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Sonntag, 24. Februar 2013 – Orwellsche Schulen

Hello, Freunde der Bewegungsgespräche,

die TAZ will etwas bewegen, dazu hat sie Bewegungsgespräche erfunden. Das erwünschte Ergebnis eines Gesprächs wird der Methode selbst-erfüllend implantiert. Kein Mensch käme zu einer Tagung mit schlichten, einfachen Gesprächen.

Bewegen heißt movere, woher Motivation. Es handelt sich um ordinäre Motivationsgespräche, die jede IHK ihren Mitgliedern kostenlos anbietet. Konservative, die etwas bewahren wollen, könnten Bewahrungsgespräche ansetzen, Revolutionäre könnten Umsturzgespräche führen. Kaum wären die Gespräche geführt, wäre das Ziel erreicht. Besitzstände bewahrt, Revolution durchgeführt!

Zu Bewegungsgesprächen gehören bewegte Experten, die bewiesen haben, dass sie etwas bewegen können. Da sind der Ex-Aktivist und heutige Europa-Abgeordnete Giegold, ein spanischer Attac-Vizepräsident, ein deutscher Professor als Protest-Soziologe oder eine Occupy-Aktivistin.

Ex-Aktivisten – haben die sich vom Aktivieren nicht zurückgezogen? Was tut ein Protest-Soziologe? Protestiert er oder doziert er übers Protestieren? Hat Grottian in der TAZ nicht vor Tagen den Attacies bescheinigt, sie hätten keinen Mumm in der Hose? Nun sind sie plötzlich Fachleute für Zivil-Courage? Kann es sein, dass solche Aktivisten organisieren, aber nicht bewegen können?

Sollen Menschen überhaupt von außen motiviert werden? Sollten sie sich nicht selbst motivieren durch das einzige Motivationsmittel, das sich bewährt hat: durch Raisonieren? Sollte die Tagung nicht schlicht und einfach zum Denken anregen?

Die Linken kopieren die Methoden der Rechten. Bewegen von außen ohne Erkenntnisgewinn ist Manipulieren. Wenn Linke

und Rechte mit gleichen Methoden manipulieren, darf man sich über das Ergebnis nicht wundern: zwischen links und rechts gibt’s keine Unterschiede mehr.

Linke dürfen nicht Philosophieren, denn im Hintergrund warnt Onkel Karl mit dem Rohrstock: Philosophie taugt nichts, sie interpretiert nur. Also müssen die Linken scharf darüber nachdenken, wie sie Denken vermeiden können. Onkel Karl hatte genug stellvertretend für alle gedacht.

Da hülfen vielleicht Antiphilosophieveränderungsgespräche? Nein, Frank Schirrmacher wäre der falsche Prophet. Er will nur kabbalistische Kaffeesatzstillstandsgespräche. Wie wär‘s mit Augstein, dem Propheten des Propheten? In seinen Comediesendungen mit Zwillingsbruder Blome kann er so schnell reden, dass allein das Wortemachen für nötigen Rückenwind der Bewegung sorgen könnte. Übrigens, früher nannte man geisterfüllte Leute, die alles dem lieben Gott überließen: Quietisten oder die Stillen im Lande. Die ließen sich nur vom heiligen Geist bewegen – oder sie hielten die Klappe.

(Martin Knaul in der TAZ)

 

Deutschland, das Land der Bewegung. In der bewegten TAZ darf – man höre und staune – für die Todesstrafe geworben werden.

„Die Hinrichtung zweier mutmaßlicher Attentäter in Weißrussland im vergangenen März ist im Westen auf heftige Kritik gestoßen zu Unrecht. Ja, jeder hat das Recht auf Leben, und das muss respektiert werden. Bis zu einem gewissen Punkt: Wenn du jemandem das Leben genommen hast, dann sei bitte so gut, und gib auch deins dafür. Das ist die ganze Politik.“

(Liza Krasavtceva in der TAZ)

 

Deutschland steht kurz vor Wiedereinführung der Prügelstrafe. Pardon, die Prügelstrafe war nie abgeschafft. Die psychische Prügel- und Demütigungsstrafe oder das Sitzenbleiben. Die eifrigsten Befürworter der körperlichen Prügelstrafe waren jene He-Manner, die sich auf die Schenkel klopften und wieherten: Haben die Prügel meines Vaters oder die Ohrfeigen meiner Mutter mir etwa geschadet?

