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Tanz des Aufruhrs II

Tanz des Aufruhrs II,

wer freut sich, wenn die Welt verloren geht – und singt O du Fröhliche?

Welt ging verloren,
Christ ward geboren,
Freue, freue dich, o Christenheit!

Man kann die Welt verloren geben, Trauer tragen – oder sich mit Zynismus tarnen.

Man kann sie zu retten versuchen, die Ärmel hochkrempeln und mit gutem Willen die Spötter zur Höchstform reizen.

Man kann sie vollends zertrümmern, eine nagelneue erhoffen, von Oben erbeten oder in eigener Regie erschaffen.

Die Deutschen, jahrhundertelang dem Zug der Zeit hinterherhinkend, überholten alle und realisierten vor einigen Jahrzehnten eine uralte Variante – in selbsterfüllender Potenz. Sie entlarvten das Geheimnis der Religion als Erfindung des Menschen zum Zweck einer triumphalen Selbstdarstellung.

Zeige mir, welche Religion du nötig hast und ich sage dir, was dir fehlt.

Abendländische Religion ist Charakter- oder Lebensergänzungsmittel, Sättigungsbeilage für Unersättliche, Verhungernde und Verzweifelte, Betäubungsmittel für Lebensunfähige.

Naturreligion ist überschwängliche Verbundenheit mit allem, was da kreucht und fleucht.

Man kann die Welt auch zu retten versuchen, indem man die Menschen in lebenswerte und -unwerte aufspaltet, die letzteren vernichtet, um den ersten

eine neue Welt für eine goldene Zeit zu präsentieren. Das geht nicht ohne forsche Generalreinigung des Alten und Verdorbenen:

„Ja, wir sind Barbaren. Wir wollen es sein. Es ist ein Ehrentitel. Wir sind es, die die Welt verjüngen werden. Diese Welt ist am Ende. Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften. Wir sind nicht in der Lage, auf humane Gefühle Rücksicht zu nehmen. Wir müssen uns von allen sentimentalen Gefühlen frei machen und hart werden. Ich kann mir keine Gedanken machen über 10 Millionen junger Männer, die ich in den Tod schicke. Ich muss Dinge tun, die nicht mit dem Maßstab bürgerlicher Zimperlichkeit zu beurteilen sind. Die Welt wird nur mit Furcht regiert. Die Partei hat nichts zu tun mit albernen Reden von moralischer Erneuerung. Es kann nicht zwei auserwählte Völker geben. Wir sind das Volk Gottes. Zwei Welten stehen einander gegenüber. Der Gottesmensch und der Satansmensch. Der Jude ist der Gegenmensch, der Antimensch. Der Jude ist das Geschöpf eines anderen Gottes. Nicht, dass ich den Juden ein Tier nenne. Er steht dem Tier viel ferner als wir Arier. Er ist ein naturfremdes und naturfernes Wesen.“ (Rauschning, Gespräche mit Hitler)

Es soll Menschen geben, die solche Sätze für eine Frühform der Ökologie halten. Tiere, längst nicht alle, töten sich zwar, um sich zu ernähren, doch nicht in sinnlosen Massakern, um die Welt zu erlösen. Sind sie gesättigt, kann das Lamm sich dem Löwen nähern.

Raubtiere sind nur ein kleiner Teil der Natur, die meisten Tiere kooperieren miteinander. Selbst Bäume sind unterirdisch verbunden, um sich gegenseitig zu nützen. Vor Jahrzehnten präsentierten die Forscher vor allem Beispiele einer grausamen, sich gegenseitig verschlingenden Natur. Inzwischen schwappen sie über von Beispielen symbiotischer Nähe und Verbundenheit.

Was sind die Erkennungsmerkmale der gegenwärtigen Epoche? Dass sie Endzeit ist, nicht unähnlich dem Untergang von roma aeterna. Die Moderne kann es nicht leiden, mit vergangenen Epochen verglichen zu werden. Wie ihre Heilszeit nur aus einzigartigen Augenblicken besteht, die nicht verglichen werden können, so sollen all ihre Epochen unmittelbar zu Gott sein.

Erkennen aber heißt vergleichen, was nicht bedeutet, alles mit allem gleichzusetzen. Wäre alles einzigartig oder aber uniform, gäbe es kein Erkennen. Menschen wären taubstumme und isolierte Monaden, die von Oben regiert werden müssen, damit sie sich nicht blindlings auslöschen.

