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„«Wir sind nun einmal Tiere, in der Evolution entstanden durch die brachialen Kräfte der Selektion», so beschreibt es Gijsbert Stoet, Psychologieprofessor an der britischen Leeds-Beckett-Universität. In der Steinzeit habe es sich «für Männer ausgezahlt, Jäger zu sein, und für Frauen, sich um die Babys zu kümmern». Die Natur habe einige der dafür benötigten Fertigkeiten in die Hardware unseres Gehirns geschrieben; das könne man «nicht so leicht ändern».“ (SPIEGEL.de)

Es gibt Wissenschaften, die man längst als Parasitenwissenschaften bezeichnen müsste. Sie klammern sich an ihre akademischen Pfründe, indem sie nichts anderes tun, als sich für überflüssig zu erklären. Zu ihnen zählen die meisten “Geistes“-Wissenschaften, die sich als verkappte Naturwissenschaften betätigen. Ein Psychologieprofessor verneint die Mühe, die menschliche Psyche formen oder erziehen zu können und propagiert die Unveränderlichkeit einer evolutionären Selektionsbiologie.

Marx, im politischen Leben gescheitert, triumphiert im Tempel der Wissenschaften. Das Sein, die Evolution, die Gene, die biologische Ausstattung bestimmen das Bewusstsein, die Psyche, den Geist des Menschen, mit dem er sich, nein, nicht über die Natur erheben, sondern im Rahmen der Natur seine Lebensvorstellungen realisieren kann.

Wenn Geisteswissenschaftler Harakiri begehen, haben auch Naturwissenschaftler keine Hemmungen, ihnen mitleidig zu assistieren. Sie erweitern ihren Herrschaftsbereich über die Schwätzerwissenschaften (talking sciences) und geben ihnen den Gnadenstoß:

„Was unser Gehirn tut und unterlässt, wann es in Aktion tritt oder reagiert und auf welche Weise, wie es eine Situation, eine Entwicklung, einen Zustand bewertet – all das macht die Persönlichkeit aus. Menschen sind in dieser Hinsicht überaus

  verschieden, das wissen wir. Was wenigen klar ist: All diese Unterschiede sind in hohem Maße erblich. Unsere Gene sehen für uns einen definierten Platz vor, auf der Skala von manischer Fröhlichkeit bis zu tiefer Traurigkeit, zwischen Apathie und ständiger Neugier, Ängstlichkeit und Risikolust.“ (ZEIT.de)

Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth befindet sich auf Weltniveau, wenn er behauptet, „dass es aus Sicht der naturwissenschaftlich betriebenen Neurobiologie kein Äquivalent für das gebe, was in der Moralphilosophie Willensfreiheit genannt wird.“ Laut Roth ist der Begriff Willensfreiheit irrelevant.

Das ist Calvinismus in szientifischen Begriffen:

„Gott bewegt den Willen. Aber das geschieht nicht, wie Jahrhunderte lang ge­lehrt und geglaubt worden ist, so, daß es dann in unserer Entscheidung stünde, dieser Bewegung Gehorsam oder auch Widerstand zu leisten; sondern er bewegt ihn so kräftig, daß er folgen muß. Denn der Apostel lehrt ja nicht, die Gnade des guten Willens werde uns dargeboten, wenn wir sie annähmen, sondern: Er bringe in uns das Wollen hervor! Und das heißt doch nichts anderes, als daß der Herr durch seinen Geist unser Herz lenkt, leitet und regiert und in ihm als in sei­nem Besitztum sein Regiment führt.“ (Calvin)

Was dem einen Gott, ist dem anderen das Gehirn. Wofür wurde der Forscher mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet? Dafür, dass er das ganze deutsche Strafsystem mit seinem Labyrinth aus „vorsätzlichen, heimtückischen und niedrigen Beweggründen“ in Schutt und Asche legte – und niemand merkte es.

Was soll das aufwendige Charaktersuchverfahren deutscher Richter – die keine Psychologen sind –, wenn es keine selbsterworbenen und schuldfähigen Charaktere gibt? Man sperrt ja auch nicht jene Löwenlady in einen Sonderkäfig, die dem Vater ihrer Kinder höchstselbst das Genick durchbiss.

Wenn Gott oder Natur alles bestimmen, dann wäre es höchste Zeit, diese Beiden vor dem Weltgerichtshof in Den Haag anzuklagen. Mit der weiblichen Natur kennt die Menschheit keine Gnade. Zur Strafe für ihre vorsätzlich-heimtückische Brutalität wird sie weltweit zu Tode gehetzt. Der männliche Gott hingegen bleibt unbehelligt.

