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Sofort, Hier und Jetzt XX

Sofort, Hier und Jetzt XX,

Wolfgang Schäuble hielt eine politische Grundsatzrede, die Kanzlerin Merkel längst hätte halten sollen – wozu sie jedoch unfähig ist. Bei einem Konzert des WDR-Symphonieorchesters, auf dem Beethovens 5. Sinfonie (die Schicksalssinfonie) erklang, sprach er über – das Schicksal. (WDR.de)

Begriffe wie Fatalismus oder Kausalität wären Merkel nie über die Lippen gegangen. Die Spezialistin für Leicht- und Seichtsprache hätte eher ihre Redenschreiber entlassen, als mit exaltierten Begriffen hausieren zu gehen. Ihre Nullsprache, an die sie sich gewöhnte, hält sie für volkstümlich. Von ihrem Vater, dem Kanzelprediger, lernte sie, dem Volk aufs Maul zu schauen – aber ohne Luthers Derbheiten. „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“: Kohls Lieblingsspruch wäre mit ihrer stolzen Demut unverträglich. Sündenstolz kennt viele Maskierungen.

Eliten halten das Volk für begriffsstutzig, weshalb sie es mit einer scheinbar volksverträglichen Sprache für dumm verkaufen. Doch das Volk ist nicht dumm, schon gar nicht von Natur aus. Die Bildungsinstitute der Republik, die für den Aufstieg fit machen sollen, halten es nicht für notwendig, die sprachliche Kluft zwischen Oben und Unten zu überbrücken. Die verschiedenen Klassen der Demokratie sollen nicht nur durch Wohn- und Geldverhältnisse, sondern durch verschiedene Bimbessprachen für immer getrennt bleiben.

Hochgerüstete Intellektuellensprache hält Merkel für arrogant – und wirkungslos. Denkerische Leistungen traut sie dem Volk nicht zu. Wer ständig am Volk vorbei agiert, will wenigstens den Eindruck erwecken, als wolle er die Untertanen sprachlich mitnehmen. Wie Gottes’ Sohn sich zum Menschen herabließ, damit das Wort Fleisch werde, so müssen sich erwählte und gewählte Politiker zum Menschen auf der Straße herablassen, um ihnen Gnade und Gunst zu erweisen. Merkel hält nichts von Philosophie und beschränkt sich auf die Kenntnis

positivistischer Fakten und Abläufe. Eure Rede sei Jaja und Neinnein, alles, was darüber ist, ist von Übel.

Im Schutz eines Konzerts durfte der Bundestagspräsident gegen ein Tabu der Politik verstoßen: vor allem keine Philosophie. Schäuble hätte seine Rede auf keinem CDU-Parteitag halten dürfen. Es musste schon ein erlesenes Publikum sein, um die Grundlagen der deutschen Politik eher zu verstecken als der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Positivistische Philosophen – ein Widerspruch in sich – waren die Bodyguards siegreich aufkommender Kapitalistenklassen. Worüber man nicht reden kann, darüber soll man die Klappe halten, hatte Wittgenstein deklariert – und sein entfernter Verwandter Friedrich von Hayek nahm ihn beim Wort und erklärte das Marktgeschehen für unerklärbar. Über Unerklärbares kann man nicht reden, also soll man darüber schweigen.

Weswegen alle ökonomischen Lehrstühle dazu übergegangen sind, nur noch zu rechnen. Nachdenken und Debattieren über das Berechnete ist bei ihnen verboten. Es gilt das theologische Motto: ich glaube, weil es absurd ist. Bei den Gottesmännern ist das Himmlische absurd, bei den Geldmännern – der Bimbes. Woher kommt, dass Bimbes der Himmel für Geldmänner geworden ist.