Wenns um Liebeserweisungen geht, dürfen die Liebesexperten des Herrn nicht abseits stehen. Auch Peter Hahne ist froh, dass er nicht den leichteren Weg gehen musste, sondern den schweren gehen konnte, weil er Angst haben durfte vor dem Sitzenbleiben. Ohne Druck wäre er nicht zur Theologie gekommen und Deutschland müsste heute ohne seinen Oberpastor in BILD auskommen.

„Es gibt genug Menschen, die es im Leben weit gebracht haben, obwohl sie mal hängen geblieben sind: Nobelpreisträger wie Albert Einstein oder Thomas Mann, Spitzenpolitiker wie Johannes Rau, Edmund Stoiber oder Peer Steinbrück, Moderatoren wie Thomas Gottschalk oder Harald Schmidt.“

Jetzt wird’s klar, warum Deutschland es zu keinen Einsteins mehr bringt und die Genies der Welt nur in Silicon Valley in vitro gezeugt werden. Es bleiben zu wenig verkannte Genies sitzen. Der Moderatorennachwuchs lässt zu wünschen übrig, nachdem die Riege der Gottschalks den goldenen Löffel abgegeben hat. (Die alte Garde der Spaßmacher hat ihr Handwerk als Messdiener im katholischen Gottesdienst erworben. Das muss um der historischen Korrektheit willen gesagt werden.)

Wir haben weniger als 2% Sitzenbleiber. Viel zu wenig zur Produktion sitzengebliebener Überflieger. Das kann nur bedeuten, wir nähern uns dem Schlaraffenland. Und das wäre der ultimative Untergang unserer brillanten Weltmeisterexportnation.

Wie viele Persönlichkeiten unserer Eliten können nachweisen, dass sie den harten Weg des Scheiterns gewählt haben und nicht den einfachen Weg des Nachobenkuschelns durch unauffälliges Funktionieren? „Mit dieser leistungsfeindlichen Einstellung landen wir im Mittelmaß“, kommentierte ein exzellenter Realschullehrerverbandspräsident die Abschaffung der Ehrenrunden.

Bei Stoiber wundert es nicht, dass er sitzen blieb. Wie könnte man sonst ständig unter Überdruck stehen, um sein ganzes Leben lang das Abitur nachzuholen? In der Schule lernen wir fürs Leben und Leben heißt scheitern. Frühzeitig müssen die Kinder das Scheitern mit Auszeichnung lernen, denn Fallen kann ein jeder, Aufstehen aber ist eine Kunst. Kopfnoten für Fall und Auferstehen sind die wichtigsten Noten bei Bewerbungen für die Personalchefs.

An der Debatte ums Sitzenbleiben beteiligen sich nur Menschen, die die Schule schon so lange hinter sich haben, dass sie ihre Niederlagen als erheiternde Anekdoten erzählen können. Selbstredend wird der Nachwuchs nicht befragt, wie er die Niederlage erlebt. Über Kinder wird gesprochen, sie selber müssen nicht gehört werden. Höchstens ein Frühreifer darf im Sinne der Erwachsenen für die harte Tour plädieren. Wie er sich und seine missratenen Mitschüler kennt, würden die nur Party machen, wenn es nicht die psychische Prügelstrafe gäbe.

Ab einem bestimmten Alter kurz nach der Pubertät haben Kinder die Über-Ich-Instanz ihrer Eltern entweder verinnerlicht oder sie werden rebellisch und unglücklich. In diesem Alter ist man mit sich viel strenger als die meisten Lehrer, weil die Heranwachsenden sich als sündige und fehlerhafte Kreaturen entdeckt haben. Aus Experimenten weiß man, dass Selbstbewertungen in diesem Alter erbarmungsloser ausfallen als bei manchen Kuschelpädagogen.