Es gibt nur ein einziges unvergleichliches Ereignis in der Geschichte der Menschheit: ihre drohende kollektive Selbstzerstörung. Die wird – von Alien-Historikern, die sich zufällig auf den Planeten verirren werden – als unwiederholbares und einzigartiges Event in den Akten des Universums vermerkt werden. Postmortal können wir mächtig stolz auf uns sein.

Geht ein Mensch dem Tode entgegen, büßt er seine Kräfte, seine Erinnerungs- und Denkfähigkeit ein. Geht eine Kultur ihrem Ende entgegen, vergisst sie den Glauben an ihre Existenzberechtigung. Geht die Menschheit ihrem Ende entgegen, verliert sie ihre Identität: sie weiß nicht mehr, wozu sie vorhanden ist und was sie vom Leben noch erwarten soll. Sie kennt alles, hat alles erlebt, ist auf nichts mehr neugierig und empfindet Überdruss an allem.

Da die westliche Kultur süchtig auf das Neue und Unvergleichliche war, führt Sättigung an allem Alten, das einst ein Neues war, zur Übersättigung an allem. Das Neue muss immer überdimensionaler werden, bis es sich aufbläht zur Totalvernichtung des Alten und Vertrauten.

Da die Parusiesüchtigen die schöne Gewohnheit des sich wiederholenden Lebens verschmähen, wurde Wiederholung des Gleichen für sie zum Horror. Fortschritt, die Zeitreihe des immer Neuen, war bislang nichts als die Entwicklung eines Uralten, das seine Potenzen Schritt für Schritt entfalten konnte. Das Neue war das Ensemble des sich allmählich offenbarenden Alten.

Die Zeitreihe ist an ihr Ende gekommen. Die Erde ist vermessen und erkannt, die Menschheit miteinander verbunden, die Rätsel der Natur so weit gelöst, dass Neugierde nur noch ins Weltall entweichen kann, um angeblich auf ihre Kosten zu kommen. Angeblich, weil die Gier aufs Neue sich anstrengen muss, um wirklich neugierig zu sein.

Die Neugierde der Eliten hat die Grenzen des Irdischen erreicht und überschritten. Ihr Blick ins All ist der Blick von Überdrüssigen am Menschlichen. Sie wüssten genug, um allen Menschen ein sinnvolles Leben auf Erden zu bieten. Doch sie wollen alles wissen, um sich einzureden, dass die Fortsetzung des Fortschritts im Jenseits liegt.

Die Erfindung des religiösen Jenseits war Probelauf des technischen Jenseits. Die Grenze des Menschlichen besteht aus zweierlei:
a) irdischer Fortschritt soll darin bestehen, dass der Mensch sich überflüssig macht durch Erfindung menschenähnlicher Maschinen, die ihn in allen Dingen übertreffen und ersetzen.
b) Fortschritt als Abschied vom Planeten und Flucht ins Weltall sollen die irdische Geschichte des Menschen endgültig ad acta legen.

Die religiöse Glaubensvision hat die technische Abschiedsvision von der Erde vorweggenommen:

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr.“

Hitlers Vision einer neuen Welt ist die selbsterfüllende Prophezeiung der religiösen Vision. Diese Welt – die Welt, in der die Juden das auserwählte Volk waren – ist am Ende. Wir müssen die Welt erneuern, indem wir die Juden auslöschen und uns zu neuen Herren der Welt ernennen. Das geht nur durch rücksichtslose Gewalt, die keinerlei Rücksicht nimmt auf bürgerliche Werte. Moralische Erneuerung ist lächerlich und sentimental. Wir erneuern uns nur durch absolute Barbarei.

Es ist notwendig, die Gegenwart zu vergleichen mit der NS-Zeit. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Das wäre Unfug. Vergleichen heißt, die gleichen Kategorien erkennen, deren graduelle Ausprägungen ganz verschieden sein können – und dennoch in dieselbe Richtung weisen.

Die Frage: haben wir die Vergangenheit verstanden und überwunden, lässt sich nur beantworten, wenn wir dem kategorialen Vergleich nicht aus dem Weg gehen.

Hitlers Absage an Humanität und moralische Werte: wer wird nicht erkennen, dass die Gegenwart sich diesen inhumanen Imperativen immer mehr annähert? Kein Tag vergeht, ohne dass die neuen Helden des Westens, Trump und Johnson, sich immer mehr verabschieden von den Tugenden der Nachkriegszeit!