Hayek definierte seinen Neoliberalismus als Individualismus. Jeder Einzelne kämpft gegen Jeden. Seine damaligen Feinde – Nationalsozialismus und Sozialismus – waren Kollektivismen. Der Einzelne musste sich dem Kollektiv unterordnen. Hören wir seinen Biographen Hans Jörg Hennecke:

„Den Individualismus charakterisiert Hayek als „demütig“, weil er sich darauf beschränkt, die Regeln zu verstehen, „nach denen die Bemühungen der Einzelnen zusammengewirkt haben, um unsere Zivilisation hervorzubringen“, und der bescheiden dazu hilft, „Bedingungen schaffen zu können, die weiterer Entwicklung günstig sind.“ Dagegen zielt die Hybris des Kollektivismus auf eine bewusste Lenkung aller Kräfte der Gesellschaft und etabliert eine Einstellung, die Hayek als Münchhausen-Theorie entblößt: So entspringt die gemeinsame Idee, dass der menschliche Verstand sozusagen daran ist, sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Die Hybris der Überschätzung der Kräfte der bewussten Vernunft führt zur Nemesis ihres Verfalls.“

Alles, was nach bewusster Planung klingt, nach Machbarkeit, ist für Hayek ein Graus. Der Markt ist für ihn ein mysteriöses Wesen, das von keinem Menschen hätte entworfen und erdacht werden können. Reichtum und Armut werden nicht nach gerechter Leistung verteilt, sondern nach „Zeit und Zufall“ – wie Hayek seine Lieblingsstelle im biblischen Prediger zitiert.

„Es ist eine Tendenz des modernen Denkens, die auf einem tatsächlichen Irrtum, nämlich der Vorstellung beruht, dass ein mit Verstand begabter primitiver Mensch die Fähigkeit besaß, unsere Kultur und all ihre Einrichtungen im Dienste seiner vorgefassten Ziele zweckmäßig zu gestalten.“ (Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit)

Hayek ist Mitglied der Gegenaufklärung, somit ein Feind der Aufklärung, die der überheblichen Meinung sei, mit Hilfe der Vernunft könne sie ihr Leben planmäßig und rational gestalten. Alles Planbare und Machbare müsse des Totalitarismus verdächtigt werden. Anders als mit Gewalt könne es nichts Beherrschbares geben.

„Der Kollektivismus der Massen wurde von denen begrüßt, die hofften, mit ihrer Hilfe die Unvoraussehbarkeit individueller Handlungen und Reaktionen zu eliminieren. So sah schon Enfantin „die Zeit herannahen, in der die Kunst, die Massen in Bewegung zu setzen, so vollkommen entwickelt sein wird, dass der Maler, der Musiker, der Dichter die Macht haben werden, die Massen mit der gleichen Gewissheit zu erschüttern, mit der der Mathematiker ein geometrisches Problem löst oder der Chemiker eine Substanz analysiert.“

Jede Hoffnung, in einer vernünftig geplanten Welt, die Zukunft zu bestimmen und den Zufall auszuschließen, münde unausweichlich im Totalitären. Auch Hayek bezieht sich auf Hölderlins Satz: „Immer hat das den Staat zu Hölle gemacht, das ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Hölderlin meinte seinen Satz im theologischen Sinn, nicht in symbolischer Analogie. Er verehrte die heitere Freiheit der Griechen, da sie jede Priesterherrschaft ausschloss.

Demut und Bescheidenheit sind Kehrseiten des grenzenlosen, omnipotenten Neoliberalismus. Einerseits die Sucht nach unermesslicher Macht, andererseits die demütige Überzeugung, menschliche Vernunft sei nicht ausreichend, um eine utopische Gesellschaft zu errichten. Technik und Wirtschaft sprengen alle Grenzen, das Menschliche bleibt unfähig und krüppelhaft. Als moralischer Versager ist der Mensch gezwungen, zum technischen und ökonomischen Giganten werden. Auf irgendeinem Gebiet muss der Mensch gottähnlich werden.

Womit klar ist, dass Merkels Demut christlich und neoliberal zugleich ist. Deutsche Medien gehen davon aus, dass Menschen sich nie geben, wie sie sind. Bei Merkel machen sie eine Ausnahme: sie ist, wie sie sich gibt. Zwischen Sein und Schein gibt es bei ihr keine Differenz. Wie Maria zugleich Jungfrau und Mutter war, kann Merkel machiavellistische Politikerin – und Unschuldslamm zugleich sein.

Geht’s um fromme Eigenschaften, versagt die gewöhnliche Ideologiekritik. Normale Politiker erkennt man am Rollenspiel, das der Öffentlichkeit immer anderes vorgaukelt, als es ist. Die Freud‘sche Unterscheidung von Über-Ich, Ich und Es gilt nur für Otto Normalverbraucher: die heilige Mutter bleibt von solchen Spielchen unberührt. Wie sie sich gibt, ist sie; wie sie ist, gibt sie sich, Gott helfe ihr, sie kann nicht anders.

