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Sofort, Hier und Jetzt XXVIII

Sofort, Hier und Jetzt XXVIII,

Sprache ist das Gedächtnis der Erfahrung. Regelmäßig stürzt die gottgewordene Moderne den babylonischen Turm, das Archiv ihrer Erfahrung, um ihre Sprache zu löschen und eine neue zu erfinden. Sie will tabula rasa herstellen, um von ihrer Biografie nicht befleckt zu werden.

Die von allen Erfahrungen gereinigte Tafel entspricht dem Orwell‘schen Wahrheitsministerium, das den Menschen von den Sünden der Vergangenheit befreit und in den Zustand der Unschuld zurückversetzt, um mit totalitären Wahrheiten neu beschriftet zu werden.

Wer die Macht besitzt, die Urschrift der Erfahrung mit neuer Schrift zu überdecken, muss nicht mehr zur ordinären Lüge greifen, um Unwahrheiten in die Welt zu setzen.

Das Ministerium der Wahrheit entspricht dem zürnenden Gott, der den babylonischen Turm zerstörte, indem er die Sprache der Menschen verwirrte.

„Dieses Ministerium befasst sich mit der Vergangenheit beziehungsweise mit deren ständiger Manipulation. Sämtliche Bücher, Filme, Schriften, Zeitungen, Tonaufnahmen etc. aus vergangener Zeit werden hier ständig revidiert und an die aktuelle Linie der Partei angepasst, sodass laut allen Aufzeichnungen, die existieren, die Partei immer recht hat und immer recht gehabt hat. „Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten – dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. Wer die Macht über die Geschichte hat, hat auch Macht über Gegenwart und Zukunft.“

Trump versucht es noch auf die altmodische Art: er lügt, dass jeder es merken kann, der es merken will. Die modernen Beherrscher der Sprache und des Fortschritts machen es geschickter. Unauffällig verändern sie die Sprache, ersetzen klare

 Begriffe durch irrlichternde und fordern die Menschen auf, sich täglich neu zu erfinden, indem sie das Archiv ihrer Erfahrungen zerstören.

„Da fuhr der HERR hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, daß der HERR daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreut von dort in alle Länder.“

Die Verwirrung der Völker entsteht nicht durch unterschiedliche Sprachen. Am meisten missverstehen sich die, die dieselbe Sprache sprechen. Als es noch Denker gab – lang, lang ist‘s her –, bestand ihre wichtigste Aufgabe im Übersetzen derselben Sprache in dieselbe, um die Verwirrung der Menschen rückgängig zu machen.

Intellektuelle und Edelschreiber, die heute die Stelle der Denker eingenommen haben, denken nicht daran, Dolmetscher innerhalb einer Sprache zu sein. Intellektuelle erhöhen die Verwirrung, indem sie ständig neue Geschichten erzählen: ich habe keine Wahrheit, ich habe nur Geschichten zu erzählen. Geschichten sind neue Kapitel der Heilsgeschichte, die ständig „weiter erzählt werden muss“.

Edelschreiber reportieren nur Fakten, Fakten, Fakten. Die Worte, mit denen sie Fakten übermitteln, sind ihnen gleichgültig. Gleichgültig unter dem Aspekt der Wahrheit. Nicht gleichgültig unter dem Aspekt ihrer marktschreierischen Dienste. Wenn schlechte Wahrheiten die besten sind, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, muss die reißerische Wirkung der Sprache unablässig erhöht werden.

90% der Berichterstattung über die gegenwärtigen Beziehungsprobleme der Regierung wären überflüssig, wenn ihre eigene Einschätzung zuträfe: nichts wird sich ändern durch die Querelen. Dieses Nichts aber muss opulent dargestellt werden. Rationale Gazetten ohne Skandalisierungsfaktor kämen aus mit schlichter Empirie und schnörkelloser Meinung.

Der Gott der Sprachverwirrung will Macht über die Menschen. Wer Menschen beherrschen will, muss ihre Verständigung zerstören. Niemand soll niemanden verstehen, Sprache darf nicht dem Brückenschlag dienen. Sprache wird zum Rohrstock, um Andersdenkende, Fremde, Feinde und Verbrecher durchzuprügeln.

