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Sofort, Hier und Jetzt XLV

Sofort, Hier und Jetzt XLV,

„Es ist absurd. Es gibt kein Gespräch mit Parteioberen über die Stiftung, in dem deren Zustand nicht beklagt und die Notwendigkeit einer Reform nicht gesehen würde. Zugleich gibt es keine Anstalten der Parteioberen, etwas zu ändern. Denn es würde Konflikt bedeuten, Kampf gegen die alten Strukturen, Ärger mit den alten Genossen. So desolat die Wahl- und Umfrageergebnisse sind, für die Parteioberen sind sie weit weg, solange die SPD noch regiert und Minister und Referenten und Dienstwagen hat. Zu weit weg, als dass sie für die Parteioberen die Mühsal eines Konflikts lohnten – so schlimm kann es doch nicht stehen. Doch, SPD, es steht so schlimm. Und ohne Nachdenken wird es nicht besser.“ Schreibt Bernhard Schlink in SPIEGEL.de.

Schriftsteller Schlink hat der SPD das Todesurteil ausgesprochen. Ohne Nachdenken werde es nichts mit der Partei – und Denken ist heute in keiner politischen Gruppierung möglich. Wer einer Partei beitritt, will handeln, aktiv sein, Entscheidungen treffen – okay, zumeist im Als-ob-Status. Denken aber will er auf keinen Fall. Kann er auch nicht, denn er will Macht erringen.

Macht und Denken schließen sich aus. Eine Partei kann erst entstehen, wenn ein Kollektiv grundsätzliche Denkpositionen abgeschlossen hat, um sie in tägliche Politik umzusetzen.

Macht und Denken schließen sich aus? Macht muss Menschen für sich gewinnen, indem sie tut, als ob sie deren Meinungen teilte, ja, besser wüsste, was jene denken als sie selbst.

Heute hat sich die Situation verschärft, da jede Partei mit jeder anderen koalitionsfähig sein muss und niemand mehr hoffen darf, eine absolute Mehrheit zu erringen, die ihn unabhängig machen würde von rivalisierenden Positionen. In Darstellungen griechischer und moderner Philosophie sucht man den

  Begriff Kompromiss vergeblich.

Stopp, in Bertrand Russells ‚Philosophie des Abendlandes‘ findet man im Kapitel über Lockes demokratische Gewaltenteilung die Begriffe Kompromissbereitschaft und gesunder Menschenverstand. Wenn eine Nation nicht über diese Fähigkeiten verfüge, bliebe ihr, bei Meinungsverschiedenheit, nur noch ein Bürgerkrieg, der von Gott selbst entschieden wird.

Ob der Menschenverstand allerdings gesund bleiben kann, wenn er ständig ungesunde Kompromisse eingehen muss – darüber findet man bei Russell nichts.

Krieg oder Kompromiss? Es spricht für die zunehmende Friedensstimmung der Moderne, dass sie den Kompromiss der Gewalt vorzog. Fortschritt aber wird zum Verhängnis, wenn zwanghafte Kompromissbereitschaft, wie gegenwärtig, jedes eigenständige Denken im Keim erstickt.

Sollte es vorkommen, dass Politiker unversehens von wildem Denken heimgesucht werden, leuchtet in ihrem Neocortex sofort ein rotes Lichtlein auf: Vorsicht: frei flottierende, gefährliche Gedanken, nicht kompromissfähig. Gedanken, die man nicht für durchsetzungsfähig hält, müssen gestrichen werden. Wer jedoch nur in Kompromissen denken darf, ist wie einer, der sich Nachwuchs wünscht – ohne zeugen zu wollen.

Aufklärungszeiten sind Epochen leidenschaftlichen Philosophierens. Unsere Zeit ist geprägt von Denk-Überdruss, der bis zu Gedanken-Ekel führen kann. Logophobie ist, wörtlich, keine Sprechangst, sondern Furcht vor dem Logos. Misologie, Hass gegen das Denken, trifft die gegenwärtige Gedankenlähmung besser.