Homo sapiens hat den Wettkampf mit dem homo technicus und oeconomicus verloren. Seine Weisheit ist ein Jammerbild, seine „instrumentellen“ Fähigkeiten wachsen ins Unermessliche. Wenn der christliche Schöpfer aus Teufel und Gott besteht, ist sein teuflisches Element das Moralisch-Politische, sein göttliches besteht aus der Fähigkeit, sich zum unsterblichen Herrn des Universums aufzuschwingen. Wäre es umgekehrt und der Mensch besäße die Fähigkeit, sich moralisch zum wahren Menschen zu erheben, könnte er auf illusionäre Träume von Macht und Unsterblichkeit verzichten.

Die Sucht nach technischem Gigantismus entspringt dem Gefühl moralischen Versagens. Der Mensch muss gottähnlich sein. Ist er es nicht in Klugheit und ethischer Weisheit, muss er den Mars bezwingen und mit Pillen unsterblich werden.

Dieselbe Problematik sieht Hannah Arendt bei Montesquieu. Der Erfinder der Gewaltenteilung war Aufklärer. Aufklärer glaubten an die moralische Perfektion des Menschen in zukünftigen Zeiten. Sie sahen keinen Grund, in dieser Hinsicht den Menschen an die Leine zu legen. Der Mensch kann Herr seiner Geschichte werden – durch moralische Vervollkommnung.

Und nun das Erstaunliche: Montesquieu vertrat die Meinung, die Tugenden des Menschen müssten in Schranken gehalten werden. Warum denn? „Wie kann es des Guten zuviel geben?“ (Über die Revolution)

Tugend und Vernunft hatten ihren einstigen Zustand der Ohnmacht verlassen und waren selbst zu Mächten geworden. Alles aber, was Macht ist, muss begrenzt werden. Macht ohne Grenzen tendiert stets zur Allmacht, die unter allen Umständen verhindert werden muss. Mit seiner Forderung nach Begrenzung der Tugend und Vernunft wollte Montesquieu den Menschen nicht weniger vernünftig und tugendhaft machen. Das wäre eines Aufklärers unwürdig gewesen. Im Gegenteil: gerade um seiner Moral willen sollte er auf deren Vervollkommnung verzichten. Eine vollkommene Tugend sei eine Macht, der niemand widerstehen könnte. Das notwendige Gleichgewicht der Demokratie wäre verloren.

Warum wurde Moralist Robespierre zum totalitären Despoten? Weil er keine Begrenzung seiner Tugend akzeptierte. Hätte er Montesquieus Meinung gekannt, hätte er ihm ein kaltes Herz unterstellt. Im Mitleid sah Hannah Arendt das entscheidende Motiv zur Revolution.

Das leidenschaftliche Mitleiden mit den Schwachen war Zentrum der politischen Theorie Rousseaus, das Robespierre übernommen hatte. Jesu Vorbild spielte hier die entscheidende Rolle – obgleich die Französische Revolution christentumskritisch war.

Wie ist das zu erklären? Griechenland war wohl das Vorbild der Franzosen, aber nicht das demokratische Athen – sondern das totalitäre Sparta. Mitten im Furor der Freiheit idolisierte Rousseau den Faschismus des Soldatenstaates.

Hier gibt es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Frankreich und Deutschland. Die englische Germanistin Eliza M. Butler warf, in ihrem Buch von 1948 „Deutsche im Banne Griechenlands“, den deutschen Geistesriesen vor, sich in eine Überidentifikation mit den Hellenen geflüchtet zu haben, die einer Tyrannei gleichkam. Das mit Inbrunst geschriebene Buch – vermutlich eine Revanche für Vorwürfe der Deutschen im Ersten Weltkrieg, Engländer seien Krämer, Deutsche hingegen Helden – ist auf der ganzen Linie missglückt. Von Winkelmann über Goethe, Schiller, Hölderlin bis Nietzsche waren alle deutschen   Graecomanen nur vom Anfangs-Mythos der Griechen gefangen, vom Schönen, Lustvollen und scheinbar Heiteren. Die demokratische Aufklärungsepoche – Nestle sprach vom Gang des „Mythos zum Logos“ – mit Vernunft und Freiheit nahmen die apolitischen Deutschen nicht zur Kenntnis. Schon gar nicht die Erfindung der Menschenrechte in den sokratischen Schulen der Stoiker und Kyniker. Die deutsche Graecophilie war ästhetisch gestimmt, nicht philosophisch, schon gar nicht politisch. Nicht nur die Franzosen, auch die Deutschen verdrängten die Erfindung der griechischen Freiheit aus ihrer kollektiven Erinnerung.