Wer das Böse verstehen will, macht sich verdächtig, Sympathisant des Bösen zu sein. Da das Böse nur überwunden werden kann, indem dessen Entstehungsbedingungen durch Verstehen zerstört werden, ist klar, was Gegner des Verstehens beabsichtigen: sie wollen das Böse erhalten, damit sie umso besser erscheinen, je abscheulicher jenes ist.

Hier entsteht das beliebte deutsche Gesellschaftsspiel: Kannitverstan. Wer nichts versteht, darf sich als Guter aufblähen – ohne Gutmensch zu sein. Gutmenschen glauben an das Gute, ihre Verächter an das Böse – der anderen, um selbst gut zu sein, ohne sich Mühe zu machen.

Sind sie denn nicht gut, wie sie sind? Haben sie es nötig, besser zu werden? Unter Gutsein verstehen sie Heiligsein, und Heilige sind ihnen ein Gräuel. Sie bevorzugen die stabile Mittellage: auf keinen Fall böse, auf keinen Fall besser als die Mehrheit der Gesellschaft. Denn das wäre moralisierende Eitelkeit.

Wer es zu etwas gebracht hat, kann kein verwerflicher Mensch sein. Als Repräsentant der Gesellschaft kann er unmöglich böse sein (non posse peccare). Im Gegensatz zum Bodensatz der Gesellschaft, der zum Gutsein schlechthin unfähig ist (non posse non peccare).

Wir müssen zwei Arten von Gutsein unterscheiden. Das relative Gutsein bezieht sich auf sein Gegenteil und hält sich für gut, wenn es nicht böse ist wie der Abschaum der Gesellschaft. Das autonome Gutsein misst sich allein an Kriterien des Guten, die es selbst durchdacht und für gut befunden hat.

Dem fremdbestimmten Guten steht der autonome Gute gegenüber. Der autonome Gute muss, äußerlich gesehen, nicht besser sein als der heteronome. Er muss keine Mutter Theresa sein und wäre doch der Vernünftigere, weil er sich nicht autoritären Bewertungen unterwirft, sondern sich mit eigenen Augen betrachtet. Seine Selbstbestimmung ist keine dogmatische Unfehlbarkeit. Sie hat sich im demokratischen Dialog herausgebildet und im eigenen Tun bewährt.

Wie autonom kann eine Gesellschaft sein, die sich nur an schlimmen Zeitgenossen misst und sie als Teufel verurteilt – anstatt die Frage zu stellen: hatte ich nicht einfach das größere Glück, in humaneren Verhältnissen aufzuwachsen als jene, die ihr erlittenes Unrecht in Abscheuliches verwandeln mussten? Der Autonome weiß, dass nichts Menschliches ihm fremd ist, dass er unter unglücklicheren Umständen so böse hätte werden können wie die Geächteten.

Humane Gesellschaften erkennt man am Umgang mit dem Bösen. Am Ausmaß des Verbrechens erkennen sie den Humanitätsgrad ihrer Nation. Ein Hauptziel ihrer Politik ist die Frage: Wie muss eine Gesellschaft gestaltet sein, dass sie ihren Mitgliedern die Chance gibt, autonome Menschen zu werden?

Das setzt den Glauben voraus: das Böse ist weder angeboren, noch ist es zufällig. Es hat erkennbare Ursachen. Die Ursachen liegen am Gesamtzustand der Gesellschaft, der die Familien prägt, in denen Kinder erzogen und geprägt werden.

Wollt ihr bessere Menschen? Dann macht bessere Politik. Sich unabhängig vom gesellschaftlichen Milieu zu entwickeln, erfordert das Glück unabhängiger Verhältnisse – die umso unwahrscheinlicher sind, je zwanghafter die Gesellschaft ist. Es braucht viele Jahrhunderte eines sich befreienden Geistes, um Gesellschaften von den Fesseln einer religiösen Despotie zu befreien.

Deutschland hat diesen Kampf der Selbstbefreiung mit wenig Erfolg gekämpft. In einer lutherischen Nation, in der jede Obrigkeit – auch die verbrecherischste – von Gott ist, muss der kleinste Versuch der Selbstbefreiung eine Blasphemie bedeuten, die mit höllischen Strafen geahndet wird. Zweimal mussten sie einen Weltkrieg verlieren, um einen neuen Anfang zu wagen.

