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Sofort, Hier und Jetzt XVII

Sofort, Hier und Jetzt XVII,

ein Beamter nachgeordneter Behörden mit runder Brille, beneidenswert vollem Haupthaar und verschiedenen japanischen Ichs schafft es, die Regierung, somit die BRD, das Machtgefüge in Europa und also der ganzen Welt an den Rand des Abgrunds zu bringen. Anerkennung für seine überragende Persönlichkeit? Beförderung? Gehaltszulage? Nichts.

Kein Anstand in Deutschland, zetert BILD, um elegant das Wort Moral zu umgehen – schließlich gehört die Hauptgazette der BRD zur Führungsinstanz der Schlechtmenschenfront. Hier gibt es das Gute nur, wenn es um Interessen des eigenen Biotops geht.

Er ist verunglimpft und bepöbelt worden, auch von Mitgliedern der Bundesregierung, die gegenüber ihren Beamten eine Fürsorgepflicht haben. Man hat ihn vernichtet, ohne ein Wort über seine Leistungen zu verlieren.“ (BILD.de)

Verunglimpft, bepöbelt und vernichtet: das ist angewandte Martyrologie. Der Erlöser wurde verhöhnt, geschlagen, bespuckt und ans Kreuz geschlagen. Doch im Unterschied zum deutschen Stellvertreter-Opfer wurde er nach der Kreuzigung befördert und mit reichlichen Gehaltszulagen bedacht. Aufgefahren gen Himmel, ernannte man ihn zum Pantokrator, dem Erben des gesamten Reichtums im Universum.

Deutschland bereitet sich vor. Auf die nächste Weltwirtschaftskrise, die uns Weimar ein erhebliches Stück näher bringen wird. Den Experten schwirrt schon der Kopf. Aus der letzten Krise haben sie nichts gelernt. Warum auch? Nach jeder Krise wurden sie reicher: die nächste Krise beten sie inbrünstig herbei.

Kommt die nächste Krise übers Land und frisst den Wohlstand der Kleinen, um den der Großen zu mästen, geht’s rund in Europas stärkster Macht. Dann werden

Kräfte aus der Tiefe aufkommen, neben denen die AfD wie eine Ministrantenhorde wirken wird.

Weimar? Jetzt komm mal auf den Boden. Um das Palliativ-Verhalten der Deutschen zu verstehen, muss man ihre „reziproke Reaktionsredundanz“ verstehen. Verzeihung für das „handlungs-, problem- und verhaltenstheoretische“ Kommunikationsmonstrum. (Wer der Lektüre des Wiki-Artikels über „Kommunikation“ lebend entkommt, ist für den Aufstieg in die Führungsschichten geeignet.)

Am Anfang war die german Angst. Wie geht man mit Angst um? Indem man zu ermitteln sucht, wovor man Angst hat, um sie nach eingehender Realitätsprüfung zu reduzieren. Schau, Kind, das ist kein echter Dino, das ist doch nur eine Spielfigur.

Wovor haben die Deutschen Angst? Vor allem. Vor dem Weltuntergang. Den haben sie schon einige Male erlebt, nicht selten selbst ausgedacht und inszeniert. Was machen sie gegen die Angst? Sie verleugnen sie, indem sie sich gesellschaftlich spalten. Die Oberen übertragen die Angst auf den Pöbel, dessen apokalyptische Anwandlungen sie verachten. Über solche religiösen Kindereien sind sie erhaben.

Der Kapitalismus ist nicht nur ein asymmetrischer Besitzverteiler, sondern ein ebensolcher Ängste- und Gefühlsverteiler. Die Oberen sind mutige, keine Gefahren scheuende, risiko-appetente Abenteurer; den Unteren verbleiben Ängste, mit denen die Oberen nichts zu tun haben wollen.

Wenn die Unteren aus lauter Furcht vor dem nächsten, diesmal endgültigen, klimabedingten Weltuntergang zittern und beben, wischen die Oberen den ganzen Klamauk vom Tisch: solange wir den Weltuntergang nicht selbst erlebt haben, glauben wir nicht an ihn. Eine christliche Nation, die seit 1000en von Jahren mit dem Glauben an das Unsichtbare indoktriniert wurde, weigert sich inzwischen, selbst das zu glauben, was ihnen persönlich auf den Pelz brennt.