Es gibt eine merkwürdige Art der Kritik an „Idealen und moralischen Werten“. Verstößt ein „Idealist“ gegen die Normen seiner Werte, wird nicht er kritisiert, sondern seine ideale Norm in Bausch und Bogen verdammt. Er müsste als Heuchler angeklagt werden, wenn er seine Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit leugnen und vertuschen würde. Ist er authentisch, kennt er seine Defizite und weiß, was er noch zu lernen hat. Nüchterne Idealisten sind Lernende.

Demokratische Humanität war für Marx das Ideal der Bourgeoisie, die durch mangelnde humane Praxis den Unwert dieser Tugend offenbarte. Vollkommenheit der Norm nicht erreicht? Norm falsch und verwerflich: an dieser Maxime halten orthodoxe Marxisten – und viele linke Ableger – bis heute fest.

Die meisten „konservativen“ oder christlichen Medien hinterdrein. Bei Christen klingt die Begründung ähnlich. Da sie an die Unfähigkeit des Menschen zur eigenständigen Moral glauben, wäre es ein Verstoß gegen ihr Credo, die irdische Realisierung dieser Ideale für möglich zu halten.

Deutsche Intellektuelle halten sich für sehr gewitzt, wenn sie der Fortschrittsgläubigkeit des Zeitgeistes – die sie einerseits für richtig, andererseits aus alten Ressentiments gegen den Westen für falsch halten – ihre Konfirmandenweisheit entgegen halten können: der Mensch ist gar nicht gut, drum hau ihn auf den Hut. Bertold Brecht war Marxist, also ein Gegner der Moral als politische Kraft.

Der Grund der Animosität gegen Moral liegt auf der Hand. Wer seine moralische Potenz durch Taten beweisen müsste, kann kläglich scheitern – wenn der Beweis in der Perfektion seines Tuns bestehen soll. Um nicht widerlegbar zu sein, muss er der Überprüfung aus dem Weg gehen. Er geht ihr aus dem Weg, indem er die Realisierung seiner politischen Ziele – der Geschichte überträgt. Und auch die kann nicht zur Kasse gebeten werden, weil sie erst am Sankt Nimmerleinstag ihre Bücher öffnen muss.

So konnte der Mensch durch seine Geschichte jeglicher Rechtfertigung aus dem Weg gehen. Auch die Geschichte musste ihre paradiesische Potenz erst am Sankt Nimmerleinstag beweisen. Humanität war die Erfindung des Bürgertums, Bürgertum eine Heuchelbande, die ihre Ideale „vergaß“, als sie ihre eigensüchtigen Ziele erreicht hatte. Fazit Marx: Vertreter der Ideale mangelhaft, ergo Ideale mangelhaft.

Wir sehen hier den Kreuzzug der mangelhaft aufgeklärten, noch immer christlichen Moderne gegen die kompromisslose Devise des Sokrates: ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert.

Wie der Gläubige auf die Gnade seines Erlösers angewiesen war, um der heidnischen Werkgerechtigkeit zu entgehen, so ist die Moderne auf die „Gnade“ der Geschichte angewiesen, die ihm alles Erwünschte eines fernen Tages in den Schoß schütten wird, ohne dass er sich selbst darum bemühen müsste. An die Stelle der Gnade Gottes rückt die Gnade der Geschichte, einer legitimen Tochter der Heilsgeschichte.

Die Gnade der Geschichte kann auch gelesen werden als technischer Fortschritt, der alle Probleme der Menschheit löst, ohne dass er begleitet und grundiert wird durch ihren moralischen Fortschritt.

In der Aufklärung besaß der Fortschritt noch ein Doppelgesicht. Wissenschaft und Technik bringen den Menschen voran, wenn er zugleich seine moralischen Fähigkeiten entfaltet. Als aber die Französische Revolution umschlug in die Tyrannei der Guillotine und der imperialen Gewalt Napoleons, war es aus mit dem moralischen Fortschritt.

Comtes Fortschrittsglauben war nur noch ein technisch-wissenschaftlicher mit Garantieerklärung der omnipotenten Geschichte. Die Gnadenwirkung war von Gott auf die Geschichte, von der Geschichte auf den technisch-moralischen Fortschritt, von diesem auf den allein-technischen übergegangen.

Der Mensch als Subjekt der Geschichte war enteignet. Er wurde zum Opfer der Gnadenersatzmittel, wenn diese versagten – oder zu ihrem Nutznießer, wenn sie triumphierten.