Nur England empfing wesentliche Anregungen von der griechischen Aufklärung, um ihre eigene demokratische Entwicklung zu stärken. Karl Löwith analysiert in seinem Aufsatz „Moral oder Manieren“ das Ideal des englischen Gentleman.

„Das Ideal des Gentleman ist nicht christlichen Ursprungs. Seine Maximen sind nicht nur typisch für Konfuzius, sondern allen rationalen Sittenlehren gemeinsam; sie ist am klarsten in der klassischen Ethik der Griechen entwickelt. Es ist das Verhängnis der christlichen Ethik, dass ihre extremen Forderungen nach Liebe, Demut und Selbstaufopferung mit Gewohnheiten und Tugenden nicht zu vereinbaren waren. Die genaueste Verkörperung des griechischen Gentleman haben wir von Aristoteles: Er ist megalopsyches, also großmütig, großzügig und hochherzig. Der griechische Gentleman ist der kaloskaiagathos, der Gute und Schöne. Ursprung des Gewissens ist für den Gentleman nicht der Wille Gottes, sondern das Diktat seiner eigenen kultivierten Verfassung. Gemessen an den Maßstäben des Paulus und Augustinus sind all diese Tugenden nichts als glänzende Laster.“

Nehmen wir noch den englischen Althistoriker George Grote hinzu, der die athenische Polis als Vorbild der englischen Demokratie betrachtete, erscheint Butlers Vorwurf unsinnig. Die Engländer waren nicht minder von griechischen Urbildern fasziniert wie Deutsche und Franzosen. Aber weder von Sparta, noch vom Schönen des Mythos, sondern von der athenischen Polis. Ein wesentlicher Grund, warum die englische Demokratie zum Vorbild aller anderen Demokratien wurde.

Warum Jesu Mitleid plötzlich bei Rousseau auftauchte, hängt mit dessen unseligem Vorbild Sparta zusammen. Mitleid hatten die abgehärteten Spartiaten mit niemandem, nicht mal mit sich selbst. In diese Nische schlüpfte der christliche Erlöser, den Rousseau zum großen Mitleidenden stilisierte. Wie ein solcher die Mehrheit der Menschen in Höllenqualen verfluchen konnte: diese Frage wurde verdrängt.

Die „letzten Fragen“ der Dogmatik, die nach Weltuntergang, ewiger Seligkeit und Verdammnis, wurden tabuisiert – bis heute. Was die Kirchen als Lehre verkaufen und was die Deutschen glauben: das hat nichts mehr miteinander zu tun. Deshalb die beliebten Debatten um „den Glauben“, der mit dem christlichen Glauben keine Ähnlichkeit aufweist.

„Es war dieses leidenschaftliche Mitleiden, das Rousseau in das Zentrum der politischen Theorie stellte und das nun Robespierres revolutionäre Rhetorik mit Vehemenz in den Mittelpunkt der revolutionären Entwicklung rückte.“

Hier beginnt das Elend. Englische und französische Aufklärer reaktivierten die autonome Ethik der Griechen im modernen Europa. Doch kaum war sie angekommen, wurde sie gefährlich: es war zu viel Moral. Wie die deutschen Romantiker Kants Ethik ablehnten, weil sie den kategorischen Imperativ mit der Bergpredigt verwechselten, so die Franzosen. Moral wurde zur großen Anklägerin, die man nicht mehr ertrug. Schon Melville hatte das Absolute der Menschenrechte abgelehnt, weil aus ihm nur Unheil kommen könne, wenn es sich Geltung im politischen Raum verschaffe.

Die zunehmenden Aversionen gegen die Forderungen der Vernunft, die man mit christlichen Kanzelreden verwechselte, führten zur Gegenaufklärung, die das ganze 19. Jahrhundert beherrschte und zum Neoliberalismus führte. Hayek versenkt die ganze autonome Ethik, die auf der Überheblichkeit des Menschen beruhe, sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen.