Beispiele? En masse. Wohnungsnot? Ach was. – „Über Nacht“ entdeckt die Kanzlerin, dass Millionen Wohnungen fehlen.

Flüchtlingsströme? Ach was. – Über Nacht stehen eine Million vor der Tür.

Defekte Infrastruktur? Ach was. – Über Nacht sind Brücken, Straßen, Schulgebäude, Schienennetze defekt.

Zu wenige Kitas? Ach was. – Über Nacht stehen die Eltern Schlange, um einen Platz zu ergattern.

Unzufriedenheit wächst in der Bevölkerung? Ach was. Wir leben im Paradies. – Über Nacht tyrannisieren die Rechten Städte und ganze Regionen.

Das Kind muss in den Brunnen gefallen sein, erst dann darf die Feuerwehr gerufen werden. Das Klima muss mit Dürre, Waldbränden, Hitzewellen und Tornados übers Land gekommen sein, vorher darf über das suizidale Verhalten der Gattung nicht gesprochen werden.

„Alarmismus“ ist das Vernichtungswort der Entwarnungsspezialisten, die locker und entspannt dem Abyssus entgegen gehen. Früher walteten deutscher Pessimismus und Nihilismus, heute haben sie aus der Geschichte gelernt und alles in futurische Euphorie verwandelt.

Der Deutsche verhält sich, als hätte er grundlos Angst. Schlotternd wartet er, bis die Gefahren persönlich zur Tür hereinkommen. Zwar hat er Angst, doch er glaubt nicht an sie. Er unterdrückt, verleugnet und verdrängt, verschiebt und projiziert sie auf die Unterschichten, wo er sie verhöhnt und verlacht. Diejenigen, die die Ängste nach unten verschieben und zudem über Schreibgewalt verfügen, behaupten zudem: Uns geht’s gut. Und geht es uns nicht gut, sind wir grundlose Hypochonder. „Unsere“ Ängste – also die der Anderen – sind eingebildete Phantasiegebilde.

Der zukunftsfrohe Matthias Horx definierte: „Unter Alarmismus verstehen wir ein soziokulturelles Phänomen, bei dem Zukunftsängste epidemieartig in weiten Bevölkerungskreisen grassieren. Diese Ängste entstehen aus einer bestimmten Interpretation aus Gefahrensmomenten, die durchaus reale Ursprünge (oder Teilaspekte) aufweisen kann. Diese Gefahren werden jedoch symbolisch überhöht und auf ein vereinfachtes, eben katastrophisches Modell reduziert“.

Das Einfache ist die Katastrophe, das Komplexe ist das, was immer gut ausgeht. Hier sehen wir die Rückseite der Abenteuersüchtigen: zwar gibt es Gefahren, aber keine ernsthaften. Alles nur Spaß, alles Event.

Und warum werden Gefahren übertrieben? Friedrich Sieburg spricht von einem Angst-Lust-Effekt. „Die Weltuntergangsstimmung durch scharfe Analysen ins allgemeine Bewusstsein zu heben und sie gleichzeitig auch noch zu genießen, gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen des Menschen von heute.“ Der Alltag mit seinen tristen Problemen sei langweilig, dagegen aber bevorstehende Katastrophen hochinteressant.

Da ist was dran. Es gibt Lustangst, es gibt Dramatisierungen aus Langeweile. Nur: wie lassen sich neurotische Gefühle von realen Tatsachen unterscheiden? Wie geht man mit Ängsten um, damit sie einem das Leben nicht zur Hölle machen?

Zwei Methoden bieten sich an: Ihre angeblich realen Gründe müssen überprüft und ihre biografischen Wurzeln müssen erinnert, wiederholt und durchgearbeitet werden. Die erste Methode bezieht sich auf äußerliche Tatsachen, die zweite auf die Erforschung des ES.

