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Sofort, Hier und Jetzt XV

Sofort, Hier und Jetzt XV,

der Verfall der zweiten deutschen Demokratie ist nicht nur der Zerfall der politischen Klasse, der wirtschaftlichen, medialen und intellektuellen Eliten. Es ist der Zerfall der ganzen Gesellschaft inmitten eines bankrottierenden Westens.

Wer das Überleben der Menschheit will, muss den Zerfall aufs innigste begrüßen. Die Fortführung der jetzt herrschenden Raserei und Verwüstung, des naturvernichtenden grenzenlosen Wahns wäre das Todesurteil der Gattung. Zerfall ist gefährlich, Konstanz der Gefahr gefährlicher: sie wäre der sichere Untergang.

Alles muss zerschlagen, jeder Baustein muss von allen Seiten geprüft, beurteilt und unvoreingenommen bewertet werden.

Unvoreingenommenheit ist uns fremd. Im Licht aller bisherigen Erfahrungen muss sie von Grund auf erarbeitet werden. Erfahrung ist Erkenntnis des Vergangenen. Die Vergangenheit wird heute geächtet, eine illusionäre Zukunft auf den Altar gehoben. Wenn die Menschheit ihre Gattungsbiografie missachtet und ihre Vergangenheit negiert, wird sie keinen neuen Anfang zustande bringen. Sie wird sich abschaffen.

Nichts Heiliges, Fragloses und Unbezweifelbares darf unangetastet bleiben. Will der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, muss er wissen, wer er ist.

Äußerlich ist der Gang der Menschheit ein Erfolg – ein Erfolg in Machtanhäufung und verblendeter Überhebung über die verachtete Natur. In Wahrheit ist der Gang der Menschheit die selbsterfüllende Prophezeiung einer Heilsgeschichte, die eine winzige

Minderheit in ein technisches Paradies, die Masse der Verlorenen ins sichere Unglück führen wird.

Eine Grundlagenkrise kann nur durch die Macht der Selbsterforschung behoben werden. Die Zeit alleinseligmachender Kompromisse ist vorbei. Solange Kompromisse die Vermittlung gedankenloser Tagesinteressen sind, führen sie ins Verderben. Partielle Interessen müssen ihren gemeinsamen Nenner finden im Universalinteresse des Überlebens. Das gute Leben hängt vom Überleben ab. Kein Einzelvolk wird davonkommen, wenn alle anderen Völker verderben.

Vor kurzem noch schien die Menschheit einem gemeinsamen Plan ihrer irdischen Existenz entgegenzugehen. Doch je spaltender die Kräfte ökonomischer und technischer Konkurrenz wurden, umso mehr erlahmten die symbiotischen Fähigkeiten der Nationen.

Kapitalismus und Demokratie waren Zwillinge der Freiheit. Doch der Kapitalismus unternahm alles, um sich, im Schutz der Freiheit und eines internationalen Tauschverkehrs, zum Überlegenen zu entwickeln und den kleinen Bruder nationaler Demokratie an die Wand zu fahren.

Am Anfang einer Demokratie ist es nicht schwer, die Wirtschaft zu bändigen. Je mehr sie sich aber im internationalen Handel verstärkt, je mehr schrumpft die Chance, sie unter demokratischer Kontrolle zu halten.

Internationalen Wirtschaftsregeln gelingt es eine Weile, einen Hauch von Demokratie in die globale Ökonomie zu bringen. Doch Multis und Monopole, im Verein mit zügellosen Finanzspekulationen, ruhen nicht, bis sie auch die internationalen Vereinbarungen unterwandert haben und hintergründig nach Belieben steuern.

Die Menschheit driftet auseinander. Die Nationen verbarrikadieren sich hinter Mauern, Wällen und Grenzlinien. Die Weltwirtschaft beruht auf zwei Prinzipien, die auf Dauer unverträglich sind: Konkurrenz ist Kampf jeder gegen jeden – globale Kooperation Solidarität aller mit allen.