Die führenden „Denker“ der Gegenwart sind rasende Kybernetiker, die alles tun, um sich das Denken abzugewöhnen und ihren technischen Zeugungsprodukten einzuverleiben. Was sie selbst nicht können, sollen ihre mechanischen Kreaturen lernen. Der denkende Mensch wird zur Ausschussware und soll für immer von der Evolution Abschied nehmen.

Nach Kant war der mündige Mensch gekennzeichnet durch seinen „Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Heute müsste es heißen: Den nach vorne blickenden Menschen erkennt man am Abgang aus seiner mühsam erworbenen, leidlichen Mündigkeit. Seine neue Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung einer Maschine zu bedienen. Habe Mut, dich deinen eigenen Intelligenzrobotern zu unterwerfen! ist der Wahlspruch der gegenwärtigen Gegenaufklärung.

Überdruss vor eigenständigem Denken und Ablehnung aller Verantwortung für ihre riskanten Taten sind die Hauptursachen des gegenwärtigen KI-Wahns. Sie wollen keine Vorwürfe mehr hören und an nichts mehr schuldig sein. Sie wollen nicht mehr kritisieren, auf dass sie nicht mehr kritisiert werden können.

„Das Bewusstsein der Fähigkeit, Menschenfunktionen durch Automaten nachahmen, steigern und überbieten zu können, treibt zur Utopie einer künstlichen Menschenerschaffung. Ebenso wie die Fähigkeit, Materie zu manipulieren, zur künstlichen Weltschöpfung führt. In der kybernetischen Utopie bleibt die eschatologische Sicht auf ein Paradies, das die Automation durch Entlastung des Menschen zurückbringen soll.“ (F. Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt)

Ein ZEIT-Artikel dementiert die potentielle ethische Überlegenheit der Computer. Ethische Überlegungen könne man nicht in Algorithmen übersetzen:

„Die Vorstellung, dass sich Ethik in einfache Regeln gießen lässt, mag in Videospielen funktionieren. In der realen Welt sind ethische Entscheidungsprozesse aber komplexe soziale und psychologische Vorgänge, die trotz identischer ethischer Regeln je nach sozialem, politischem, religiösem oder kulturellem Hintergrund der entscheidenden Person zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Um die Regeln einer Ethikmaschine zu programmieren, müsste man sie aller sozialer Unschärfe und Menschlichkeit berauben. Ethische Entscheidungen sind viel komplexer, als man das in Softwaresystemen abbilden könnte. Darum kann die Automatisierung einer Ethik nur scheitern.“ (ZEIT.de)

Der Trost, Maschinen werden in moralischer Kompetenz ihre Erfinder nie übertreffen, beruht auf falschen Voraussetzungen. Nehmen wir an, Ethik sei so komplex, wie der Verfasser behauptet: wer garantiert, dass der Mensch diesen Herausforderungen genügt? Und dies in Zeiten, in denen moralische Fähigkeiten dem Menschen nicht nur abgesprochen, sondern verhöhnt und verspottet werden.

Nicht nur, dass der Mensch Moral nicht kann, er soll sie auch nicht können. Der tägliche Blick in die Zeitungen müsste seine Lösungskompetenz der Probleme eher fraglich erscheinen lassen. In unvermindertem Tempo rast die Menschheit ihrem Untergang entgegen – und alle globalen Eliten tun, als befänden sie sich auf einer atemberaubenden Abenteuerreise um die Welt.

Trump, Führer der Welt, lässt sich in vollendeter Realitätsverleugnung von niemandem übertreffen und „glaubt nicht“ an drohende Naturkatastrophen. Gefährlicher und existenzbedrohlicher kann ein Mann für den Fortbestand der Menschheit nicht sein.

Sind ethische Fragen überhaupt so komplex, wie stets behauptet wird? Den Sinn der Menschenrechte versteht jedes Kind. Jeder Mensch ist dem anderen gleichwertig und hat das Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen, im friedlichen Verbund mit Mensch und Natur, zu leben.