Leidet jemand unter neurotischen Ängsten, die aus seinem Innern kommen, heißt das noch lange nicht, dass äußere Ursachen nicht existent wären. Wer sich vor Hunden ängstigt, könnte seine Ängste vollständig von Menschen auf sie übertragen haben. Durch vorsichtiges Annähern an Hunde kann er seine Ängste minimieren. Tatsächlich aber könnte er von Hunden real gebissen worden sein. Dann wird es schwieriger, ihm die Ängste vor den Tieren auszureden mit der Beschwichtigung, mit der Realität hätten seine Ängste nichts zu tun.

In einer Welt ständiger Katastrophen ist es absurd, die Furcht vor ihnen als Einbildungen wegzuwischen. Dabei geht es nicht nur um nationale Gefahren. Durch tägliche Meldungen über Gefahren aus aller Welt gibt es niemanden, der davon unberührt bliebe.

Kollektivgefahren sind die entscheidenden Angstmacher der Gegenwart: die wachsende Kluft zwischen arm und reich, die Angst auch der Mittelschicht vor dem Absturz, die momentan wieder wachsende Kriegsgefahr, die Urangst vor der irreversiblen Klimakatastrophe. Die Angst vor dem endlosen Fortschritt: wohin soll das Ganze führen? Die Angst vor der Angeberei der Fortschritts-Führer, die alle Gefahren ihrer Erfindungen immer schon bagatellisiert haben. Damit verbunden die Urangst aller Eltern: wie wird es unseren Kindern ergehen, denen wir eine immer riskantere Zukunft bescheren?

Es gibt Ängste, die in realen Weltgefahren begründet sind. Und es gibt irreale Ängste, die lediglich aus dem Innern der Menschen kommen und Wiederholungen früherer Ängste sind. Irreal heißt nicht eingebildet. Sie können den Menschen genau so plagen wie reelle. Gefühle sind immer real. Ihre Zuordnung aber kann falsch sein. Inwiefern sind sie unbewusste Wiederholungen früherer Erfahrungen, inwiefern Reaktionen auf äußere Ereignisse? Wer die Welt besonnen und illusionslos betrachten will, muss sich dieser Erkenntnisarbeit unterziehen.

Wie gehen die Deutschen mit ihren Ängsten um? Um dem Spott über die german angst zu entgehen, nehmen sie ihre Ängste nicht wahr. Sie flüchten in Wohlstand, um ihre Abstiegsängste zu bändigen. Sie flüchten in nationale Überlegenheit, um die Gefahren der Fremdbestimmung kleinzureden.

Vor allem flüchten sie in die Ideologie des Nichtverstehens. Wer die Schattenseiten des Daseins und die Taten der Bösen verstehen wolle, würde sie legitimieren. Deshalb die Parole der Politiker und Medien: Kein Verständnis für Terroristen, Rechte und Verbrecher, für Kritiker der Moderne, Klima-Alarmisten und biblische Apokalyptiker. BILD-Reichelt verdammt die Verstehensreligion als Dekadenz. Alan Posener und Henryk M. Broder übertreffen sich im neu entdeckten Furor des Nichtverstehenwollens.

„Mir geht es wie Alan. Es gibt einiges, das ich nicht verstehen will, mehr noch, das zu verstehen ich nicht ständig genötigt werden möchte. Und damit meine ich nicht die großen Fragen nach den letzten Dingen… ich meine Banalitäten des Alltags, mit denen wir es zunehmend zu tun haben. Ich will die Bundesregierung, Angela Merkel vorneweg, nicht verstehen. Sie hatte mehr als drei Jahre Zeit, uns zu erklären, was sie will und wohin die Reise gehen soll. Ich will das alles nicht mehr verstehen. Ich will nur eines: dass dieser tägliche Albtraum endlich aufhört.“ (WELT.de)

Verständlich, dass immer weniger Menschen die Zeitverhältnisse ertragen. Dass sie sich in privaten Innenräumen einrichten und verbarrikadieren. Der Verzicht auf Verstehen und Wahrnehmen erinnert an den Rückzug spätantiker Philosophen in die Gemütsruhe, die sich von aller Welt gelöst hatte. Wer glaubte, das Wesentliche verstanden zu haben, war weder zum Staunen noch zur Empörung fähig. Die athenische Polis war verfallen, der Hellenismus zur imperialen Macht geworden. Da suchten die Philosophen vergeblich ihren Platz.

