Kategorien
Tagesmail

Sofort, Hier und Jetzt XIX

Sofort, Hier und Jetzt XIX,

mit Kompromissen in den Abgrund. Ausgerechnet Merkel. Weder kann sie Klardeutsch, noch scharf debattieren. Gerade sie will den Deutschen das Debattieren beibringen.

Überall in den Medien gibt es willfährige Anne Wills, die Gesprächssimulationen mit der Kanzlerin anbieten. Wie kann jemand, auf Seiten der Mächtigen, streiten, der sich asymmetrischer Klarheits-Demobilisierung bedient? Wie kann jemand, auf Seiten der Medien, streiten, der sich meinungslosem Beobachten unterwirft?

Mächtige haben Meinungen, wollen sie aber nicht verraten, damit sie keine Angriffe provozieren. Beobachter haben Meinungen, wollen sich aber nicht kenntlich machen. Sie könnten ihre Nähe zu den Mächtigen gefährden.

Wer war es, der den direkten Schlagabtausch der Kandidaten im Wahlkampf stets verweigerte – stattdessen Stichworte bevorzugte, deren Beantwortung sie mit ihren „Kommunikations-Designern“ eingeübt hatte?

Wer sich dem Publikum vorstellt mit dem Satz: Sie kennen mich, der gibt sich transparent. Transparente müssen sich nicht erklären. Schwaben hängen morgens ihre Bettwäsche aus den Fenstern, um zu demonstrieren: heute Nacht sind wir sauber geblieben. Merkel, die Geheimnisvolle, zeigt sich, wie Gott sie schuf und singt zum Frühgebet:

Ich bin klein,
mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesus allein.

Eine Magd Gottes ist für eine christliche Nation ein Mysterium, was beweist, ihre Religion ist den Deutschen ein unergründliches Rätsel. Sie können nicht

  verstehen, dass eine fromme Frau den Weisungen ihres Gottes folgt und … Und was? Und nichts Eigenmächtiges tut. Sie tut, was Gott ihr befiehlt, den Rest übergibt sie Ihm allein.

Befiehl du deine Wege
und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege
des, der den Himmel lenkt.

Dem Herren musst du trauen,
wenn dir’s soll wohlergehn;
auf sein Werk musst du schauen,
wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen
und mit selbsteigner Pein
lässt Gott sich gar nichts nehmen,
es muss erbeten sein.

Nicht sie ist die Täterin ihrer Taten, Gott ist es, der alles wirkt und schafft.

Personalkarussell, die aufregendste Geisterfahrt der Politik. Alphaschreiber greifen zur Feder, Blei liegt in der Luft. Es dräut und blitzt am Firmament. Geschichte, der Modernen liebstes Kind, dreht sich ächzend in den Grundfesten. Wer muss gehen, wer kann sich halten, wer ist Star der Zukunft, wer wird verbannt?

Würde, wie durch ein Wunder, die Presse eine Woche lang in Tiefschlaf versetzt – um danach augenreibend die Politszenerie zu beschreiben: nichts hätte sich verändert. Alles wäre beim Alten geblieben. Nur die hektischen Staffageweiblein und -männlein wären andere.

Ja, stünde eine andere Politik an, wie müssten sie sich nicht ins Getümmel werfen, um die neuen Grundsätze zu beschreiben, ihre Begründungen zu analysieren, ihre Berechtigung zu debattieren. So aber geht’s um nichts, und je nichtiger, umso mehr müssen sie die Drehorgel in Bewegung setzen. Abschied nehmen, jemanden für tot erklären, bewegende Nekrologe halten, die Subjekte der Zukunft in Bethlehems Stall ausfindig machen, orakelhaft nach vorne schauen: das ist der Propheten, pardon, der Edelschreiber liebste Betätigung. Zeitzeugen, keine Zeittäter, beobachtend am Rand, nicht mitten drin gewesen sein, Daumen rauf, Daumen runter, damit Chefredakteure sich nicht langweilen, das ist der Presse Herzensbetätigung.

Prantl spricht von einem Donnerschlag. Als Kenner des theatrum mundi fühlte er sich an eine klamaukartige „Enthauptung“ auf dem Oktoberfest erinnert.

„Wir zelebrieren die Enthauptung einer lebenden Person auf offener, hell erleuchteter Bühne“, sagt die Werbung für dieses „Original-Zauber-Spezialitäten-Theater“. 25 Aufführungen gibt es auf der Wiesn jeden Tag. So eine Vorführung gab es nun auch in Berlin.“ (Sueddeutsche.de)

Dabei war es nicht einmal ein Donnerschlägchen, es war eine belanglose Wahl. Brinkmann, der Nachfolger will alles lassen, wie Merkel es will. Eine eigene Bewertung gibt Prantl nicht ab. Er beobachtet nur und schnalzt mit Kennermiene. Doch am Schluss kommt das unvermeidliche Amen: ‚Herr, schütze unsre Obrigkeit, eine bessere haben wir nicht‘:

„Sie ist eine ungewöhnliche Frau.“

Ungewöhnliche Persönlichkeiten sollten ins Kuriositätenkabinett. Galt Merkel bislang nicht als ungewöhnlich … bieder, nüchtern und unauffällig? Ach ja, Politik ist Erhaschen des Außerordentlichen, ordinäre Exemplare des homo deus wären fehl am Platz:

„Politik ist, daß man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, einen Zipfel seines Mantels zu fassen.“ Sprach nicht irgendein Kanzler, sondern ein eiserner.