Der erste Versuch misslang, weil die Kräfte traditioneller Untertänigkeit zu übermächtig waren. Den zweiten Versuch erleben wir gerade. Er war das unverdiente Geschenk des Westens für unsere Völkerverbrechen. Hätte der Westen die deutschen Verbrecher so dämonisiert, wie die Deutschen heute ihre wesentlich harmloseren Rechtsbrecher, hätten sie niemals die Chance der Reeducation erhalten.

Deutschland hat allen Grund, dem Westen dankbar zu sein, was nicht bedeutet, die einstigen Wohltäter unkritisch zu sehen. Im Gegenteil: die Bestätigung einer freien Erziehung besteht in der Fähigkeit des Erzogenen, seinen Erzieher mit autonomen Augen wahrzunehmen.

Was für den Westen gilt, gilt auch für das Verhältnis von Deutschland zu Israel. Wenn Täter beweisen wollen, dass sie ihre Lektion gelernt haben, müssen sie alle Nationen an menschenrechtlichen Maßstäben beurteilen – auch das heilige Land. Shimon Steins und Moshe Zimmermanns Kritik an der Selbstherrlichkeit der Deutschen, eine Wiederholung ihrer Vergangenheit sei ausgeschlossen, war die Aufforderung, Israel unter gleichen Gesichtspunkten zu betrachten.

Wenn bedingungslose Loyalität unkritisch sein soll, ist sie verwerflich. Merkels Proforma-Kritik Israels bei stillschweigender Duldung seiner Besatzungspolitik – ist verwerflich. Merkel hat dazu beigetragen, die moralische Autorität des Westens in aller Welt zu beschädigen.

Die moralische Integrität einer kapitalistisch geschundenen Bevölkerung kann nicht unbeschädigt sein. Dennoch ist sie nicht so vollständig beschädigt, dass sie im Unbewussten nicht ahnte, welche Verstöße das eigene Land gegen die Humanität begeht.

Das momentane krisenhafte Grummeln ist nicht nur die Folge äußerer Benachteiligung. Es beruht auf der Verletzung jener Prinzipien, die jedes Kind einmal für richtig hielt. Der Prozess des Erwachsenwerdens wurde von den Heranwachsenden als moralische Niederlage erlebt. Keine Autorität war bereit, diese Empfindung zu verstehen. Die Niederlage des idealistischen Kindes musste in einen Sieg des realitätstüchtigen Erwachsenen verfälscht werden.

Die Verstümmelung des kindlichen Moralbewusstseins in selbstherrliche Überlegenheit beim ökonomischen Wettkampf bleibt niemandem in den Kleidern hängen. Die seelische Verzweiflung, Unrecht in Recht zu fälschen, hat keine Kraft mehr. Das vergewaltigte Kollektiv-Es rebelliert und legt Protest ein gegen ein Über-Ich, dessen Aura grundlegend ramponiert ist.

Urfragen tauchen schemenhaft am Horizont auf: Welche Werte vertritt der Westen wirklich? Welche predigt er – tut aber das Gegenteil, als ob das kein Problem wäre? Die Selbsterkenntnis des Westens ist auf den Tiefpunkt gesunken.

Die Deutschen schwärmen touristisch in alle Welt und kehren tonlos zurück. Sie haben wunderbare Landschaften gesehen, aber keine Menschen, von denen sie die Wahrheit hören wollten. Sie haben vortreffliche Gastgeber erlebt, aber keine Kritiker des bigotten Westens. Sie bringen Geld in die Länder ihrer früheren imperialen Herrschaft, wollen aber keine politische Meinung als Gegenleistung hören. Sie leiden an globaler Taubheit, die sie mit nationaler Überheblichkeit überdecken.

Die Solidarität der Menschheit kann nicht dadurch zustande kommen, dass die einen als Gönner ins Land kommen, um die Kritiklosigkeit der anderen zu erkaufen. Hätte Deutschland sich nicht dem neoliberalen Triumphzug unterworfen, hätte es die Chance ergreifen können, die bilateralen Verhältnisse mit den Völkern der Welt in Geschichte und Gegenwart zu erörtern.

Der deutsch-französische Austausch war nie ein Ereignis in den öffentlich-rechtlichen Kanälen, in denen Delegationen beider Länder einen ernsthaften Dialog hätten führen können. Jeden Monat könnte ein anderes Land seine Sicht auf die Deutschen und vive versa in beide Nationen ausstrahlen.