Als Neocalvinist ist Roth zudem noch „radikaler Konstruktivist“. Wie bitte?

„Eine der Grundannahmen des radikalen Konstruktivismus ist, dass die persönliche Wahrnehmung nicht das Abbild einer Realität produzieren kann, welche unabhängig vom Individuum besteht, sondern dass Realität für jedes Individuum immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung bedeutet. Deshalb ist Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich; jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv.“ (Wiki)

Eben noch objektiv festgelegt, jetzt postmodern-subjektiv losgelöst von jeglicher Realität?

Kinder, Wissenschaft macht Spaß. Bildet euch, steigt auf in höhere Etagen, werdet Experten im öffentlich-rechtlichen Bildungsfernsehen – dann könnt ihr daher schwafeln, dass die Schwarte kracht. Wenn Erkenntnisse nichts mit der Realität zu tun haben, hat Roth seine eigene Theorie als subjektiven Gallimathias enttarnt – und niemand hat es gemerkt.

Es kommt noch besser. In einem Nebensatz erklärt Roth, dass der Mensch sich sehr wohl ändern könne:

„Die meisten Menschen ändern sich nur, wenn ihnen die „Schiete bis zum Hals steht“ – Leidensdruck ist sehr wichtig für Veränderungen.“

Überraschend sind wir in vertrautem Gelände angekommen. Den Deutschen muss die Schiete bis zum Hals stehen, dann können sie (vielleicht) klug und weise werden. Zur Schiete gehören Kleinigkeiten wie Elend, Krieg und Untergang – sagt der Inbegriff ihrer nationalen Mentalität. Manche sprechen von der Deutschen Bewegung, die von einem ihrer Ahnherrn als Gegnerin jener Aufklärungsphilosophie beschrieben wurde, die „nicht einmal mehr den Mut und die Kraft zum Verbrechen hat. Gnade Gott eurer neuen, freiwilligen Tugend.“ (Theologe Herder)

Ohne Abgrund und Verbrechen kannst du in der deutschen Geschichte keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken. Nach einer Periode weibischer Reeducation-Tugend besinnen wir uns wieder auf die vitalen Kraft- und Verbrechensphantasien des Gottesmannes Herder.

Die deutsche Frage hat uns wieder, schreibt Historiker Michael Stürmer. Mit schwächlichem Tugendidealismus ließe sie sich nicht beantworten. Wir müssten sie wieder lieben lernen: die Stürme, die brausenden Wogen der Weltpolitik.

Selbstverzwergung beim Blick auf die große weite Welt schmerzte nicht, sondern half, Geld zu sparen, einen guten Eindruck zu machen, ein ruhiges Gewissen zu haben und anderen „out of area“ notwendige Drecksarbeit zu überlassen. Es wird Zeit, die Schmerzen des Erwachsenwerdens zu bewältigen. Niemand wird das dem Land abnehmen. Nicht den Leuten und nicht dem Führungspersonal. Beide werden im Modus der Doppelkrise getestet. Über die Jahrzehnte lieferten die Amerikaner Gleichgewicht in Europa und für Europa. Die Rolle ist zur Zeit vakant. Die Nato aber ist nicht mit Ketten am Firmament befestigt, und die EU auch nicht. Die Koordinaten deutscher Politik müssen neu bestimmt werden.“ (WELT.de)

Getestet hieß früher: von Gott auf Herz und Nieren geprüft: „Siehe, ich will sie schmelzen, will sie prüfen.“ Wenn die Deutschen von ihrem Gott nicht im Feuerofen geprüft werden, fühlen sie sich ungeliebt.

Schiete von Oben ist ein Freundschaftsbeweis. Wer dem Liebesbeweis Gottes in Form atomarer Bedrohung und globaler Klimaverschärfung aus dem Weg gehen will, der muss gottlos sein. Pazifistische Selbstverzwergung und gutes Gewissen sind Merkmale leichtfertiger Gutmenschen. Sie wollen nichts, als in Ruhe und Frieden ein idyllisches Leben führen. Der Ernst des Lebens fehlt ihnen komplett.