Derselbe Widerspruch liegt den europäischen Wirtschaftsverträgen zugrunde. No bail out schließt Solidarität aus. Die Europäer sind davon überzeugt, den Widerspruch in Wohlgefallen auflösen zu können. Doch wer sich permanent nieder konkurriert, kann nicht solidarisch sein. Die Deutschen betonen am lautesten die Solidarität, die sie am kaltblütigsten verletzen.

Der moralische Widerspruch zwischen Eigen- und Fremdinteresse wird nicht wahrgenommen, weil Moral – in den Vorstellungen des Neoliberalismus wie einst im Sozialismus – keine ökonomische Bedeutsamkeit besitzen darf. Den anderen zu überrunden und mit technischer und finanzieller Übermacht zu kujonieren, soll, man höre und staune, mit ethischen Vorstellungen nichts zu tun haben.

Wirtschaftsregeln seien Regeln der Natur, denen der Mensch sklavisch folgen müsse. Hätte sich die Meinung durchgesetzt, Ökonomie beruhe auf moralischen Weichenstellungen, könnte das Zusammengebackene mit moralischen Korrekturmethoden wieder verändert werden. Moral ist das einzige Instrument des Menschen, sein Schicksal nach eigenen Vorstellungen zu bestimmen. Wird Moral aussortiert, bleibt nur höriges Bedienen unveränderlicher Mechanismen.  

Neoliberalismus will ein Liberalismus sein, eine Lehre von der Freiheit. Es ist eine seltsame Freiheit, nur die Knöpfe einer unveränderlichen Weltmaschine zu bedienen. Für Freiheit bleibt dann nur, mit Hilfe eherner Regeln seinen Profit ins Unermessliche zu dehnen. Der neoliberale Mensch ist ein Mensch in Ketten, der nur die Freiheit besitzt, mit seinen Ketten den Nebenbuhler zu drangsalieren und klein zu halten.                                    

Geschichte wiederholt sich, weil Menschen sich wiederholen, wenn sie nicht ständig dazulernen und ihre Stereotypien verändern.

Demokratie begann im kleinen athenischen Stadtstaat. Als Alexander den griechischen Geist in die Welt trug und in internationalen Hellenismus verwandelte, wurde aus dem Kapitalismus einer Face-to-Face-Gesellschaft die erste Weltwirtschaft, die die Tradition der Polis in ein übernationales Gebilde verwandelte, in welchem – mit Ausnahme einer grenzenlosen Produktions-Industrie – bereits alle Basiselemente des heutigen Welthandels vorhanden waren.

Alexanders Makedonen waren keine Griechen, demokratischen Geist kannten sie nicht aus eigener Erfahrung. Nur Alexander war ein glühender Verehrer der kosmopolitischen Lehre von der Gleichheit aller Menschen – die er allerdings mit militärischer Macht in fremde Länder transportierte.

Obgleich Aristoteles eine Zeit lang sein Lehrer war, folgte Alexander nicht dessen reaktionärer Lehre, von Natur aus gebe es Freie und Sklaven. Nach seinem Tode spaltete sich sein Weltreich in drei Herrschaftsbereiche, von denen Ägypten der wichtigste war.

„Der homo politicus, der in Griechenland noch lebte, hatte in Ägypten dem homo oeconomicus und dem homo technicus Platz gemacht. Die Griechen in Ägypten, die die herrschende Schicht des alten Pharaonenlands bildeten, wurden allmählich zu Spezialisten auf dem einen oder anderen Gebiet – intellektuelle, militärische, verwaltungstechnische oder wirtschaftliche. In Philadelphia („Bruderliebe“) beherrschte der homo oeconomicus das Feld. Materielle Interessen haben in seinem Denken die Oberhand und seine fieberhafte Tätigkeit ist in der Hauptsache auf Bereicherung ausgerichtet, ohne Rücksicht auf Wege und Mittel. Die Griechen in Philadelphia wollten reich werden – das war ja der Grund, weshalb sie nach Ägypten gezogen waren, doch gleichzeitig wünschten sie ihr hohes geistiges Niveau zu halten und ihre Kinder zu Griechen, das heißt zu gebildeten Menschen zu erziehen. Sie lasen in ihren Mußestunden griechische Klassiker, sie schätzten Theater und Musik über alles und waren für den Sport genau so begeistert wie ihre Landsleute in der Heimat. Sie wollten, ihre Kinder sollten die gleichen Neigungen haben. Das war der Grund, weshalb sie viel Geld ausgaben, um ihren Knaben und Mädchen eine gute „Gymnasialbildung“ zu geben.“ (Rostovzeff, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der Hellenistischen Welt)

