen autonomer Menschen, deren Moral die Rettung der Menschheit will.

Es gibt unendlich viele Menschen auf der Welt, die sich nicht damit zufrieden geben, wie Schafe zur Schlachtbank geführt zu werden. Ihnen stehen gewissenlose Eliten gegenüber, die im Rausch ihrer Macht keine Sekunde darüber nachdenken, ob der Pöbel der Welt recht haben könnte.

Selbstmörderische Eliten müssen von ihren Machtpositionen vertrieben werden. Menschen in aller Welt würden dann beglückt erleben, wie sehr sie in Grundfragen des Lebens einhelliger Meinung sind.

Voltaire war überzeugt, dass hinter den verschiedenen Tugenden der Völker „natürliche Gesetze existieren, mit denen die Menschen in aller Welt übereinstimmen.“

Alle Wissenschaft von der menschlichen Gemeinschaft habe, nach Condorcet, nur ein einziges Ziel: „das Ziel, den Menschen die freie Ausübung ihrer Grundrechte in vollkommener Gleichheit und in größter Ausdehnung zu verbürgen.“ (Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung)

Wäre das Ziel erreicht, gäbe es keinen Grund mehr, sich um das Überleben der Menschheit zu sorgen. Wir müssen zurück zur Aufklärung, deren Realisierung unsere Zukunft bedeutet.

 

Fortsetzung folgt.