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Philosophie und Politik

Lust am Streiten

Streitlust?

Apologie ist eine Verteidigungsrede oder –schrift (von apologia = Rechtfertigung), ein Pamphlet ist eine zugespitzter scharfer Angriff, von den Angegriffenen oft als Schmähschrift geschmäht, Pasquill eine Spottschrift. Alle drei gehören zur Gattung der Streitschrift.

Zu den berühmtesten Streitschriften gehören die Bücher gegen das Christentum von Celsus, (das laut Nestle von Nietzsches Antichrist nicht übertroffen wird) und vom römischen Kaiser Julian (genannt Apostata, der Abtrünnige), der vergeblich gegen die neue Macht der christlichen Doktrin im Geiste der griechischen Philosophie anrannte. Fast völlig untergegangen

die angeblich schärfsten Angriffe gegen die Nazaräer, weil von mittelalterlichen Mönchen vorsätzlich ins Feuer geworfen: die Bücher des Neuplatonikers Porphyrios, dessen ketzerische Behauptungen nur fragmentarisch aus den Schriften seiner Gegner rekonstruiert werden konnten.

Bei Celsus nicht viel anders. Nur weil sein Kontrahent der noch in griechisch-agonaler Fairness argumentierende Origenes war, der in seiner Gegenschrift alle Thesen des Celsus unverfälscht wiederholte, sind uns seine Thesen fast vollständig bekannt. Wenn man wissen will, wie man logisch unerbittlich argumentieren kann, muss man Celsus und Julian gelesen haben. Ihre großen Vorbilder sind natürlich die sokratische Apologie und die frühplatonischen Dialoge. (Die Spätwerke sind Vorlesungen im Rahmen eines Gesprächs, keine Auseinandersetzungen mehr.)

Im Mittelalter gabs zu akademischen Übungszwecken scholastische Disputationen, in denen ein Doktorand die kühnsten Thesen aufstellen durfte, aber nur, um seine formallogischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. War das nichtöffentliche Turnier zwischen advocatus dei et diaboli vorbei, wurde die Spielwiese geschlossen und der Ernst des Lebens kam zurück mit der ehernen Devise: extra ecclesiam nulla veritas.

Blieb eine ketzerische These logisch unwiderlegt, half man sich mit der Lehre von der doppelten Wahrheit. Das war natürlich der Sprengstoff, der die neuzeitlichen Absatzbewegungen gegen die klerikale Zensurgewalt hervorrief. Noch heute berüchtigt ist das theologische Streitthema, wie viele Engel wohl auf einer Nadelspitze Platz haben. (= Wie verhalten sich immaterielle Wesen zur materiellen Realität, der alte Streit zwischen Platon und Aristoteles, übersetzt ins Theologische: wie verhält sich der vollendete Himmel zur minderwertigen Erde?)

Ich muss Luther nicht erwähnen mit seinen Streitschriften gegen alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Auch Lessing, der Frühaufklärer, führte eine scharfe und gelehrte Klinge, allerdings gegen fanatische Lutheraner. Fast alle aufklärerischen Schriften könnte man problemlos als Streit-, Schmäh- oder Spottschriften einordnen.

Wer es seriöser haben wollte, legte sich einen schwer verständlichen Stil wie Kant zu, dann wurde er als Philosoph betrachtet. Das war natürlich auch eine nationale Temperamentsfrage. Der Witz und Spott Voltaires gegen die Popen mit dem harschen Slogan ecrasez l’ infame (rottet die infame Kirche aus, später verballhornt in ecrasez les femmes, rottet die Weiber aus) konnte von den schwerfälligen und gesellschaftlich ungeschliffenen Deutschen nicht kopiert werden. Dafür hat der Franzose bis heute den Ruf bei uns, ein oberflächlicher Spiegelfechter zu sein.

Die christlich-abendländische Staatstheorie hat ein Nordafrikaner namens Augustin entwickelt. Übrigens aus der Gegend der jetzigen Aufstände und Rebellionen. Das fromme Europa wurde in Afrika zur Welt gebracht. Alle Geschichtstheorien von Joachim di Fiore über Marxismus bis zum unendlichen amerikanischen Fortschritt mit der Endstation Jüngstes Gericht, sind auf Augustins Dünger gewachsen.