Derselbe Grund, warum die Erstgeborenen ihre kleinen Geschwister strenger behandeln als die Eltern. Sie glauben, dass die kleinen Wonneproppen durch Kuschelpädagogik der weich gewordenen Eltern geschädigt werden und wollen dies verhindern. Auch Heike Schmoll hat sich in der FAZ um das Streitthema der Woche bemüht.

(Heike Schmoll in der FAZ)

Sitzenbleiben sei schon immer eine ambivalente Erfahrung gewesen. Besonders für Spätentwickler unter den Jungs. Womit klar ist, Mädchen bleiben so gut wie nicht sitzen. Sind sie klüger als die „Jungs“? Oder angepasster und fürchten das Sitzenbleiben mehr als die rebellischen Jungmänner, die sich trauen, der Drillanstalt offen ihren Widerstand zu zeigen?

Was sind Spätentwickler? Gibt’s Normen für die Entwicklung der Heranwachsenden? Warum hört man an dieser Stelle nie den Hinweis auf die individuellste Gesellschaft der Weltgeschichte, in der zu leben wir das Privileg hätten?

Im Erwachsenenbereich darfs keine Gleichschaltung geben. In der Schule hingegen klumpen sie kohortenhaft nach Jahrgangsklassen und müssen das absolut gleiche Pensum wie in der gleichgeschalteten Hühnerfarm fressen und in Fleisch- oder Erkenntnisvermehrung transformieren. Sonst fallen sie durch die Selektionsklappe und werden zu Gulasch für die Löwen im nahe gelegenen Zoo.

Für die Jungs „muss es nicht auf eine Demütigung hinauslaufen, wie jetzt getan wird, wenn sie eine Klasse wiederholen müssen“. Es muss nicht, ist aber meistens so. Mit anderen Worten: stellt euch nicht so an, Jungs. Sonst spielt ihr doch auch immer den großen Max. Also Haltung annehmen und zum Repetieren antreten. Das tut eurer männlich verkrümmten Seele gut.

Wir braven Mädchen haben diese Ochsentour nicht nötig. Frauen sind pragmatisch, gehen den lächerlichen Alphatierrangkämpfen aus dem Weg und schwupps, haben wir die Männer überholt. Im Studium noch viel mehr. Im Berufsleben sind wir gerade dabei, euch Machos den Rang abzulaufen. Wartet noch ein Weilchen und wir übernehmen den ganzen kapitalistischen Saftladen. Dann könnt ihr Heimchen am Herd spielen.

Ob Sitzenbleiben schadet oder nicht, ist in dieser Gesellschaft keine empirische Frage. Kein pädagogisches Institut vergibt interessante Doktorandenaufträge. Edelschreiber begnügen sich mit Zufallsbefragungen arrivierter Kollegen und schwupps, haben sie statistisch valide Erkenntnisse im Kasten. Fakten, Fakten, Fakten sind die Grundlagen der journalistischen Arbeit, doch hier scheint es keine harten Fakten zu geben. Die Auskünfte der Betroffenen interessieren seltsamerweise niemanden. Oder sollte es verlässliche Untersuchungen geben, die von keinem Journalisten recherchiert wurden?

Ab 14 darf man ins Gefängnis, ab 14 darf man seine Religion wählen, das Innenleben der 14 bis 18-Jährigen interessiert niemanden. Schule, die Sache der Kinder, darf man Kindern nicht überlassen. Bald sollen sie mit 16 wählen, doch in ihrem Schulalltag haben sie nicht mitzureden.

Mit 18 machen sie einen Quantensprung und mutieren aus Möchtegernfaulenzern zu verantwortungsbewussten Erwachsenen. Das Sitzenbleiben kann, so Schmoll, „eine echte Befreiung sein, in einer neuen Lerngruppe mit neuen Lehrern eine weitere Chance zu bekommen.“ Ein neuer humaner Lehrer und eine neue humane Umgebung sind eine Befreiung. Doch wer garantiert, dass der Wechsel nicht vom Regen in die Traufe führt?