Die Schilderung erinnert verblüffend an die soziale Marktwirtschaft der deutschen Nachkriegszeit, als Wirtschaft eher eine pure Notwendigkeit war und noch nicht im Mittelpunkt des Lebens stand. Bildung im traditionellen Sinn war nicht unwichtiger als der erste VW, mit dem man über die Alpen nach Italien fuhr.

Doch schnell veränderten sich die Wertigkeiten nach amerikanischem Muster. Normale Amerikaner legten Wert auf Prosperität – und Religion. Bildung im klassischen Sinn war nicht gefragt. Äußerlich übernahmen die Deutschen das christliche Image des Kapitalismus, innerlich lehnten sie den biblischen Fundamentalismus der Amerikaner ab.

Die klassische Bildung verlor schnell an Bedeutung. Heute weiß niemand mehr, dass Demokratie und Menschenrechte griechische Kreationen sind.

Den Kirchen – ursprünglichen Feinden der Demokratie und der Menschenrechte – gelang es gar, politische Humanität aus christlicher Gottebenbildlichkeit abzuleiten. Ja, es gelang ihnen, ihre Verstrickung mit dem NS-Regime zu verleugnen und sich in eine Widerstandsbewegung mit einigen verirrten Sündenböcken zu verwandeln.

Heute spielt Bildung als Kenntnis der Griechen keine Rolle mehr. Wenn gleiche Bildung oder lebenslanges Lernen für alle gefordert wird, handelt es sich um Einpauken technischen und ökonomischen Herrschaftswissens.

In Schulen wird demokratisches Verhalten nicht eingeübt. Lehrer sind Beamte, die Schwierigkeiten haben, ihre politische Meinung zu vertreten. Die Schule ist zur Selektions- und Disziplinierungsmaschine geworden, die mit Zensurorgien ihre SchülerInnen in die Gesellschaft einschleust.

Wie sollen Kinder zu Demokraten werden, wenn sie nirgendwo lebendiges demokratisches Verhalten erleben?

Streng genommen begann der Kapitalismus mit Einführung des Münzgeldes, mit dessen Hilfe nicht nur Tauschgeschäfte mit Naturprodukten ermöglicht wurden, sondern Geldgeschäfte von weit höherem Kapitalwert. Der Mensch löste sich von der Erdenschwere der Dinge und begann, seinen potentiellen Reichtum ins Grenzenlose auszuweiten.

Geld wurde zur Vereinbarungs- und Glaubenssache. Solange die Menschheit an ihren Reichtum glaubt, solange kann sie Glauben in selbsterfüllende Prophezeiung verwandeln. Glauben viele Kunden nicht mehr an ihre Bank und stürmen deren Schalter, um ihr Geld zu sehen, kann schnell das letzte Stündlein der Bank geschlagen haben.

„Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“

Das Thomas-Theorem ist identisch mit der Kraft christlichen Glaubens. Ob es Gott gibt, ist gleichgültig: Hauptsache, die Menschen glauben und handeln, als ob es ihn gäbe. Aus Glauben wird Realität, in der Kirche wie an der Börse.

Der ptolemäische Hellenismus hat die Grundsätze des Kapitalismus nicht erfunden. Schon Hesiod, der Bauerndichter, klagte über Kredite der Reichen, ohne die immer weniger Bauern auskämen und unter deren immensen Zinssätzen ihre Rückzahlungen zu leiden hatten.