Augustin stellt der griechischen Unwandelbarkeit und zirkulären Zeitlosigkeit die lineare Heilszeit entgegen, eine temporäre Spielwiese des Herrn, auf der das Gute und Böse gegeneinander antreten müssen. Am Ende der Zeiten wird der Gewinner himmlisch gekürt, der Loser in die Hölle geschickt. Das Gute wird von der Kirche, das Böse vom Staat dargestellt. Der Staat ist ein Haufen von Schurken und Aasgeiern, aber notwendig, um während der irdischen Zeit für äußere Ordnung zu sorgen. In allen heilsrelevanten Dingen aber soll er sich der Kirche fügen, das Abschneiden der Ketzerköpfe bleibt sein schmutzig-blutiges Privileg. Das geistliche Urteil wird natürlich von Popenrichtern gefällt.

Der Liberalismus ist die Frucht der Aufklärung, auf antiklerikalem Mist gewachsen. Ich erinnere an die Allergie gegen Nächstenliebe und Bettler-Idolatrie bei Adam Smith. Zwar ist der Mensch egoistisch, doch eine überirdische Instanz sorgt dafür, dass die Summe aller zerstörerischen Eigensüchte – zu einem unvermutet positiven Endergebnis führen wird.

Dass die frommen Konservativen sich irgendwann diesem Liberalismus unterwarfen, war ein Sündenfall ihrer Geschichte. Vom Erfolg der aufkommenden Wirtschaftsmaschine wurden sie so geblendet, dass sie all ihre Einwände gegen sündiges Wohlleben und geilen Luxus an den Nagel hängten. Das waren die Kämpfe der Liberalen unter Bismarck und ihre Trennung in einen linken und rechten Flügel. Ab Willem II bedeutete konservativ sowohl fromm wie reich und mächtig. Diese Verluderung der Glaubensbewahrer hat‘s in diesem Maße vorher nie gegeben.

Hier gab‘s auch eine Spaltung zwischen den nordeuropäisch-angelsächsisch-evangelischen und den südeuropäisch-katholischen Staaten, die noch heute im BIP-Gefälle dieser beiden Regionen sichtbar wird. Der machtorientierte Katholizismus des Südens benötigte keine zusätzliche ökonomische Macht, er war ohnehin der Dominator des schwachen Staates, zudem superreich durch Zuwendungen, Erbschaften und Ablässe jeder Art. Auf den mühseligen und nervösen Produktionskapitalismus war er nicht angewiesen.

Ganz anders die von unten kommenden Mittelschichten des nordeuropäischen Bürgertums, die ihren Calvinismus als Karriere-Ideologie benutzten. Das dröge Luthertum der Deutschen entschied sich in ganz kurzer Zeit – zwischen 1850 und 1900 – zum angelsächsischen Weg des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts. Um 1900 waren sie gleichauf mit Amerika und hatten das kapitalistische Mutterland England überholt. Diesen bismarcken Sündenfall haben die Konservativen bis heute verdrängt, indem sie sich auf Biegen und Brechen dem Machtzuwachs durch Wirtschaft prostituierten.

Faktisch verharren Liberale und Konservative seit jener Zeit in wilder Ehe und ideologisch unzulässiger Zwangskopulation. Der heutige Neoliberalismus hat allerdings mit Adam Smith nicht die Bohne zu tun. Dieser längst dem aufgeklärten Gedankenkreis entfremdete Finanzgier-Zirkus hat inzwischen am Menschenbild des bible belt angedockt und betrachtet die Kreatur tatsächlich als augustinisches Wesen, das mit Hilfe der Ökonomie aufgespalten werden muss in Stroh und Weizen. Wirtschaft ist nichts anderes als der Motor der Heilsgeschichte auf dem Weg ins Jüngste Gericht, zu scheiden die Erwählten von den Verworfenen. Die Amerikaner sind wieder auf Augustin regrediert, aber angereichert mit den irdischen Mitteln des Calvinismus.

Wenn man will, leben wir in ökumenischen Zeiten. Der Finanz-Kannibalismus hat die inhumansten Teile aus Katholizismus, Luthertum (Luther war Augustiner) und Calvinismus zu einem Gebräu zusammengemixt, dass uns Hören und Sehen vergeht.