Wenn Griechen der Meinung sind, die Deutschen wären ihnen noch immer Reparationen für NS-Untaten schuldig: warum werden diese Gespräche nicht öffentlich geführt? Wenn Hereros anmahnen, die Deutschen seien an ihrem Volk schuldig geworden, warum wird ihnen keine Gelegenheit gegeben, ihre Vorwürfe in die Kameras zu sprechen?

ARD und ZDF sind zu deformierten Eventkanälen geworden. Sie lassen sich von der Gemeinschaft subventionieren, um politische Denkanregungen anzubieten, doch immer mehr imitieren sie das Allotria ihrer privaten Konkurrenten.

Die folgenreichsten Entscheidungen der Politiker fallen hinter Mauern. Wenn die EU zusammenkommt, um über Flüchtlingsprobleme oder den Brexit zu sprechen: Vorhang zu und alle Fragen offen. Niemand kann sich aus eigener Anschauung ein Bild machen, wie die Mächtigen miteinander umgehen. Die Medien verbreiten Schlüssellloch-Gerüchte. Nichts Genaues weiß man nicht.

Wer es nötig hat, sich derart zu verstecken, um sich wichtig zu machen: was glaubt der, wie die Völker über sie denken? Wären Konferenzen die Bühnen aufrechter Streitigkeiten, wären gewählte Politiker echte Vorbilder in Demokratie. Doch immer mehr Vorgänge werden intra muros abgehandelt und die Öffentlichkeit ausgeschlossen.

Je durchsichtiger der Untertan durch Netzüberwachung werden muss, je intransparenter werden die Vorgänge auf den hohen Etagen: ein weiterer Punkt der aufsummierten Unzufriedenheit „mündiger“ Untertanen.

Demokratie ist ein transparentes Politsystem. Die Diplomatie heimlicher Beschlüsse muss reduziert werden. Polis findet auf der Agora statt. Alles andere ist Untergangsgemauschel. Die Gewählten haben nicht das Recht, die Interessen ihrer Völker zu vertreten und so tun, als ginge es die Völker nichts an, wie sie das tun.

Wie berichten die Medien? „Schwierige Verhandlungen über den Brexit – doch Merkel bleibt gelassen.“ Mit solchen Selbstnarkotisierungen wird das Publikum in den Schlaf gesungen.

Wenn man das TV-Geschehen als internes Psychogramm einer Nation betrachtet, ist das Programm einheimischer Sender eine Vollkatastrophe. Selbst, wenn es um reale Weltuntergangsszenarien geht, bleiben die Sender gelassen – wie ihre Kanzlerin. Nur nicht nervös werden und dem Publikum ein schlechtes Gewissen machen.

Wer hat das Recht, andere zu erziehen, sich moralisch über sie zu erheben? Sie glauben erst an die Klimakatastrophe, wenn der Sommer ihnen den Pelz verbrennt, Unwetter ihre Straßen überfluten, Äcker vertrocknen und Meere übers Ufer treten.

Der Dämonisierung des internen Bösen entspricht die wachsende Ablehnung anderer Nationen, auch wenn sie befreundete sind. Jan Fleischhauer macht die Briten nieder, dass man Hassgesänge deutscher Helden gegen britische Krämer zu hören glaubt. Kritik muss sein. Aber nicht im Stil einer Überheblichkeit, die die britische noch übertreffen muss:

„Wie sich eine Nation zum Trottel macht. Jede Nation, könnte man hinzufügen, sieht ab einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte dem Verfall entgegen – die eine langsamer, die andere schneller. Wer wissen will, was ein paar Jahrhunderte Inzucht anrichten können, muss nur über den Ärmelkanal schauen.“ (SPIEGEL.de)

Dass die Aufklärung der Neuzeit aus England kam, hier die ersten demokratischen Versuche unternommen wurden, die Aufhebung der Sklaverei begann, die griechische Demokratie ihre ersten Bewunderer fand: kein Ton der Anerkennung. Nur herablassender Spott und Verachtung gegen ein heruntergekommenes ehemaliges Weltreich.