Bislang lebten wir auf Kosten der Amerikaner wie Kinder im Paradies. Jetzt müssen wir erwachsen werden und die Rolle unserer Vorbilder übernehmen. Die Deutschen wollen Weltmeister in allen Disziplinen sein, vom Wirtschaftsexport über Innovation bis zum Triathlon. Nur nicht im Gutsein, im Mindestlohn, in der Wohnungsfrage und in der Euro-Solidarität mit ökonomischen Versagern wie Griechenland und Italien.

„Zu akzeptieren ist aber auch nicht, dass jede Bundesregierung seit Helmut Kohl ignoriert, dass die jetzigen Regeln die Ungleichheit in der Euro-Zone verstärken. Weil die Bundesrepublik zu den Gewinnern zählt, will sie das Problem der anderen nicht wahrhaben. Das war schon in der europäischen Flüchtlingskrise so. Solange man nicht betroffen war, hatte man kein Verständnis für Italien, das eine solidarische Verteilung der Flüchtling einforderte. Erst als Hunderttausende ins Land kamen, verstand Berlin die Sorgen.“ (Sueddeutsche.de)

No bail out, keine Nachsicht mit ökonomischen Versagern, ist eine Erfindung Kohls. Merkel imitiert ihn und will dennoch Weltmeisterin in Agape sein, was mit heidnischem Gutsein nichts zu tun hat. Den Nächsten liebt man (ausnahmsweise), weil Gott es will. Gut ist man (möglichst oft), weil man es selber will. Der gelegentlichen Eruption schwärmender Liebe entspricht eine permanente Kälte fehlender Einfühlsamkeit.

„Samuel ist im Thüringer Krankenhaus Saalfeld. Seine Frau liegt mit Geburtswehen im Kreißsaal. Gegen 2 Uhr treffen die Beamten dort ein und nehmen Samuel „unter demütigenden Umständen“ mit, wie der Flüchtlingsrat Thüringen beschreibt. Er soll zum Frankfurter Flughafen gebracht und von dort aus nach Italien abgeschoben werden. Dass der Fall von Samuel noch eine gute Wendung nimmt, ist dem couragierten Einsatz der diensthabenden Hebammen, Gabriele Hampe und Gabriele Scholz, zu verdanken. Durch ihre Anrufe und Proteste wird die nächtliche Abschiebung in letzter Minute noch gestoppt. Samuel darf wieder zu seiner jungen Familie fahren.“ (MiGAZIN.de)

Fehlte gerade noch, dass die beiden Hebammen wegen Beihilfe zu rechtswidrigem Tun von den Beamten gleich mitgenommen worden wären. Wer nächtens bei Rot die Straße überquert, wird stundenlang ins Verhör genommen, während mafiaähnliche Sippen seit Jahr und Tag unbelästigt ihr Unwesen treiben dürfen. Wie ist diese Stimmungsschwankung zwischen sporadischer Schwärmerei und täglicher Eiseskälte, zwischen übertriebenem Strafbedürfnis und apathischer Rechtsvergessenheit zu erklären?

Wer seine almosenhaften Liebestaten als Gnadengaben versteht, muss dem Liebesobjekt signalisieren: eigentlich hast du meine Wohltaten nicht verdient. Also nimm dich in Acht, ich kann auch ganz anders. Wie Gnade nur ein Bruchteil des gesamtgöttlichen Wirkens ist, so muss Liebe die absolute Ausnahme bleiben – damit die Hilfsbedürftigen, die an ihrer Misere selbst schuld sind, nicht leichtsinnig werden. Gnadenlosigkeit und Gnade sind siamesische Zwillinge.

Nicht verwöhnen, lautet die oberste Maxime deutscher Pädagogik. Früher sagten sie: gelobt sei, was hart macht. Heute bevorzugen sie den kapitalismusverträglichen Rat: nur wer sich rechtzeitig von der – übermäßig liebenden und verwöhnenden – Familie löst, darf aufsteigen in die höheren Ränge. Der voll atomisierte, beliebig verschiebbare Geld-Untertan ohne lästigen Familienfortsatz ist das Leitziel aller Gier-Gesellschaften.

Altruistische, egoistische Neigungen, angeboren oder eingebläut: das sind die Lieblingsthemen sozialer Wissenschaften seit Beginn der Säkularisierung. Wäre das Gute von Natur aus, müsste man es nicht mühsam eintrainieren. Wäre das Schlechte von Natur aus, könnte man sich den ganzen Erziehungsklimbim sparen. Da man seinen eigenen Liebesfähigkeiten und Erziehungskünsten nicht mehr traute, war das Lieblingsergebnis der Sozialwissenschaftler: von Natur aus.