„Ein flüchtiger Blick genügt, um zu zeigen, dass sich die Industrie im 5. und 4. Jahrhundert rasch nach „kapitalistischen“ Grundsätzen entwickelte. Es gab immer mehr stark spezialisierte, größer werdende Werkstätten, die sich in ihrem Charakter kleinen Fabriken näherten. Sie wurden zumeist mit Sklavenarbeit als „kapitalistische“ Unternehmungen betrieben und erzeugten Güter, die nicht nur im griechischen Bereich, sondern immer mehr in fremde Länder ausgeführt wurden. Auch die Zahl der autarken Bäuerchen schrumpfte. Es entstanden immer mehr große landwirtschaftliche Betriebe, die nach kapitalistischen Grundsätzen bewirtschaftet wurden: ihre Erzeugnisse wurden in der Hauptsache auf den Markt verkauft und nicht von den Erzeugern verbraucht. Auch das Bankwesen nahm einen berufsmäßigen Charakter an. Die Banken betätigten sich in Geldgeschäften, die alle Arten von Kreditgewährung einschlossen: Darlehen gegen Sicherheit oder Hypotheken, sogar ein System der Kreditüberweisung.“ (Rostovzeff)

Warum setzt Rostovzeff das Wörtchen kapitalistisch in Anführungszeichen? Weil es – nach modernen Überlegenheitsvorstellungen – in der Antike keinen Kapitalismus geben kann, denn es darf ihn nicht geben. Die Moderne will alles Weltbewegende selbst erfunden haben. Zuviel der Ehre für Griechen, dass sie nicht nur die Demokratie, sondern auch den Kapitalismus erfunden haben wollen.

Typisch ein Artikel des Althistorikers Hartmut Leppin in der FAZ:

„Kein methodisch reflektierter Althistoriker wird noch leichthin von Kapitalisten sprechen. Von der Welt des modernen Kapitalismus ist die Antike weit entfernt. Das Kreditwesen eignete sich nicht für größere Investitionen, Aktiengesellschaften gab es nicht, Fabriken mit ihren Kraftmaschinen fehlten. Die großen Straßen wurden offenbar vor allem angelegt, um Soldaten zu transportieren und zu versorgen; die Händler folgten diesen Bahnen, und so zerriss mit dem Ende römischer Herrschaft das Handelsnetz. Gewiss passt der Begriff des Kapitalismus daher nicht zu der Welt Platons und Ciceros.“ (FAZ.NET)

Moderne Hybris kann nur in grandiosen Quantitäten denken. Doch selbst der Kapitalismus begann in kleinen Schritten, die viele Jahrhunderte benötigten, um zur beherrschenden Größe zu werden. Zuerst im Hellenismus, dann in grausamer Vollendung im späten Rom.

Kapitalismus beginnt, wo Geld den Wert des Menschen bestimmt. Wo Mammon die Menschen spaltet. Wo Reichtum den Menschen zum Herrn des Menschen erhebt.

„Geld gewinnt Freundschaft, Ehre, Stellung und Macht und stellt einen Menschen in die Nähe des Thrones des stolzen Tyrannen. Geld bringt einem Menschen seine Gesundheit und sein Glück ein und nur Geld bemängelt die Ungerechtigkeit.“ (Sophokles)

„… Geld macht zu Wüsten die Städte, treibt von Haus und Hof die Völker; Geld führt des Verbrechers Weg, Geld lehrte den frevlen Mut, dem nichts mehr heilig ist.“ (Antigone)

Marx, ein Griechenkenner, war nicht in der Lage, den Kapitalismus im Land der Schönheit zu entdecken. Seine Vorstellungen einer fortschreitenden Geschichte machte ihn blind für einen Kapitalismus, der sich aus politisch-moralischen Entscheidungen geboren fühlte und keine Maschine war, welche automatischen Gesetzen der Natur folgte, die man mit „utopischer Moral“ nicht bändigen könnte.