Das Schlimme ist: die Deutschen wissen nichts über befreundete Staaten und sie wollen nichts wissen. Selbst wenn es um europäische Angelegenheiten geht, haben hiesige Talkshows kein Interesse an ausländischen Kollegen. Die von Fleischhauer vorgeworfene geistige Inzucht ist – deutsche Realität.

Der Westen hat versagt. Er brachte der Welt großartige Dinge wie Demokratie, Menschenrechte und Aufklärung. Doch stets im Mantel des Gegenteils: der Eroberung durch Gewalt, Technik und Reichtum. Der Missklang wurde vor der Welt nie aufgeklärt und aufgearbeitet.

Glaubt jemand, dass die grandiose Selbstbelügung, diese Bigotterie im planetarischen Ausmaß, auch bei den Tätervölkern ohne Spuren blieb? Niemand ist so pervers und amoralisch, dass er keine dumpfen Schuldregungen darüber spüren würde.

Freud nannte Kriminelle „Verbrecher aus Schuldbewusstsein“. Abnorme Taten werden vollzogen, „weil sie verboten, weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war.“ Wie ist das zu verstehen?

Verbrechen sind Empörungen des Unbewussten gegen unerfüllbare Forderungen des Über-Ichs. Hier rebelliert jemand gegen eine unerträgliche Überforderung. Nicht das konkrete Opfer ist Objekt der Aggression, sondern die Instanz des göttlich Unfehlbaren, die der unterdrückte Mensch nicht länger erträgt. Der Verbrecher fühlt sich erleichtert, wenn er gegen unmenschlich hohe, spitzfindige oder sinnenfeindliche Normen rebelliert. Der Rebell fühlt sich frei, wenn er gegen Pflichten verstößt, die ihn zum Sklaven eines Allmächtigen erniedrigt haben.

Zwischen Gehorsams- und Rebellionsphasen pendelt die abendländische Entwicklung. Von hier kommen die ewigen Fortschritts- und Rückschrittsschwankungen: Der Mensch duckt sich, um den Lohn des Gehorsams einzustreichen. Dann regrediert er im Zorn, da er vergeblich auf den Lohn wartete. Lieber kassiert er eine ewige Strafe als weiterhin den getretenen Hund zu spielen.

In einer autonomen Kultur wären irrationale Schaukelbewegungen ausgeschlossen. Wer sich selbst das Gesetz des Verhaltens gibt, für den sind Ich und Über-Ich identisch. Der besäße auch kein ausgebreitetes Es, denn er hätte nichts zu verdrängen. Wo Es war, soll Ich werden, hieße dann: wo Ich sich selbst die Normen gibt und sich für kompetent erklärt, sie durch Versuch und Irrtum zu lernen, der muss kein Versagen fürchten, das er vor sich selbst verstecken müsste – und eines Tages flöge ihm seine ganzes Scheitern um die Ohren.

Die tägliche Neuerfindung, die tabula rasa, die Katharsis als Rückkehr zur weißen Leinwand: all diese Tauf- und Wiedergeburtsrituale zur Rückgewinnung des Gartens Eden müssen wir begraben.

Das „Reinigen der Leinwand“ ist für Popper die Methode des totalitären Staates, um eine ideale Gesellschaft mit Gewalt einzurichten:

„Das Reinigen der Leinwand muss die bestehenden Institutionen und Traditionen ausrotten. Es muss reinigen, austreiben und töten. Liquidieren ist die abscheuliche moderne Bezeichnung dafür.“ (Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd 1)

Auch die Moderne will eine ideale Gesellschaft durch Fortschritt erreichen. Nicht mit militanter Gewalt, aber mit der Macht einer anonymen Sprache, die eine inhumane Utopie als Fortschritt propagiert. Diese Sprache beraubt uns aller Erfahrungen vieler Jahrtausende, indem sie uns eine zauberhafte Zukunft vorgaukelt.

Das Blöken des Pöbels gegen die Fortschrittsmagie der Mächtigen ist die Empörung sprachberaubter Massen gegen den messianischen Irrsinn selbsternannter Menschheitsführer. Der restringierte Sprachcode der Wortlosen könnte wahrer sein als die elaborierte Verführungssprache der Futuristen.

Auf Deutsch: Wer Begriffe ständig neu besetzen kann, hat noch lange keine Macht über die Wahrheit.

 

Fortsetzung folgt.