Eine ganze Welle von Natur-aus-Ergebnissen überschwemmte vor Dezennien die Republik, um der Selbstsicherheit einer Geistkultur mit genüßlicher Schadenfreude eins reinzuwürgen. Stets wurde die darwinistische Natur bemüht, um den Spießern die nackte Wahrheit vorzuführen. Glaubt ihr ernsthaft, ihr hättet eure Herkunft aus der Natur überwunden?

Als die Kinderschreckmethoden nicht mehr ankamen, entdeckte man die bonoboistische Seite der Natur. Konflikte pflegen Bonobos mit Sex zu lösen. Wäre das Gute von Natur aus, hätten die Menschen keine Chance mehr, auf ihre Tugendhaftigkeit stolz zu sein. So oder so: die von-Natur-aus-Methoden haben den Sinn, die Autonomiebestrebungen der Menschen zu destruieren.

Auch die WELT fragt wieder einmal: Ist uns Altruismus angeboren?

„Der Mensch kommt egoistisch auf die Welt und muss Mitgefühl und Hilfsbereitschaft erst lernen, so die These. Doch ist sie haltbar? Um das herauszufinden beobachten Forscher Affen – und bitten Kinder zu einem Wäscheklammertest. Mit erstaunlichen Ergebnissen. „Die alte Sichtweise eines rein egoistischen Kindes, welches erst durch Sozialisation umprogrammiert werden muss, bevor es sich um andere kümmert, muss revidiert werden.“ Kleinkinder legten altruistisches Verhalten an den Tag, bevor sie ein komplexes Moralsystem erworben hätten.“ (WELT.de)l

Wissenschaftler beobachten die Menschen nicht in ihrem wahren Leben. Sie müssen sich im Erfinden genialer Tests übertreffen, um aus Winzigkeiten die großen Lebensrätsel zu lösen. Getreu der biblischen Seelenkunde: wer im Kleinen getreu ist, ist es auch im Großen. Wenn das Kind eine Wäscheklammer aufhebt, um dem Versuchsleiter zu Hilfe zu kommen, muss es selbstlos sein. Dabei kann das geborgene Kind zwischen Ego und Alter kaum unterscheiden. Nur lieblos aufwachsende Kinder spüren die Kluft zwischen sich und der kalten Umwelt.

Situationen von Natur aus gibt es für Menschen ohnehin nicht. Selbst Wolfskinder sind nicht von Natur aus, denn sie werden von bestimmten Tieren betreut und nicht von der Natur (vorausgesetzt, es gibt Wolfskinder). Schon der Säugling im Bauch empfindet die Stimmungslage seiner Mutter. Kinder sind immer abhängig von ihrer Umgebung. Menschen von Natur aus kann es nicht geben, denn ab dem Moment der Zeugung sind sie soziale Wesen.

Was haben Sozialwissenschaften mit Moral oder mit der deutschen Frage zu tun?

Hätten Deterministen Recht, könnten Menschen keine einzige praktische Frage lösen. Mit Evolutionsbiologie, DNA-Prägungen und Gehirn-Prädestination sind Demokratien schlechthin unverträglich. Wozu Berufungen auf abendländische Werte, wenn sie den Genen unbekannt sind? Wozu demokratische Spiele mit freien Wahlen, Debatten und Entscheidungen, wenn niemand frei handeln könnte?

Die Moderne steckt im Schwitzkasten zwischen zwei kontradiktorischen Extremen. Früher hätte man von Dialektik gesprochen. Auf der einen Seite soll der Zeitgenosse starr in die Zukunft blicken und nie mehr zurückschauen, auf der anderen von der frühesten Vergangenheit schlechthinnig festgelegt sein. Niemand soll die letzten Jahrhunderte erforschen, denn daraus könne man nichts lernen. Die Biologie prähumaner Zeit aber soll den gegenwärtigen, mit allen Wassern gewaschenen Fortschrittler 100%ig vorherbestimmen.

Ist er von Natur-aus festgelegt, sind wir in allen Dingen aus dem Schneider. Sind wir von Natur-aus gut, brauchen wir uns nicht anzustrengen. Die Natur selbst wird für uns sorgen. Sind wir von Natur-aus schlecht, können wir gar nichts zustande bringen. Denn unsre besten Vorsätze wird die böse Natur vereiteln. Oh wunderbare Natur, wie auch immer du seist: du erlöst uns von aller Verantwortlichkeit.