Womit wir elegant bei Merkel angekommen wären. Sie ist zu feige, dem amerikanischen Präsidenten in der Vollversammlung der UN direkt Paroli zu bieten. Kaum aber ist sie in einem bayrischen Bierzelt, wird sie kühn. Im Bierdunst erklärt sie plötzlich, die Deutschen müssten ein „Stück weit“ ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Ein Stück weit? Welches Schweinderl hättens denn gern? Im Bierzelt nennt sie Trumps Absage an die Globalisierung eine Gefahr für die Menschheit. Merkel liebt die Bisserl-Sprache. „Dies ist die Stunde der Demokratie“, so erklärte sie die Abwahl ihres Mundstücks Kauder. Mit dem Gongschlag ist die Stunde vorbei – und alles tanzt wieder nach meiner Pfeife.

Der Bisserl-Sprache der Kanzlerin entspricht die Befindlichkeitssprache der Medien, die die empörendsten Vorgänge mit den Worten kommentieren: leider, schade, mutlos, verstörend. Eine Widerspruchs- und Empörungssprache widerspräche der Mauerschau-Mentalität der Dauerbeobachter.

Schäuble beginnt seinen Vortrag nicht mit Schicksalsergebenheit, sondern mit dem Aufruf zur demokratischen Verantwortung. Fatalismus sei keine Option. Doch er endet im Durchwursteln zwischen ein bisschen Tun und viel Lassen und in finaler Ergebung unter Gottes Willen. Gegen das allmächtige Schicksal seien wir letztlich machtlos. Nur einen kleinen Pfad zwischen Schicksalsergebenheit und Ankämpfen gegen das Unvermeidliche könnten wir begehen. Das war‘s. Alles andere sei Vermessenheit, wenn wir glaubten, wir könnten das Schicksal meistern. Das sei nicht nur unmöglich, sondern gefährlich.

Hier treffen wir wieder auf Hayeks gegenaufklärerische Parolen. Wer absolute Kontrolle anstrebe und den Versuch unternähme, den Menschen zu formen, wie er sein solle, ende im Totalitären. Das Beispiel Rousseaus schreckt, der mit allzu viel Mitleid den Terror seines Jüngers Robespierre ausgelöst habe. Nicht nur mit Mitleid. Auch der volonte generale, der allgemeine Wille, sei zum Terrorismus des späteren Sozialismus geworden. Der allgemeine Wille würde die Summa aller Einzelwillen – volonte de tous – zuschanden machen.        

Rousseau lehnte jede parlamentarische Demokratie mit unterschiedlichen Mehrheiten ab. Die verschiedenen Interessen seien keine Wege zu sozialer Harmonie. In den Teilinteressen sieht er die größten Feinde sozialer Harmonie. Es gäbe nur einen vernünftigen Weg, und der sei identisch mit dem generellen Willen des Volkes, das als vollkommen vernünftig betrachtet wird. Wer sich mit diesem allgemeinen Willen nicht identifizieren könne, gehöre nicht wirklich zur Nation. Solche Unangepasste seien Fremde.

Im Sozialismus wurden sie zu Feinden, die die Sache des Proletariats verraten würden. Unbelehrbare Feinde müssen eliminiert werden – wie die kapitalistischen Charaktermasken, die keine Existenzberechtigung hätten. Es war Hannah Arendt, die den Parallelismus zwischen dem stalinistischen und nationalsozialistischen System konstatierte.

Schäubles Warnungen vor utopischer Vernunft sind Hayeks Warnungen vor dem Hitler- und Stalinfaschismus. So verständlich seine Warnungen auf dem Hintergrund europäischer Erfahrungen sind, so falsch sind sie. Stalin war kein aufgeklärter Moralidealist, sondern marxistischer Anbeter einer automatischen Geschichte, die ohne Zustimmung des Menschen ihren Lauf nehme. Hitlers Vorsehung blieb für viele im Hintergrund. Wer aber seine Reden und Bücher verfolgte, wusste, dass seine Geschichte identisch war mit der eschatologischen Heilsgeschichte der Kirchen. Wie anders hätte er seine Anbeter fanatisieren können, wenn nicht mit Assoziationen aus der christlichen Heilsgeschichte, in der er der wiedergekommene Herr der finalen Abrechnung war.