Was allerdings komplex ist, sind die in den Himmel wachsenden Hindernisse, die man der Realisierung der Menschenrechte vor die Füße wirft. Seine Probleme sollen immer komplexer werden, um den Menschen als moralischen Bankrotteur zu entlarven. Die gegenwärtige religiöse Regression des Westens verstärkt noch die Inkompetenz des irreversiblen Sünders.

Die Deutschen lieben es, bei Fragen der Moral sofort auf komplexe Grenzprobleme auszuweichen, um von der irritierenden Ausnahme auf die Unübersichtlichkeit und Unerfüllbarkeit der Regel zu schließen.

Geht es um Schwierigkeiten in der Technik, soll der Ehrgeiz der Problemlöser erst recht angestachelt werden. Geht es aber um Verwirrnisse in Moral, soll der Mensch die Finger davon lassen.

Seit Marx – Menschenrechte seien ein Trug der Bourgeoisie – wird universelle Moral mit dem Argument desavouiert, nirgendwo in der Welt bestimme sie den Alltag des Menschen. Wenn Menschenrechte vernünftiges Sollen sind, können sie von keinem rechtlosen Sein überwunden werden. Sollen will, dass sich das amoralische Sein ändere. Warum sollte es sich widrigen Umständen unterwerfen? Schaut her die heuchelnde UNO, die bigotten Politprediger – also weg mit hehrer Moral, es lebe der vitale Fortschritt, auch wenn er über Leichen geht.

Entscheidend wird nicht sein, ob Maschinen Ethik lernen oder nicht. Entscheidend ist allein die ungeheure Lähmung der Menschheit, die alle Verantwortung von sich wirft. Hinter dem Fortschrittsrausch verbirgt sich unendliche Müdigkeit, die alles den Maschinen überlassen will, gleichgültig, wie kompetent sie sein werden. Die Herrschaft der Roboter scheint unvermeidlich.

Wir haben nur eine Chance, unsere Probleme in den Griff zu kriegen, wenn wir lernen, vor lauter Bäumen nicht den Wald zu übersehen. Wir müssen den trügerischen Schein des Komplexen durchschauen, um das Einfache zu entdecken. Mit Entdeckung des Einfachen begann die rationale Entwicklung des Abendlands:

„Aber am wichtigsten ist die Tatsache, dass Thales annahm, die Welt bestehe (allem Anschein zum Trotz) nicht aus vielen Dingen, sondern aus einem einzigen. Hier begegnen wir einer Überzeugung, die das ganze griechische Denken durchzieht: das Universum im physischen wie im geistigen Sinn muss nicht nur rational und deshalb verständlich, sondern vor allem auch einfach sein. Die Vielfalt der Dinge ist nur scheinbar und oberflächlich: „Lass dich nicht von der scheinbaren Fülle und Buntheit des Lebens irre machen; dringe vor zu der einfachen Wahrheit.“ (H. D. F. Kitto, Die Griechen)

Das Hyperkomplexe, in das die Eliten vernarrt scheinen, um dem Pöbel seine Dummheit vorzuführen, ist Erbe des romantischen Mystizismus: das Leben muss undurchschaubar sein, dass wir von Schauern des Geheimnisvollen überflutet werden.

Wer heute das Einfache vertritt, gilt als volksverführender Scharlatan. Mit Verlaub: das Gegenteil ist der Fall. Wer immer das Überkomplexe und Unlösbare vor sich herträgt, will, nach getaner Tat, nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Scheitert er, will er ohne Schuld sein.

Warum hinkt die BRD in ökologischen Fragen anderen Nationen hinterher? Weil es, nach Merkel, hierzulande so schwierig ist, das Komplexe zu bewältigen. Siegernationen erkennt man an heroischen Komplikationen. Nur Loser haben simple Probleme. Das ist der Grund, warum hierzulande niemand sein Amt zur Verfügung stellt. Erst jetzt hat ein SPD-Abgeordneter seine Partei aus Protest gegen ihre Immobilität verlassen. Prompt hieß es: schon immer war er ein Quertreiber.