Die Gegenwart kennt nur noch den Fortschritt der objektiven Gnadenersatzmittel, die ihn entlasten, indem sie ihn entmündigen. Dem Menschen wird nichts mehr zugetraut, er traut sich selbst nichts mehr zu. Umso mehr muss er seine moralische Inkompetenz ausgleichen durch fanatischen Glauben an seine technische Kompetenz.

Das führt zu heftigen Friktionen zwischen dem Glauben an die demokratische Mündigkeit und der Entmündigung durch den Glauben an den Fortschritt, der über uns kommen wird wie Gottes Ratschlüsse. Wer den Fortschritt anzweifelt – so klagte schon Günther Anders – wird als Maschinenstürmer aus dem Weg geräumt.

Heute zusätzlich belastet durch den Vorwurf des Antisemitismus, als ob amoralisch-technischer Fortschritt eine Erfindung der Juden gewesen wäre. Wie man verdrängt, dass es kapitalismuskritische Juden gibt, so unterschlägt man die jüdischen Kritiker des blinden Fortschrittsglaubens. Unter ihnen die herausragenden Philosophen Hans Jonas und Günther Anders.

Die moderne Demokratie wird zerquetscht durch diese beiden konträren Mächte: einerseits der Selbstbestimmung des Menschen, durch Wahlen sein Schicksal frei zu entscheiden und andererseits der Fremdbestimmung, Geschichtsmächten ohnmächtig ausgeliefert zu sein.

Wissenschaftlich-technischer Fortschritt wird komplettiert durch den Glauben an ein endloses wirtschaftliches Wachstum, das die Reichen immer mächtiger und die Armen immer ohnmächtiger macht:

„Noch unter US-amerikanischer Besatzung glichen die deutschen Zustände, was die Besteuerung angeht, den amerikanischen Verhältnissen und Roosevelts „New Deal“. Danach verlegten sich alle Regierungen auf Reichtumsförderung. Kapital- und Gewinnsteuern wurden reduziert oder ganz abgeschafft, sodass heute die ursprünglich als Bagatellsteuern gedachten Abgaben auf Tabak oder Sekt dem Staat mehr Geld einbringen als die Körperschaftssteuer für Kapitalgesellschaften oder die betriebliche Erbschaftssteuer. Bei der Förderung privaten Reichtums von Kapitalgesellschaften und Aktionären durch Steuerpolitik hat sich die rot-grüne Regierung von Schröder und Fischer besonders hervorgetan. Die angebliche Äquivalenz wurde demagogisch unterlaufen.“ (Freitag.de)

Bei solch eklatanten neoliberalen Knechtsdiensten wundert sich die Proletenpartei (mit immer weniger Proleten), dass sie in der Bevölkerung immer weniger glaubwürdig wird.

Würden die Deutschen ihre Vergangenheit zur Kenntnis nehmen, müssten sie mit Erschrecken feststellen, dass sie sich immer mehr den Spuren ihres einstigen Führers nähern. Indem sie die dringend erforderliche Erneuerung durch politische Moral mit wachsenden Aggressionen ablehnen.

„Sehr zu Recht nennt ausgerechnet die linke Zeitschrift konkret das Zentrum für Politische Schönheit daher eine „reaktionäre Klamauktruppe“. Wenn man den Klamauk ernst nimmt, dann träumt das ZPS von einer Diktatur der Anständigen, in der nach windigen Kategorien wie „Großgesinntheit“ oder „Menschlichkeit“ geurteilt wird. Will man da leben?“ (ZEIT.de)

Großgesinntheit ist auf griechisch Megalopsychia:

„Die Megalopsychia zeigt sich in einem ausgeprägten, aber angemessenen Selbstbewusstsein und berechtigtem Stolz. Man hält sich großer Dinge, auch erwiesener Ehren, würdig – und zwar zu Recht. Sie zeigt sich darüber hinaus im Erbringen und Erwidern von Wohltaten und einer Orientierung am ethisch Guten (und nicht am Nützlichen und Gewinnbringenden). Hinzu kommen der maßvolle Umgang mit Macht und Reichtum sowie ein beherrschtes Verhalten in Glück und Unglück.“

Ist es zu fassen? Hat Deutschland vergessen, was Menschlichkeit ist?