In den Anfängen Roms gab es eine Renaissance der griechischen Philosophie, die zur Lebensweisheit der frühen römischen Eliten wurde. Je mehr sich das Kaisertum theokratisierte, umso mehr sank der Einfluss der philosophischen Schulen.

Einen ähnlichen Vorgang sehen wir bei deutschen Dichtern und Denkern, die sich von den Schrecken der Französischen Revolution abwandten und sich in ästhetische und poetische Innerlichkeit flüchteten. Bei Schiller war Politik aufgeschoben, nicht aufgehoben. Erst müsse der Mensch Mensch werden, dann könne er sich der Politik widmen. Nachdem aber der demokratische Aufbruch im Vormärz gescheitert war, wurde Politik verdrängt. Die Intellektuellen überließen die Macht dem eisernen Kanzler. Im Ersten Weltkrieg unterstützten sie den Kaiser.

Alles verstehen heißt alles verzeihen, wird Madame de Staël zugeschrieben, die mit Verzeihen keine Widerstandslosigkeit meinte. Denn in ihrem Kampf gegen Napoleon – den sie sehr wohl durchschaut hatte – blieb sie unerbittlich. Der Satz heißt vielmehr: wer die Abgründe des Menschen in allen Variationen erkannt und verstanden hat, kann theoretisch nicht mehr erstaunt und verwundert über das Böse sein. Praktisch kann er sich dennoch über das Erkannte empören.

Broder will die Kanzlerin nicht verstehen, Posener nicht die AfD:

„Die Kritik an der angeblichen „Langsamkeit“ des demokratischen Politikbetriebs wächst. Vor allem die AfD will ihre Anhänger auf diese Weise mobilisieren. Müssen wir Verständnis für diese aufgebrachten Wähler aufbringen?“ (WELT.de)

Um seine Animosität gegen das Verstehen verständlich zu machen, bezieht Posener sich auf Stefan Zweigs „hochmütiges Verständnis“ des damaligen „Schreis nach dem Diktator“, der aus Überdruss an „der Langsamkeit“ des normalen Politbetriebs entstanden sei.

Klaus Mann hingegen lehnte jedes Verstehen der Hitlerianer ab: „Ich will jene nicht verstehen, ich lehne sie ab. Ich zwinge mich zu der Behauptung, dass das Phänomen des hysterischen Neonationalismus mich nicht einmal interessiere. Ich halte es für nichts als gefährlich. Darin besteht mein Radikalismus.“

Das war kein Radikalismus, sondern eine Ohne-mich-Haltung. Wie kann man etwas bekämpfen, für das man sich nicht interessiert?

Klaus Manns Absage an das Verstehen war gleichzeitig eine Kritik an seinem Vater, der Bruder Hitler in sich entdecken wollte, um seine eigene Gefährdung als Künstler zu verstehen:

„Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden“. „Hitler, der die Impotenz des gescheiterten Künstlers empfindet, habe sich mit den „Minderwertigkeitsgefühlen eines geschlagenen Volkes“ verbunden.“ „Die Auseinandersetzung mit Hitlers Anfängen als Künstler ermöglicht Thomas Mann spürbar eine Selbstverortung, die noch expliziter wird, wenn es heißt, Hitler sei „eine reichlich peinliche Verwandtschaft“, doch „aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß, sei das Sich-wieder-Erkennen“ im anderen. Indem er Hitler als Anti-Künstler präsentiert, wirft er zugleich einen kritischen Blick auf das eigene Künstlerdasein. Mehr noch als um Hitler geht es in diesem Essay deshalb um die Abgründe des Ichs, denen Mann sich mit essayistischer Neugierde nähert.“ (Wiki)

Katastrophen des Bösen können wir nur bewältigen, wenn wir ihre Spuren in uns entdecken und durch Selbstbesinnung überwinden. Thomas Manns Selbsterkundung, um menschlich zu werden, ist identisch mit dem Satz des delphischen Apolls „Erkenne dich selbst“ – und mit Freuds Methode der Wiedererinnerung des eigenen Werdens.