Marx war ehrgeizig genug, der Newton der Ökonomie werden zu wollen. Griechenland war für ihn nur eine Sklavenhaltergesellschaft. Besaß das demokratische Amerika keine Sklaven? Dass es zwischen Sklaven und Lohnabhängigen, die von ihren Hungerlöhnen weder leben noch sterben können, nur graduelle und keine prinzipiellen Unterschiede gibt, ist dem Revolutionär entgangen, der alles revolutionäre Tun abhängig machte von der Erlaubnis einer allmächtigen Geschichte.

Dieselbe Fehleinschätzung bezog sich auf China, bis ins Mittelalter die mächtigste Macht der Welt. Da die überlegene chinesische Wirtschaft nicht daran dachte, sich nach Marx‘schen Gesetzen weiter zu entwickeln, sondern es vorzog, zu stagnieren, sprach Marx verächtlich von der „asiatischen Produktionsweise“. Eine solch minderwertige, nicht auf der Höhe Marx‘scher Geschichtserkenntnis agierende Wirtschaft hatte keine Existenzberechtigung. Der Westen sollte, nach Marxens Meinung, das rückschrittliche China erobern, die undynamische Wirtschaft zerschlagen und das rieisige Land seinem Herrschaftsbereich einverleiben.

Dem Althistoriker Leppin scheint entgangen zu sein, dass Platons gesamte Philosophie sich um Gerechtigkeit dreht. Seine Paideia sollte das unwandelbare Urbild eines gerechten Staates sein. Wie wäre eine solche Apotheose der Gerechtigkeit ohne kapitalistische Gegenrealität möglich gewesen?

Hier rächt sich, dass Historiker es ablehnen, mit ihren Erkenntnissen ins politische Geschehen einzugreifen. Ihr Historismus ist eine Variante der wahrheitslosen Moderne: es gibt keine zeitübergreifenden Wahrheiten. Jede Epoche müsse aus ihren Bedingungen verstanden werden. Lehren der Vergangenheit für die Gegenwart: nein, damit könnten sie nicht dienen.

(Wenn Historiker sich gerade beschweren, dass SPD-Nahles die Historikerkommission der Partei auflöste, die die Geschichte der SPD erforschen sollte, um ihr neue Impulse zu geben, so sind sie an dieser Fehlleistung nicht unschuldig. Gewöhnlich denken sie nicht daran, ihre Weisheiten einer demokratischen Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. In Deutschland gibt es keine intellektuellen und medialen Eliten, die sich mit Demokratie gemein machen würden.)

Die athenische Polis war ein winziger Stadtstaat, in dem der Kapitalismus seinem demokratischen Konkurrenten schnell enteilte, um in der großen, weiten Welt Furore zu machen und schließlich in Rom zum schrecklichsten Kapitalismus der Geschichte zu werden. Bis jetzt. Sollte der moderne Neoliberalismus seine Geld- und Technikherrschaft über die Menschheit im selben Tempo wie bisher fortsetzen, wird selbst das alte Rom von den Verwüstungen der Moderne übertroffen werden.

Das „brüderliche“ Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie ist das Verhältnis von Kain und Abel. Der Kain‘sche Kapitalismus unterlässt nichts, um die sanfte Abel-Demokratie um die Ecke zu bringen. Es hängt von der moralischen Kraft und Entschlossenheit der Demokraten ab, ob sie sich von kainitischen Machenschaften einer inhumanen Wirtschaft auslöschen lassen.

An dieser Stelle stehen wir. Die feindliche Symbiose aus Selbstbestimmung und Mammonismus steht vor dem endgültigen Kollaps. Es droht die Wiederholung des Untergangs des römischen Reichs.