Bei Calvin war alles selbstbestimmte Tun und Machen die blasphemische Leugnung der göttlichen Omnipotenz.

Bei wissenschaftlichen Anbetern der darwinistischen Natur ist alles autonome Bemühen des Menschen eine Torheit. Hört endlich auf, euer Schicksal selbst bestimmen zu wollen.

Wie müsste der Mensch im Angesicht seines drohenden Suizids sich unter Einsatz aller Kräfte daran machen, sein apokalyptisches Schicksal abzuwenden! Warum verharrt er dennoch in Untätigkeit?

Weil von allen Seiten, vor allem aus der seriösen wissenschaftlichen Ecke auf ihn eingeschwatzt wird: lass es, du übernimmst dich, du kannst es nicht.

Nichts schreiender als die Kluft zwischen täglichen Appellen zur politischen Verantwortung – und dem Begleittext aus dem Untergrund: Würstchen, dein Schicksal ist festgelegt. Puste dich nicht so gewaltig auf, du verzwergter Möchtegernriese.

Und jetzt steht noch die deutsche Frage vor der Tür: wer von all diesen deutschen Giganten soll sie beantworten? Sie sind nicht einmal fähig, einen schnöden Flugplatz zu vollenden oder Schultoiletten sauber zu halten.

Ein weiterer Kontrast besteht zwischen der traditionellen Moralallergie im nationalen Bereich – und der Pflicht, die Amoral ausländischer Despoten nicht einfach hinzunehmen. Wer Putinversteher sein will, gilt als feige und unanständig, wer aber innenpolitische Moral einfordert, als überheblicher Moralist.

Die Grünen erfreuen sich wachsender Beliebtheit, doch ihre Gutmenschenparolen sollten sie lassen. Dabei will Habeck gar keine Moral, sondern Politik. Politik und Moral dürfen keine Einheit werden. Weshalb es hierzulande amoralische Politik und apolitische Moral gibt. Die geliebte Dialektik scheint hier irgendwo stecken geblieben zu sein.

In der FAZ hat Cem Özdemir die Deutschen aufgerufen, einen pragmatischen Kurs zwischen Moral und nationalem Interesse zu steuern:

„Dass weltweit der demokratische Frieden ausbricht, steht gegenwärtig nicht zu erwarten. Es wird also auch nicht helfen, mit dem erhobenen Zeigefinger um die Welt zu laufen und überall die Demokratie zu predigen. Demokratischer Missionarismus wird Gegenreaktionen hervorrufen. Umgekehrt kann die autokratische Mode unserer Tage nicht dazu führen, dass die Demokratien alles hinnehmen, was andernorts geschieht. Mord bleibt Mord und Folter bleibt Folter. Wer dabei wegschaut, verwandelt Realismus in Zynismus.“ (FAZ.NET)

Özdemir unterschlägt, dass menschenrechtlicher Missionarismus auch im Innenbereich nicht erwünscht ist. Wer Moral gegen Politik ausspielt, der hält Menschenrechte für überflüssige Girlanden. Wenn Missionarismus mit christlicher Gewaltmission zusammenhängen sollte, wäre er abscheulich. Gäbe es denn einen Missionarismus als überzeugende Vorbildlichkeit, als Einheit von Reden und Tun?

Der Westen, das unterschlägt der grüne Politiker, verrät seine demokratischen Parolen durch antidemokratisches Handeln. Wäre der Westen ein verlässlicher Täter seiner Reden, hätte er keine Schwierigkeiten mit Bekennermut vor Fürstenthronen.

Die Floskel mit dem erhobenen Zeigefinger gehört in die Abteilung Bigotterie. Wer etwas für richtig hält, zumal in Prinzipienfragen, der sagt es ohne Umschweife. Alles andere wäre Mummenschanz: Welt, verzeih, dass wir Demokratie für die humanste Regierungsform der Geschichte halten.

In Religionsfragen hat der Westen keinerlei Hemmungen, seine gottähnliche Unfehlbarkeit mit Feuer und Schwert, Geld und Technik, allen Völkern aufs Auge zu drücken. Wenn es überhaupt einen sinnvollen Wettstreit gibt, dann nur um die humansten globalen Lebensbedingungen. Wenn der Westen technisch oder ökonomisch alles überragt, hat er keine Probleme mit Siegesposen. Wenn es um humane Perspektiven für die Menschheit geht, wird er auf einmal genant.