Warum muss man in Deutschland zuerst gedemütigt werden, damit man sich eine humane Lernsituation verdient hat? Sollte das eine christliche Pädagogik sein: durch Kreuz zur Krone? Durch Leid zum Sieg? Meine Lehrer lieben mich nicht mehr, sie haben mich schon lange nicht mehr sitzen lassen? Wenn es schon keine Prügelstrafe mehr gibt, muss es wenigstens eine Psychopeitsche zur Beschämung geben, damit junge Menschen zur Einsicht kommen.

Auch Adam und Eva verpassten das Klassenziel und mussten eine Ehrenrunde drehen, die noch heute andauert und Geschichte genannt wird. Mit Christi Geburt haben sie eine zweite Chance gekriegt. Straffreies Lernen aus Fehlern ist nicht vorgesehen. Der Mensch ist ein lernunfähiges Tier. Das sollen Kinder schon in der Schule begreifen.

Doch Halt! Werden die meisten Kinder nicht versetzt, kriegen beste Noten, werden erfolgreiche Leistungsträger und bringen uns Fortschritt und Wohlstand? Äußerlich gesehen schon. Doch die Moderne ist wie Stoiber: ständig muss sie ihr Abitur durch Hektik und Beschleunigung nachholen, bis dass der Kollaps sie vom Leben scheidet. Der Grund liegt auf der Hand. Die Erfolgreichsten haben alle das Gefühl, sie hätten sitzen bleiben müssen. Nur durch glücklichen Zufall oder dank der Gnade oder Blindheit der Lehrer seien sie davon gekommen.

Noch heute haben sie ein schlechtes Gewissen und müssen nachträglich beweisen, dass sie es dennoch geschafft hätten. Deshalb der erbarmungslose Wettbewerb zwischen den Alphatieren. Die wahre Schule des Lebens ist der Darwin’sche Überlebenskampf. Nur im Kapitalismus lernt man, was Sache ist. Die Schule war nur ein harmloser Probelauf. Hart und ungerecht muss ein männliches Leben sein.

Mit anderen Worten: die meisten Erwachsenen fanden ihre Schuljahre zu überfürsorglich, zu verwöhnend. Sie waren nicht genug gefordert im Kampf jeder gegen jeden. Wenn das Leben hart und grausam ist, wie Hobbes, der geistige Erfinder des Kapitalismus sagte, dann brauchen wir andere Schulen als die heutigen Softieschmieden.

Wäre Einzelförderung das Patentrezept gegen Schulversagen? Einzelförderung wäre eine individuelle Förderung. Aber ein unbezahlbarer Luxus im liberalen Individualismus. Das kann sich kein Staat erlauben, der sein Geld bei Bankern und Zockern abliefern muss. Immerhin hätte Schmoll zugegeben, dass Einzelförderung die Pflicht und Schuldigkeit einer individuellen Gesellschaft wäre. Nur, der Staat könne sich eine solche pädagogische Fairness nicht leisten.

Die Fehler des „Staates“ werden auf dem Rücken der Jugendlichen ausgetragen. Die übrigens keine „Spätentwickler“ sein müssen, um das Soll der Klassennormen nicht zu erfüllen. Es könnten Frühentwickler und Selbstdenker sein, die mit dem vorgeschriebenen, undurchdachten und widersprüchlichen Lehrstoff nicht zurechtkommen. Ihre Einwände und Fragen werden von bornierten Lehrern mit autoritärem Missmut abgewiesen, sodass die Grübelnden und Nachdenkenden in passiven Streik verfallen.

Ist schon jemandem aufgefallen, dass realistische Schulsituationen in den öffentlichen Kanälen nie, ich sagte nie, eins zu eins abgebildet werden? Die öffentlichen Schulen sind das best gehütete Geheimnis der Nation. Was Kinder tagtäglich erleben, interessiert hierzulande niemanden. Sie haben keine Bühne und kein Sprachrohr. Wenn sie versagen: ab zum Schulpsychologen. Da es von dieser Sorte zu wenig gibt, ab zum Wald- und Wiesendoktor und Ritalin geschluckt.