Sind ethische Fragen komplex, weil es unüberschaubar viele unvergleichliche Probleme gibt, die man nicht über denselben abstrakten Leisten schlagen darf? So argumentierten alle Mystizisten und Romantiker gegen das einfache Denken der Aufklärung. Partikulare Unüberschaubarkeit und Vielfalt soll die Einfachheit universeller Moral als kalte und leere Abstraktheit widerlegen.

Ab Herder wollte der Deutsche als Ebenbild Gottes nicht mehr irgendwelchen Völkern ähnlich sein. Zuerst sollte jede Nation ihr eigenes, individuelles Profil besitzen. Doch in kürzester Zeit wurde aus gleichwertiger Unvergleichlichkeit der uneinholbare Vorrang der Deutschen.

Bei Fichte bereits waren die Deutschen zu messianischen Vorbildern der Welt aufgestiegen. Patriotismus war zum Chauvinismus geworden. Ab jetzt sollte die Welt am deutschen Wesen genesen – oder sterben.

Universelle Moral ignoriert nicht die biographischen Unterschiede der Menschen und Völker: sie sind nur irrelevant, was ihre Wertigkeit betrifft. Nicht partikulare Unendlichkeit bestimmt die beliebige Moral der Einzelnen, sondern Moral, die für alle gilt, bestimmt das verlässliche Verhalten der Einzelnen.

Merkels Flüchtlingspolitik war kein Exempel für abstrakte Moral, sondern der exquisite Sonderfall einer partikularen Moral. Nicht, was der Mensch als Forderung seiner Vernunft erkennt, sondern was Gott in willkürlicher Hoheit als Moral bestimmt, hat der Mensch zu befolgen. „Ich habe Dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein.“ Nächstenliebe ist situationistisch: wen Gott dir vor die Füße wirft, dem hast du zu helfen.

Verantwortliche Politik ist das Gegenteil, sie will abstrakte Allgemeingültigkeit, in der jedes Individuum auf seine Kosten kommt. Welches Recht die Vernunft als human erkennt, das gilt für alle Menschen in gleicher Weise.

Moralische Vergleichbarkeit vermindert nicht den Wert des Menschen, sondern erhebt alle Individuen zu gleich wertvollen Wesen – bei unverminderter Unvergleichlichkeit ihrer biografischen Besonderheit.

Deutschland wäre nie auf einen nationalen Sonderweg abgeglitten, wenn es die universellen Menschenrechte nicht als arrogante Überheblichkeit eingeschätzt hätte. Aus Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber dem Westen idolisierten die Deutschen ihre Eigenart zum messianischen Vorbild aller Welt.

Urgrund der nationalen Überheblichkeit war die Antinomie der theologischen Moral: was böse ist, kann auch gut sein, das Göttliche ist zugleich das Teuflische, Mephisto ist das alter Ego Fausts.

„Der mittelalterliche Theologe Duns Scotus lehrte, das Gute sei nur gut, weil Gott es befohlen habe. Er hätte im Dekalog auch Mord, Diebstahl und Ehebruch befehlen können. William von Occam behauptete, Gott hätte sich in Bethlehem genau so gut in einem Esel offenbaren können.“ (Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus)

Christliche Antinomie – gesetzlose Unberechenbarkeit – ist die Quelle der postmodernen Beliebigkeit. Schrecklich zu sagen: ethischer Universalismus ist stets derselbe und berechenbare. In diesem Sinn könnte jede Maschine ihn in Grundsätzen „verinnerlichen“.

Aus Protest gegen diese Berechenbarkeit flüchten deutscher Sonderweg und Postmoderne in das Unzuverlässige einer partikularen Unberechenbarkeit. Hier betritt das romantische Genie die Bühne. Das göttlich Geniale muss sich stets neu erfinden und darf nie vorhersehbar verlässlich sein.