Wer den Zufall überwinden wolle, so Schäuble, der würde perfekte Planbarkeit als gefährliche Illusion verkaufen. Das Perfekte könne nur mit Gewalt realisiert werden. Zufälle seien nicht zu überwinden. Wer es dennoch versuche, müsste ständig nach Schuldigen Ausschau halten, die er für das Versagen der Politik verantwortlich mache. Wir könnten wohl mit dem Schicksal ringen, müssten uns aber mit dem Unbezwingbaren zufrieden geben. Zwar sollten wir tun, als könnten wir etwas bewegen. Letztlich aber ruhe alles in Gottes Hand. Amen.

Schäuble gebührt das Verdienst, das christliche Durchwurschteln geschildert zu haben. Nun sollte jeder wissen, was er wählt, wenn er die – Groko wählt. Denn Schäubles Schicksalsergebenheit mit gehorsamer Minimalbeteiligung ist das Urparadigma fast aller deutschen Parteien. Sie schweigen drüber, um keine schlafenden Hunde zu wecken.

Schäuble, Hayek und alle Gegenaufklärer übersehen eine Winzigkeit: die autonome Moral der Vernunft ist nicht gewalttätig. Das sokratische Vorbild wurde vom Geist des Abendlands an der tiefsten Stelle des Meeres versenkt. Wenn Schäuble schon Popper zitiert, sollte er sein Werk richtig und vollständig lesen. Dann wäre er in der Lage, zwischen dem Urfaschismus Platons und der gewaltfreien Haltung seines Lehrers zu unterscheiden: Besser Unrecht erleiden als Unrecht tun.

Vernunftmoral ist zu erkennen am vorbildlichen Tun und an einleuchtenden Argumenten. Der Mensch kann sich moralisch verbessern, aus Versuch und Irrtum seine Folgerungen ziehen. Demokratie besteht darin, Schuldige zu finden und aus dem Amt zu jagen und Tüchtige ins Amt zu wählen. Schäuble warb für eine Generalabsolution. Wann immer Fehlleistungen sich zeigten, sollte auf Unschuld der Mächtigen wegen Unbezwingbarkeit des Schicksals erkannt werden. Das wäre das Ende der Demokratie.

Wozu eine Moral der Vernunft fähig ist, wissen wir nicht. Da es keine Erkenntnisse über eine unaufhebbare Grenze ihrer Fähigkeit gibt, müssen wir handeln, als ginge unsere Lernkurve ins Utopische. Das muss unser selbsterfüllender Glaube an die Macht der Vernunft sein. Kein Glaube an einen Erlöser, keine Macht als Zwingherrin über andere, sondern eine geistige Macht der Anregung, Überzeugung und Begeisterung.

Auch der Begriff Erfahrung ist spurlos verschwunden. Denn er bezieht sich auf Vergangenes – und dieses wird in der Moderne eliminiert. Das Erfahrene ist das Alte, das getötet wird, um durch das Phantastische der Zukunft ersetzt zu werden.

Den Fortschritt des Digitalen könnten wir nicht verhindern, sagt Schäuble. Woher weiß er das, wenn niemand zum Widerstand aufruft? Wenn kein Politiker die entscheidende Frage an das Volk stellt: akzeptiert ihr, was angeblich über alle hinwegrollen wird?

Schäuble warnte vor Zwangsbeglückung durch martialische Moralverbesserung. Die vor aller Augen ablaufende technische Zwangsbeglückung durch selbst-ernannte Menschheitsbeglücker sieht er nicht.

Ein Konservativer legt keinen Wert mehr auf abendländische Werte. Er verteidigt nur noch seine Macht – gleichgültig, mit welchen Inhalten. Schäubles Plädoyer für ein schicksalhaftes Mitläufertum – mit ablibimäßigem Widerstand – ist ein Abschied von allen Werten in freier Selbstbestimmung.

Greif dem Schicksal nicht allzu kühn in den Rachen, um deine heidnische Selbstbestimmung zu demonstrieren: es könnte dir den Kopf abreißen. Schäubles Rede hat die Katze aus dem Sack gelassen. Sollte niemand mehr kommen, er habe die Schicksalsmelodie der Eliten nicht gehört.

Ta tata taaa.

 

Fortsetzung folgt.