Wer Sitzenbleiben verhindern will, so Schmoll, sollte konsequent sein und gleich die ganze Notengebung kippen. Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Wozu Noten? Um es den Personalchefs beim Sieben des Unkrauts leichter zu machen? Das wäre unbezahlte Arbeit für die Industrie. Dann wäre es höchste Zeit, dass die Betriebe die Schulen finanzieren. Denn die tun nichts anderes als die Kinder aufs eindimensionale Funktionieren unter abhängigen Bedingungen vorzuglühen und vorzudrillen.

Jetzt kommts knüppeldick. Schmoll wirft dem Staat Beglückungsphantasien vor, wenn er niemanden mehr sitzen lässt. Ohne Bewertungen sollen alle Schüler gleichgeschaltet werden. Dabei gibt es keine effizienteren Gleichmachermaschinen als Jahrgangskohorten, gleiche Normen für Gleichaltrige und Bewertungen ohne Rücksicht auf die Unterschiedlichkeit der Biografien.

Intrinsisch nennen die Fachleute eine individuelle Bewertung. Der Begriff taucht in der ganzen Debatte nicht auf. Intrinsisch inwendig misst den Menschen an sich selbst. Und nicht an fremden, aufgezwungenen Maßstäben, die in irgendeinem Lehrerzimmer als unfehlbare Normen festgelegt wurden. Kein ausländisches Kind hätte die geringste Chance, mitzukommen, wenn seine Deutschkenntnisse an denen einheimischer Kinder gemessen würden. Was in der hiesigen Machtpädagogik verdrängt wird: jeder Mensch ist in vielen Aspekten Ausländer in seinem Land.

Es kann keine „objektiven Normen“ geben, wenn jeder Mensch ein Individuum ist. Wissen Journalisten nicht mehr, was individuell heißt? Es heißt unvergleichlich. Dennoch wird an Hand willkürlicher Normen die zumeist aus Erfahrungen der Duckmäuser-Bourgeoisie stammen jeder Mensch mit jedem verglichen, als ob alle zur gleichen Zeit denselben „Bildungsstoff“ zu verdauen hätten. Goethes Faust im Alter von 17? Eine Katastrophe.

Jeder Mensch besitzt eine eigene Entwicklungslinie. Das ignoriert die Frontalpädagogik vollständig. Bildung wird dem Kind eingepresst wie der Mastgans das Futter, um eine gute Leberpastete zu erhalten. Man fasst sich an den Kopf, wenn Schmoll schreibt: „Leistungsbeurteilung bemisst sich an universalistischen Standards und ist genau darin gerecht.

Universalistische Standards sind Menschenrechte. Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich. Eine universalistische Leistungsbeurteilung ist eine abendländische Hypertrophie, die ihre subjektiven Standards zu Standards der Welt aufbläst. Sind die Fähigkeiten eines Indianermädchens mit denen eines Hollywoodgirls vergleichbar?

Doch halt. Lässt sich nicht objektiv beurteilen, wie gut jemand Englisch spricht? Man kann quantitativ feststellen, ob jemand eine Sprache beherrscht. Man kann aber nicht qualitativ mit Noten bewerten, ob die Sprechkompetenz die Frucht einer besseren Lernleistung war als die Lernleistung eines andern. Der eine spricht Englisch als Muttersprache, der andere musste sie mühsam als Fremdsprache nachlernen.

Noten sind ungerechte Vergleiche auf Rangbasis und unterschlagen die nicht vergleichbare Ausgangsbasis der Menschen. Noten basieren auf der subjektiv eingeordneten Rangskala. Sie tun aber, als seien sie auf objektiver Intervallskala erhoben. Das wäre, als ob Dieter Bohlen seinem Lieblingskandidaten sagen würde: du bist zweimal besser als dein Vorgänger.