Sokrates, der immer das Gleiche sagte mit immer den gleichen Worten, gälte heute als hellenischer Simpel. Für Grimmelshausen war der Deutsche noch ein Simplicius Simplicissimus. In der Romantik hatte sich der Einfältige in einen vollendet Geheimnisvollen verwandelt.

Das Nationale wurde zur partikularen Undurchschaubarkeit, zum strategischen Vorteil im Dauerkampf gegen Feinde. Wer undurchschaubar ist, erzeugt Angst- und Unterlegenheitsgefühle bei den Gegnern. Ab der Romantik wurden aus verlässlichen Mitmenschen gefährlich-unberechenbare Übermenschen.

Hier tritt eine befremdliche Ähnlichkeit zwischen berechenbarer Rationalität des Menschen und der einer programmierten Maschine zutage. Degradiert eine transparent-vorhersehbare Ethik den Menschen nicht zur Maschine? Müsste der Maschine nicht verwehrt werden, dem Menschen ähnlich zu werden, ja, ihn zu übertreffen?

Sollte es dem Menschen nicht gelingen, mitmenschlicher zu sein als Maschinen, hätte er nichts Besseres verdient, als zu ihrer Marionette zu werden. Einerseits soll der Mensch zur humanen Utopie unfähig sein, andererseits zittert er davor, von seinen eigenen Gebilden übertrumpft zu werden. Und dennoch: perfekter könnte seine Gottähnlichkeit nicht zum Vorschein gekommen sein. Denn sein Schöpfer war es, der mit Angst und Staunen feststellte:

„Und Gott der HERR sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, daß er das Feld baute, davon er genommen ist, und trieb Adam aus und lagerte vor den Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen, hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens.“

Der Mensch wiederholt die Biografie seines Gottes, der sich gegen sein auftrumpfendes Geschöpf nicht anders zu helfen wusste, als es aus dem Paradies zu jagen und die Engel zu beauftragen, es für immer vom Baum des Lebens fernzuhalten.

Sollte der Mensch moralisch unfähig sein, seine Maschinengeschöpfe unter Kontrolle zu halten, hätte er die Tyrannei wildgewordener Golems wahrhaft verdient. Wenn seine Humanität nicht die Algorithmen einer Maschine übertrifft, hätte er schon jetzt den Wettkampf mit seinen Creationen verloren.

Es wäre nur folgerichtig, wenn er in einer Klimakatastrophe, die einzig durch rationale Moral zu verhindern wäre, das Lebensrecht auf Erden verlöre. Die moralischen Qualitäten des Menschen kann man nicht in den Staub treten und dennoch wollen, dass er seinen stupiden Maschinen ethisch überlegen sei. Welches Schweinderl hätten‘s denn gern?

Warum schließen sich Macht und Denken aus? Weil Denken die Wahrheit nur um ihretwillen sucht. Wer hingegen nach Macht strebt, kann sich eine zweckfreie Wahrheit nicht leisten.

Die Naturwissenschaften suchten noch, bis zur Erfindung der Atomspaltung, Wahrheit um ihrer selber willen. Ab der Erfindung der Atombombe war es um den zweckfreien Wahrheitswillen geschehen. Heute ist alles geheime Kommadosache. Wer nicht forscht, um seine Nation im politischen Wettkampf militärisch und ökonomisch zu stärken, kann sich seine akademische Laufbahn an den Hut stecken.

Auch in der Politik war Denken von früh an ein Störfaktor. Als Philosophie in Athen zu einem einflussreichen Faktor der Polis geworden war, wurde sie zum Bestandteil der öffentlichen Bildung, besonders der jugendlichen Propädeutik.

Dann kam das Problem. Sollten auch Erwachsene nichts besseres zu tun haben, als auf der Agora schwatzend und tiefgründelnd ihr Leben zu vertun? Sollten sie nicht ihren demokratischen Pflichten nachkommen und ihren Beruf ausüben, um sich und ihre Lieben zu ernähren?