Die Majorität aller Menschen in Ost und West ist tief durchdrungen von der Überlegenheit demokratischer Tugenden, von Gleichheit und Freiheit, Würde und Selbstbestimmung – und seien ihre Regimes noch so gewalttätig. Niemand wird als Untertan geboren. Wer weltweit Demokratie fordert, handelt stellvertretend für all jene, die zum Schweigen verurteilt sind.

Soll Deutschland militärisch aufrüsten, um „erwachsen“ zu werden? Soll es seine Verbündeten mit Waffen vollpumpen, um den Westen im Kampf um die Weltherrschaft nicht verloren zu geben?

Es wäre lächerlich, unter atomaren Supermächten mit Panzern und Kanonen mithalten zu wollen. In jedem ernsthaften Krieg wären wir die ersten Toten. Militärische Aufrüstung und Drohgebärden sind provokative Vorspiele zur Selbstzerstörung.

Wenn Deutschland seinen Anteil zur Humanisierung der Welt leisten will, so nicht mit Verachtung und Feindschaft, sondern mit einer Moral, die zwischen Innen- und Außenpolitik keinen Unterschied mehr macht.

In einer dezentralen Welt waren Kriege noch möglich, ohne den ganzen Planeten in Mitleidenschaft zu ziehen. Heute ist das unmöglich geworden. Wer heute als erster auf den Knopf drückt, wird kein Morgen mehr erleben.

Die wichtigste Vorbedingung zum Weltfrieden sind nicht Ausgrenzungen und diffamierende Rivalitäten, sondern – Annäherungen an eine globale Friedensmoral, die zwischen Freund und Feind nicht mehr unterscheidet.

Die klassische Begründung einer antagonistischen Binnen- und Außenmoral steht bei Machiavelli:

„Unsere Religion sieht das höchste Gut in Demut, Selbstverleugnung und in der Geringschätzung weltlicher Dinge. Die Religion der Alten dagegen sah es in der Größe des Muts, in der Kraft des Körpers und in allen Eigenschaften, die die Menschen möglichst tapfer machen. Unsere Religion will mehr die die Stärke des Duldens als die der Tat. Diese Regel hat, wie mir scheint, die Weltgeschichte den Bösewichtern ausgeliefert, die ungefährdet ihr Unwesen treiben können, denn sie sehen, dass die große Mehrheit der Menschen, um ins Paradies einzugehen, mehr darauf bedacht ist, Schläge zu ertragen, als zu rächen.“

Machiavelli irrt in manchen Punkten. Ihren Schafen predigte die Kirche Demut und Gehorsam. Wenn sie Kreuzzüge veranstaltete, rief sie zum Gegenteil auf. Die Alten, jedenfalls die in Griechenland, waren in ihrer Urzeit tapfer und kriegerisch. Seit Erfindung der Demokratie wurden Debatten und kosmopolitische Menschenrechte zu Kriterien philosophischer Friedensfreunde.

Rom ließ sich anfänglich von diesen griechischen Ideen leiten. Erst als es zur konkurrenzlosen Weltmacht aufgestiegen war, verlor Philosophie ihre Bedeutung – und das antinomische Christentum übernahm das Erbe: nach unten und innen Demut und Gehorsam; gegen Feinde hingegen Inquisition, Hexenprozesse und missionarischer Imperialismus.

Die Nationen übernahmen diese Doppelmoral: nach innen strenge Moral, nach außen Mord und Totschlag. Und eben dieses Gesetz, räsoniert Michael Stürmer, gelte noch heute. Weshalb Deutschland zur militanten Weltgröße werden müsse.

Wenn es einen sicheren Weg ins Verderben gibt, dann den einer wachsenden Vertrauenslosigkeit, die zur Feindschaft ausartet.

Die Alternative wäre: Wer Frieden will, muss Frieden schaffen.

Die gegenwärtige Aufrüstung rund um den Planeten muss gestoppt, die konkurrierende Erbarmungslosigkeit der Wirtschaft beendet, die menschenfeindliche Überwachungstechnik eingestellt werden.

Die Natur, die uns prägt, ist nicht selbstzerstörerisch, der Geist, den sie uns verlieh, nicht einsichts- und willenlos.

Es war ein deutscher Aufklärer, der den verwegenen Satz sagte: Wir können, denn wir sollen.

 

Fortsetzung folgt.