Posener nimmt seine eigenen Widersprüche nicht wahr. Denn sein Nichtverstehenwollen versucht er zu erklären und zu verstehen. Er kritisiert nicht Stefan Zweigs Verstehen, sondern dessen falsches Verständnis. Womit er sein eigenes Verstehen voraussetzt, um das falsche ablehnen zu können. Will Posener nur sich selbst verstehen, nicht aber seine politischen Gegner? Das wäre noch hochmütiger als der Hochmut Stefan Zweigs, der sich die Mühe machte, seine Feinde zu verstehen.

Das hat nichts mit dem Gebot zu tun: Liebet eure Feinde. Sondern mit Verantwortungsgefühl. Wer etwas bekämpfen will, muss es verstanden haben. Wozu hätten die Deutschen ihre Vergangenheit aufarbeiten sollen, wenn nicht zum Zweck, ihre Verbrechen nie mehr wiederholen zu müssen? Wer sich verändern will, muss sich verstehen lernen. Das ist der Sinn jeder Therapie, die sich nicht mit äußerlichen Verhaltensveränderungen begnügt.

Noch ein anderer Aspekt: wenn Journalisten ihre Zeitläufte nicht mehr verstehen wollen, haben sie ihren Job gekündigt. Wie wollen sie ihre Gegner bekämpfen, wenn sie keine Analysen vorlegen? Analysieren aber ist verstehen und erklären.

Verstehen ist der Versuch, emotional nachzuempfinden, was kausale Erklärungen an Erkenntnissen geliefert haben. Verstehen und Verändern entspricht der Diagnose und Therapie. Wie will ein Arzt seine Patienten heilen, wenn er nichts über die Ursachen ihrer Krankheiten weiß? Verstehen ist: eine Diagnose erstellen. Wer die Ursachen einer Krankheit erkannt hat, kann Gegenmittel entwickeln, um sie zu bekämpfen.

Hannes Stein war der erste Journalist, der den Mut aufbrachte, das Generalmotto der deutschen Edelschreiber vom Tisch zu fegen:

„In Deutschland gibt es ein viel zitiertes Wort: „Ein Journalist darf sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten.“ Was für ein Blödsinn! Selbstverständlich haben Journalisten das Recht, sich beruflich wie privat für die edlen Ziele des Vegetarismus, des Merkantilismus oder der Völkerverständigung einzusetzen – solange sie diese Parteinahme offen benennen und sich von ihr nicht blind machen lassen.“ (WELT.de)

Aufgebracht wehrt er sich gegen Angriffe auf seine Zunft: „Nein, wir sind keine Lügner. Vielleicht haben wir Journalisten uns ein bisschen zu lang anspucken und verachten lassen. Es ist an der Zeit, uns den Speichel von der Backe zu wischen und ein paar Grundsätzlichkeiten klarzustellen.“

Der Beruf des Journalismus stamme aus der Aufklärung: „Wir Journalisten sind Enkel der französischen, englischen und schottischen Aufklärung; wir sind jetzt seit zirka 200 Jahren damit beschäftigt, die Wahrheit über Tyrannen und Päpste jeder Couleur und Größenordnung herauszufinden und zu kolportieren.“

So herzerfrischend seine Berufung auf die Aufklärung, so unpräzise wird Steins Verteidigung seiner Zunft. Denn der Kampf gegen „Tyrannen und Päpste jeder Couleur“ ist lange nicht mehr das generelle Kennzeichen der Tagesbeobachter. In allen Despotien gibt es Presse, die das Tun der Mächtigen legitimiert.

Westliche Demokratien sind zwar keine Despotien, aber Oligarchien internationaler Monopole, in denen Gerechtigkeit und vitale Würde der Einzelnen unterdrückt werden. Hinzu kommt die neoliberale Naturverwüstung, die das Überleben der Menschheit gefährdet. Gegen diese augenscheinlichen Defekte hat der Journalismus sich nur alibimäßig zur Wehr gesetzt.