Dabei gibt es tatsächlich einen universalistischen Standard. Jeder Mensch muss fair beurteilt werden, indem man seine ganze Biografie mitbedenkt. Jeder Mensch ist eine Ganzheit und kann nicht als atomisierter Leistungsträger betrachtet werden. Keinem Menschen wird man gerecht, wenn man ihn an willkürlichen Normen misst. Man muss seine ganze Biografie berücksichtigen, um nur eine Ahnung zu kriegen, was er erlebt und erduldet hat. Rückmeldungen sind unerlässlich, müssen aber auf genauer Wahrnehmung beruhen und können unmöglich mit einer Ziffer wiedergegeben werden.

Das Hauptgeschäft der Schulen besteht inzwischen in machtgeleiteten Bewertungsorgien. Die Schulen bringen den Kindern immer weniger bei und das Wenige wird unerbittlich mit Noten abgestempelt. Kaum beginnt das Schuljahr, schon heißt es: Hefte raus, wir schreiben einen Test. Dabei hat man den Kindern noch gar nichts Sinnvolles geboten.

Die Testeritis ist zur Landplage von Lehrerbeamten geworden, die sich vor allem als Überwachungsbehörden verstehen. Nichts geben und anbieten, aber sofort an den Pranger stellen und die Kinder mit Noten auseinanderdividieren. Teile und herrsche heißt auf pädagogisch: benote und herrsche. Solidarität unter Kindern kann sich nicht bilden, wenn die einen narzisstisch hochgehoben, die anderen sadistisch fertig gemacht werden.

Frei lernende Kinder wissen selbst, was sie können. Sie sind selbst in der Lage, zu entscheiden, ob und auf welchem Niveau sie Englisch lernen wollen. Die Schule ist zur kompletten Misstrauensanstalt geworden, lückenlos müssen die triebgesteuerten jungen Wilden an die Kandare genommen und überprüft werden. Wehe, wenn sie losgelassen, wachsend ohne Widerstand.

Orwells 1984 ist eine Petitesse, verglichen mit dem omniszienten Blick der Staatsbeamten in einer normalen Schule. Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Schon längst sind Schulen zu Gefängnissen geworden, weil schikanierte Kinder immer mehr mit Waffengewalt zurückschlagen. In manchen Schulen herrscht blanker Bürgerkrieg. Nach Gründen wird nicht mehr gefragt. Zur Erklärung genügt das allpräsente Böse der heranwachsenden Sündenkrüppel.

In der Schule werden die Kinder zu Fremdgesteuerten zugerichtet, damit sie vorbereitet sind auf die Lenkung durch Lohnabhängigkeit. Was die Noten in der Schule, wird der Inhalt der Lohntüte bei den Erwachsenen.

Was ist der Auftrag der Schule? Dass Kinder die Chance erhalten, das Lernen zu lernen. Lernen ist eine selbstbestimmte und freie Angelegenheit. Wer lernen kann, lernt auch, in welcher Reihenfolge und mit welcher Methode er etwas lernen kann.

Aufsichtsbehörden benötigt er keine, sondern Erwachsene, die ihn mit Sympathie begleiten, in seiner Entwicklung akzeptieren und bestärken. Zur Akzeptanz gehört auch Kritik. Andere kritisch zu beurteilen und selbst kritisch beurteilt zu werden. Kein selbstbewusstes Kind will blind bewundert werden. Es will realistisch wahrgenommen werden, damit es lernt, sich durch Rückmeldungen anderer immer besser einzuschätzen.

Mit Noten haben solche Rückmeldungen soviel zu tun, wie der Zuruf des Liebhabers an seinen Bettschatz: heute warst du 5 minus. Noch einmal eine solche Leistung und du kriegst einen blauen Brief.

Es genügt nicht, Sitzenbleiben und kinderfeindliche Noten abzuschaffen. Die pädagogische Überwachungsanstalt ist eine Brüskierung und Beleidigung kindlicher Neugierde und Selbstbestimmung. Schule begann als Ort der Muße. Muße ist unreglementierte Zeit für freie Menschen.