„Sein ganzes Leben aber der Philosophie zu widmen, wäre eines freien und vornehmen Mannes unwürdig und das Zeichen seelischer Weichheit. Denn so nützlich es ist, sich eine Zeitlang mit ihren Problemen zu befassen und das jugendliche Denken zu stählen, so macht sie doch, wenn man sich zu tief mit ihr einlässt, den Menschen unpraktisch und weltfremd und somit unfähig zur Teilnahme an der Polis.“ (zit. bei Nestle)

Was man damals der Philosophie vorwarf, wirft man heute der Moral vor. Blauäugig sehe sie nicht die Realität und sei zu schwach, um die harten Herausforderungen der Welt zu bestehen.

Es geht die falsche Mär, die Griechen hätten die Handarbeit verachtet, weil sie Sklaven hatten. „Was sie hingegen wirklich verachteten, war nicht die „niedrige Arbeit“, sondern Spezialisierung und Einseitigkeit. Auch die bäuerliche Arbeit fand volle Zustimmung bei Sokrates.“ (Kitto)

Demokratische Pflichten waren zeitraubend. Kam noch die Überlebensarbeit hinzu, entstand ein Dilemma: Mußezeit zum Philosophieren war kaum noch möglich. Wer sich dennoch, ohne reichen Hintergrund wie Platon, zur Philosophie entschloss, musste mit einem kargen oder „hündischen“ Leben vorlieb nehmen.

Heute wäre ein arbeitsloses philosophisches Leben zur Hartz4-Schmach oder zur Obdachlosigkeit verurteilt. Wie aber kann Demokratie, die aus dem Geist der Philosophie geboren wurde, ohne freies Denken überleben?

Kein Zweifel: mit Ende des autonomen Denkens wird die Epoche der Demokratie zu Ende gehen. Denn Demokratie ist ein Experiment denkender Menschen.

Wenn Schlink der SPD zum Nachdenken rät: was hat er sich dabei gedacht? Sollen die Parteimitglieder aus dem Arbeitsleben aussteigen und sich freiwillig in die unwürdigen Zwänge der Sozialknete begeben, um ins freie Nachdenken zu kommen?

Denken ist zeitraubend und braucht anfängliche Distanz von der Welt, bis es weiß, wohin es will, um mit seinen autonomen Gedanken in die Welt zurückzukehren. Das hektische Arbeitsleben von Abhängigen ist mit Denken nicht kompatibel.

Denken ist nicht nur innerliches Reflektieren und hörbares Debattieren. Es erfordert auch – Bildung. Nicht als deutschen Narzissmus, sondern als Auseinandersetzen mit früheren Geistern, die schon über vieles nachgedacht haben. Wie soll ein kapitalistisch Getriebener diese Aufgabe leisten?

Die Eliten fordern zudem immer mehr denk-feindliche Maloche, die keinem anderen Zweck dienen soll, als das ständig vom Absturz bedrohte Vaterland an die Spitze der Weltmächte zu bringen. Arbeit wurde zur Religion. Ora et labora? Nein, orare est laborare, arbeiten ist beten.

Wird die SPD ins Denken kommen? Dazu scheint sie, wie alle anderen Parteien, zu machtsüchtig und kompromissverdorben. Kompromisse aber verbieten jegliche Folgerichtigkeit und Gründlichkeit des Denkens.

Für die Kanzlerin ist Philosophie nichts als Torheit der Welt vor Gott. Dennoch bleibt über den Häuptern ihrer Untertanen das Damoklesschwert hängen mit der Inschrift:

Wenn ihr nicht von vorne beginnt und denkend euer Leben auf den Kopf stellt, werdet ihr die finale Tragödie nicht mehr verhindern. Eine kurze Weile habt ihr es noch in der Hand!


Fortsetzung folgt.