Menschlichkeit ist ein „der Würde des Menschen entsprechendes Denken und Handeln“. Somit wäre Menschlichkeit Voraussetzung zur Realisierung der Würde des Menschen, niedergelegt im Zentrum des Grundgesetzes.

Wie kommt ein ZEIT-Schreiber dazu, die beiden urdemokratischen Tugenden in Verbindung zu bringen mit einer Diktatur der Anständigen? Wenn man solche moralfeindlichen Aussagen machen kann ohne auf Widerstand zu stoßen, sollte man sich über eine starke AfD nicht länger wundern.

Hier, mitten in den Kreisen bürgerlicher Mitte, wüten die Animositäten gegen „bürgerliche Tugenden“. Das Bürgertum in der deutschen Geschichte war zumeist die untertänigste und gehorsamste Schicht der Gesellschaft.

Was hätten wir heute nötiger als eine Orientierung am Guten, und nicht am Nützlichen, Mächtigen und Gierigen? Was hätten wir heute nötiger als einen maßvollen Umgang mit Macht und Reichtum?

Nein, die christliche Gesellschaft hasst die Moral der Ungläubigen als Vermessenheit gegen Gott. Noch immer steht sie auf der Seite des Klerus, der bewusst „Unmögliches“ verlangt, um den moralischen Bankrotteur in Gnaden aufzunehmen.

Gegen Trump und Johnson wüten sie, wenn jene Kraftbolzen alle moralischen Regeln verletzen. Sie selbst nähern sich diesen Regelverletzungen rapide an. Immer mehr Artikel sind zu lesen, in denen die Frage gestellt wird: kann es nicht sein, dass die beiden Mephistodarsteller doch recht haben könnten? Wer Erfolg hat, kann auf Moral verzichten.

Das große Vorbild ist die deutsche Kanzlerin, die inzwischen alle Inhumanitäten und demokratischen Regelverletzungen in Deutschland schweigend durchwinkt. Die Zahl toter Flüchtlinge an den europäischen Grenzen steigt und steigt. CSU-Minister Scheuer lässt Akten aus dem Untersuchungsausschuss ungeniert zurückholen und für geheim erklären – dass sie gegen den Minister nicht verwendet werden können. Kein Kommentar von Merkel, die nicht für nötig hielt, in Madrid für strengere Klimamaßnahmen einzutreten. Nach Konferenzende hörte man kein Sterbenswörtchen von ihr zum Fiasko der Verhandlungen.

Wir haben keine Regierung. Es herrscht eine schreckliche, eine „kaiserlose“ Zeit. Was sich bewegt, bewegt sich wie unter dem Zwang automatischer Zahnräder. Deutschland ähnelt einer im Schlamm versinkenden Maschine, die noch im Verenden ihr absterbendes Programm abspult.

Wer für autonome Moral plädiert, muss ein Faschist sein. Die uralte Anbetung Platons sorgte für eine jahrhundertelange Zwangsverknüpfung zwischen Ideal und Glück. Der platonische Urfaschismus steckt noch heute allen in den Knochen. Die Intellektuellen als Nachfolger der platonischen Weisen wollen den Pöbel nicht mitbestimmen lassen, zu seinem Glücke soll er gezwungen werden. Die Gegner Platons wiederum schütten das Kind mit dem Bade aus: wer für moralische Kompetenz eintritt, muss sie mit Gewalt erzwingen wollen.

Ein Politwissenschaftler bestätigt die amoralische Beliebigkeit, die den Wahlerfolg Johnsons möglich gemachte habe:

Es gibt hier nicht entweder Gut oder Böse. Wir leben in einer postideologischen Welt. Schmutzig ist kein Kriterium mehr. Wir haben eine unregulierte Welt in den sozialen Netzen. Also sind alle so schmutzig, wie sie wollen. Klassenzugehörigkeiten haben sich aufgelöst, man fühlt sich nicht nur von einer Partei repräsentiert. Kluge Manipulatoren haben gelernt, sich in offenen Räumen zu bewegen, sie kreieren neue Identitäten.“ (Sueddeutsche.de)

Wie so oft, verschwimmen die Grenzen zwischen Analysieren und Bewerten, Konstatieren und Urteilen. Wo gibt es kein Gut und Böse mehr? Bei den Eliten, beim Volk, in der ganzen Gesellschaft? Ist das ein Übel, dem abgeholfen werden müsste (Vorsicht Zwangsbeglückung) oder ist es ein unvermeidlicher Zug der Zeit?