Im späten Rom herrschte „Massenelend, das uns besonders in den großen Städten entgegentritt, und das noch dadurch gesteigert wurde, dass eine irrationale staatliche und klerikale Almosenwirtschaft die Neigung zur Abwanderung in die großen Städte in ungesunder Weise verstärkte. Die staatliche Gewalt war nur noch zur Plünderung der Armen da. Kein Wunder, dass sich nicht bloß die soziale, sondern auch die moralische Kluft zwischen Armen und Reichen immer mehr vertiefte. Der Staat und die herrschenden Klassen standen ihrem Elend teilnahmslos gegenüber. Die große Masse hatte kaum mehr ein Interesse am Bestand des Reichs. Der Pessimismus steigerte nicht nur die Begier, den Genuß des Augenblicks auszukosten. Après nous le déluge, nach uns die Sintflut, war auch hier zur Parole einer sinkenden Gesellschaft geworden, eine Stimmung, die auf Salvian den Eindruck machte, als habe die römische Gesellschaft vom Giftkraut gekostet. „Sie stirbt und lacht“. (Robert von Pöhlmann, Römische Kaiserzeit und Untergang der antiken Welt)

Auch in Deutschland wird eine sterbende Demokratie vom sardonischen Gelächter derer begleitet, die viele Jahre den Schaum abschöpften und jetzt nichts Unterhaltsameres kennen als die zynischen Freuden des Untergangs.

Die Schlechtmenschenfront scheint sich durchzusetzen. Wenn ein Chef des Verfassungsschutzes wegen offensichtlicher Unfähigkeit entlassen wird, um sofort befördert zu werden, scheinen alle Kriterien einer demokratischen Moral – Aufrichtigkeit, Integrität, Ehrlichkeit und Folgerichtigkeit – außer Kraft gesetzt. Die meisten Kommentare bedauern zwar diesen skandalösen Vorgang, bevorzugen am Ende doch die äußerliche Stabilität der Regierung. Lieber stabil und amoralisch als idealistisch in den Abgrund.

Was zurzeit in der Politik geschieht, sind Zeichen einer Desolatheit, die keine Mittel mehr zu kennen scheint, ihrer desaströsen Verfassung zu entkommen.

Viele Namen werden genannt, nur einer nicht: der Name der Hauptverantwortlichen, die die Richtlinien der Politik bestimmt. Die Kanzlerin bestimmt nicht mehr, kraft- und orientierungslos läuft sie den Geschehnissen hinterher. Ihre Sprache ist leer, ihr „Fleiß“ teilnahmslos und mechanisch. Was immer in der Welt passiere, man könne es doch nicht mit einem „Achselzucken quittieren“. Das ist der Kanzlerin letzter Schluss.

Der ganze Apparat scheint ausgedörrt. Personelle Alternativen zeigen sich kaum. Die Personaldecke ist „ausgedünnt“. Die politischen Eliten scheinen degeneriert. Die Tagespolitik besteht nur noch aus zwanghaften Beziehungsstörungen. Neue Gedanken haben keine Chancen, ins Allerheiligste einzudringen.

Ähnliche Verhältnisse in den Medien, die keiner Außenseiterstimme eine Chance geben, veröffentlicht zu werden. Überall in den oberen Etagen hermetische Verschlossenheit. Sie sitzen in ihren Wagenburgen und verteidigen die Privilegien ihres synchronen Untergangs mit Hauen und Stechen.

Der gesamte Apparat müsste ausgewechselt werden. Junge, unbefangene Generationen, die grundlegende Fragen mit eben solchen Lösungen beantworten könnten, müssen das Ruder übernehmen.

Als Rom unterging, kam das Christentum und nahm das marode Riesenreich zur Beute. Es siegte mit Hilfe einer antikapitalistischen und elitefeindlichen Stimmung – die aber keineswegs ein politischer Gegenentwurf für die Welt sein sollte. Sondern nur die chimärische Hoffnung für das Jenseits.

Seitdem versetzt die himmlische Botschaft die kapitalistisch betrogene Menschheit in die trügerische Hoffnung, die Welt verändern zu können. Dabei denkt sie nicht daran, die zum Untergang bestimmte Welt vor dem Verfall zu retten. Die alte Welt muss untergehen, damit eine neue aus Nichts entstehen kann.

Überall auf der Welt zeigt sich der Massenwahn wiederkehrender Religionen. Wenn der mündige Mensch versagt, muss Gott eingreifen. Das wäre der endgültige Untergang der Welt.

 

Fortsetzung folgt.