Die Berichterstattung über den Hambacher Widerstand gibt sich neutral. Eindeutige Positionen und Stellungnahmen fehlen. Wenn Schreckliches in der Welt geschieht, reagieren die Schreiber mit Wörtern wie „unglaublich und traurig“ oder „verstörend“, dem heftigsten Wort der Erregung. Doch das sind privatistische Befindlichkeiten, keine Vokabeln empörten und zornigen Widerstands. Hier entlarvt sich der Journalist als Gegenteil eines zoon politicon. Hier deklariert er sich als Privatmann (Idiotes), der beim Beobachten der Wirklichkeit die Hände über den Kopf zusammenschlägt – und sich selbst bedauert.

Der internationale Journalismus ist dabei, vollständig zu versagen, wenn er sich nicht zur konzertierten Aktion gegen die klimatische Gesamtkatastrophe zusammenfindet.

Blasierter Neutralismus ist das Gegenteil von Aufklärung. Aufklärer waren leidenschaftliche Moralisten, die den Kampf gegen Klerus und Obrigkeit furchtlos austrugen. Wo bleibt Steins Kritik an vielen Beiträgen seiner Kollegen in der WELT, in denen sie moralische Verantwortung in die Nähe der Lächerlichkeit, wenn nicht platonischer Zwangsbeglückung rücken?

Es geht nicht darum, in einer Welt ohne Journalismus zu leben. Im Gegenteil: der Journalismus muss seinen aufgeklärten Wurzeln wieder gerecht werden.

SPD-Scholz verteidigte seine Parteivorsitzende mit den Worten: Viele haben nicht verstanden, was Nahles wollte. Deshalb habe sie den ersten Kompromiss durch einen zweiten ersetzt.

Wann immer sie den Mund auftun, offenbaren Politiker ihre Unfähigkeit, mit der deutschen Sprache angemessen umzugehen. Mit Hilfe der öffentlichen Sprache sprechen sie eine esoterische Politikersprache, die vom Volk nicht mehr verstanden wird.

„Die Vielen“ haben sehr wohl verstanden, dass der Deal um den Ex-Verfassungschef ein Anschlag gegen demokratisch-moralische Spielregeln war. Es war kein Kannitverstan, es war kollektiver Zorn gegen die Eigenmächtigen der politischen Klasse, die von der Bevölkerung – etwa bei Hartz4-Empfängern – ein Verhalten fordern, das sie selbst in den Staub treten.

Wenn man verstehen nicht unterscheiden kann von kritisieren, sollte man sein Amt zur Verfügung stellen. In Interviews weigern sich Politiker, unbequeme Fragen in klaren Worten zu beantworten. Die Interviewer sollten es sich zur Regel machen, solche Possen abzubrechen. Wer sich nicht mehr verständigen, sondern das Publikum nur noch mit Wortattrappen hinters Licht führen will, sollte in der öffentlichen Arena tabuisiert werden.

Momentan ist Stolz angesagt in der Springerpresse. Stolz auf Deutschland, weil es regelmäßig Fußballweltmeister und Exportweltmeister wird. Stolz auf ein Land, dessen Regierung gescheitert ist?

Wegen Maaßen werde die Regierung nicht scheitern, erklärte Nahles in pubertärem Trotz. Sie hat nichts verstanden. Es ging nicht um eine belanglose Personalfrage, sondern um Einhaltung demokratischer Grundregeln. Wer gravierende Fehler begeht, kann nicht belohnt werden. Von jedem Malocher wird sachgemäße Leistung verlangt, nur in den oberen Etagen wird trostlose Selbstüberhebung belohnt.

Warum erwartete niemand von Maaßen, dass er aus Rücksicht auf das Gemeinwohl freiwillig seinen Posten räumt? Für einen pflichtbewussten Beamten wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Sprache ist das einzige Verständigungsmittel jeder Gesellschaft. Die deutsche Sprache zerfällt immer mehr in die Machtsprache der Führungsklassen und die Empörungssprache der Unterklassen. Die Eliten benutzen die Sprache, um ihre Macht unangreifbar zu machen, die Unterklassen, um ihren Unmut in verbalen Aggressionen abzulassen. Wenn nicht-verstehende Macht und verständnislose Empörung kollidieren, dann gibt es keinen guten Klang.

 

Fortsetzung folgt.