Klassenzugehörigkeiten haben sich aufgelöst? Dann kann es auch keine Schere mehr geben zwischen Reich und Arm, Mächtig und Ohnmächtig. Und diese postmodernen Beliebigkeiten sollen „offene Räume“ sein? Dann wäre Poppers offene Gesellschaft von einer Mafiabande nicht mehr zu unterscheiden.

Und wie kreiert man neue Identitäten? Indem man seine alte Biografie über Bord wirft und sich eine nagelneue ex nihilo ausdenkt, die mit der alten nichts mehr zu tun hat? Herr, lass Feuer vom Himmel regnen.

Und ein SZ-Schreiber weiß, dass es doch gar nicht so schwer sein kann, einen glaubwürdigen demokratischen Kandidaten aufzustellen. Man müsse nur die Fehler der Labourpartei vermeiden:

„Wenn die Demokraten also Lehren ziehen wollen, dann sollten sie sich vor allem den eigenen Sieg des Jahres 2018 anschauen. Da steckt alles drin, was man für nächstes Jahr wissen muss: Trump ist schlagbar. Doch dazu braucht es einen Kandidaten, der nicht von einem unerreichbaren sozialistischen Paradies träumt, sondern Dinge verspricht, die das tägliche Leben einer Mehrheit der Bürger erleichtern, ohne es völlig umzukrempeln; der nicht alle, die ein weniger fortschrittliches Weltbild haben, für verbohrte Deppen hält. So kompliziert ist das ja eigentlich nicht“. (Sueddeutsche.de)

Was ist ein sozialistisches Paradies? Eine Demokratie, die den Klimawandel stoppen kann, indem sie eine ungerechte und naturfeindliche Wirtschaft stoppt? Dann wäre dieses Paradies eine conditio sine qua non und keine kindische Träumerei.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit muss das tägliche Leben der Menschen völlig umgekrempelt werden, denn es geht um Sein oder Nichtsein. Warum sollte dies nicht möglich sein, wenn doch sonst die Neuerfindung des Menschen ständig gefordert wird?

Der Appell einer radikalen Umgestaltung muss an uns alle gehen, nicht nur an Regierungen, die vergessen haben, was regieren heißt zum Wohl der Menschen. Wenn Gesellschaften in Bewegung kommen, können Regierungen nicht länger in Untätigkeit verharren. Wir alle müssen uns ändern. 

Und zum guten Schluss lügt ein adliger Jesuit das Blaue vom Himmel herunter, getreu dem Motto seines Ordensgründers: der Zweck heiligt die Mittel.

„Sie sollten lernen, dass das europäische Menschenbild mit Menschenwürde und Menschenrechten wesentlich auf Christentum und Aufklärung zurückgeht. Sonst hat Europa angesichts der chinesischen weltanschaulichen Dominanz wenig Zukunft. Unzählige Meisterwerke der Literatur, der Musik, der Baukunst sind ohne das Christentum nicht zu verstehen. Die Kultur Europas ruht auf den Schultern von drei Juden: Moses, Jesus und Paulus.“ (WELT.de)

Die Menschenrechte stammen nicht aus dem Christentum – das Gegenteil ist richtig. Der listige Katholik lädt die Kultur Europas auf die Schultern dreier Juden, als seien Christen nie Antisemiten gewesen. Er benutzt die Juden als Schutzkohorte der Kirchen, damit man Kritiker des Christentums als Judenhasser prügeln kann. Dass Demokratie und Menschenrechte auf griechischem Boden entstanden, scheint in jesuitischen Elitenschulen unbekannt.

Anstatt eine radikal humane Gesellschaft zu werden, um ihre Überlebensprobleme zu lösen, entwickeln sich die Deutschen zurück in die gefühlte Nähe ihres einstigen Führers.

„Ich hasse diese Prüderei und Sittenschnüffelei. Unser Aufbruch hat nichts mit bürgerlicher Tugend zu tun. Meine Leute sind weiß Gott keine Engel und sollen es nicht sein. Ich kann Duckmäuser und Tugendbündler nicht brauchen. Und wenn wir auch nicht siegen können, so werden wir untergehend noch die halbe Welt mit uns in den Untergang reißen.“

Nun doch noch ein echter Fortschritt: gehen wir unter, wird die ganze Welt mit in den Abgrund gerissen – und vice versa. Im Untergang werden wir endlich vereint sein.

 

Fortsetzung folgt.