„Auf dem Marsch nach Valmy findet Goethe einen schönen wohlbestellten Weinkeller. Er nimmt zwischen die ausgespreizten Finger jeder Hand zwei Flaschen, und zieht sie unter den Mantel. Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“

Ja, wenn noch ein Bakschisch herausspringt, ist man umso lieber Fenstergucker der Geschichte. Je kreischender sich die Kulissen drehen, umso mehr soll – der Stillstand vergessen gemacht werden. Wenn Merkel ginge: was würde sich ändern? Wenn Schäuble, Spahn, Kramp-Karrenbauer oder Friedrich Merz (ja, der mit den Bierdeckeln, der Einzige, der für die WELT Merkels Wurschteln beenden könnte) nachkämen: würde sich die Europapolitik ändern, der Hambacher Forst erhalten bleiben, Kitas eingerichtet, menschenfreundliche Wohnungen gebaut werden und demokratischer Eifer in den Schulen neu erblühen?

Die Deutschen wollen es nicht begreifen: es geht um Politik, nicht um auswechselbare Personen. Ja, wenn verschiedene Personen für verschiedene Politik stünden. So aber werden individuelle Eigenschaften geschildert, als garantierten sie eine unvergleichliche Politik.

Warum muss Merkel Gefühle zeigen, sich so oder anders geben? Damit ihre Politik vorbildlich genannt werden kann? Warum muss sie kalt, mysteriös, nicht nachtragend, nach allen Seiten distanziert, eine nüchterne Physikerin sein? Um die Probleme der Gesellschaft exemplarisch zu lösen?

Alle privaten Belanglosigkeiten werden aufgeführt, um ihre substanzlose Politik mit dem Heiligenschein zu umgeben, nur das einzig Private, das ihr charismatisches Wurschteln erklären könnte – ihr Gottvertrauen – bleibt ein Tabu. Religion darf im Land der Kreuze nicht sichtbares Verhalten werden.

Die Deutschen lassen nichts über ihren Glauben kommen, doch seine alltägliche Wirkung muss ausgeblendet werden. Das Private, das keine Spuren in der Politik hinterlässt, ist das Idiotische. Wie sehen sie aus? Wie geben sie sich? Verhaspeln sie sich beim Reden? Stets wird das Entscheidende aus dem Belanglosen abgeleitet.

Das ist das Grundschema des SPIEGEL-Stils. Zuerst das Ambiente, dann: wie er sich räuspert, wie er spuckt – daraus wird auf das Überpersönliche geschlossen. Sie wollen das alte Rätsel lösen: Wie kann aus Nazareth Gutes kommen? Aus unscheinbaren Anfängen das spätere Werk, aus winzigen Samen die erstaunliche Frucht. Aus einer unscheinbaren Pastorentochter, geboren im Sozialismus, niedergefahren in einen gottlosen Staat, aufgefahren zur Macht einer freien Gesellschaft, wurde die mächtigste Frau der Welt.

Sollte sie eines Tages im Dunkel der Geschichte verschwinden, wird sie zur Mona Angela, zur Madonna, zur Heiligen der Deutschen. In ihrer Kanzlerin wollen sie sich erkennen. Sie wollen sein wie sie: zuverlässig, bieder und fleißig. Was sie nicht können, das soll sie stellvertretend für sie vollbringen. Sie soll ihre Schwächen ausgleichen, vor der Welt Ehre für sie einheimsen.

Wenngleich sie gelegentlich skurril, ja peinlich wirkt (peinlich ist das Wort, mit dem die Pubertierenden ihre Eltern zu bezeichnen pflegen): am Ende wird sie es der Welt zeigen. Wenn sie in der Welt anerkannt wirkt, fühlen sich die Deutschen von der Welt anerkannt.

Alle Beschreibungen ihrer Person wären nur von Bedeutung, wenn die Analytiker wüssten, dass es nicht um sie, sondern um die Deutschen geht. Dann wüssten sie: alle Kritik an ihr ist anonyme Kritik an den Deutschen. Alles Loben ihrer Person ist verborgenes nationales Lob. Sie kleben an ihr, weil es um sie geht, doch niemand soll es merken. Das Merkel-Theater soll ablenken von ihrem eigenen Wurschteln, von ihrer eigenen Teilnahmslosigkeit und sozialen Kälte, ihrer Unfähigkeit, die gesamte Wirklichkeit wahrzunehmen.

Fontanes Schilderung der Deutschen hat sich heute nur in Nuancen geändert:

„Sie sind eng, geizig, neidisch, rechthaberisch, wollen nehmen und nicht geben, huldigen mehr der Schein-Ehre als der wirklichen und entbehren in einem unglaublichen Grade der Hochherzigkeit, des Edelmuths und der Gabe zu verzeihen und Opfer zu bringen. Sie sind selbstsüchtig, hart und unliebenswürdig.“ (In einem Brief an Mathilde von Rohr)

Wie genau diese Sicht der Deutschen den Erfahrungen einer Türkin entspricht, die hier lebte und in ihre Heimat zurückkehrte:

„Soll kein Vorurteil oder Hass oder sowas sein, versteht mich nicht falsch! Ich bin Türkin, lebe mittlerweile in der Türkei und wenn ich hier die Menschen mit den Menschen in Deutschland vergleiche ist das echt ein großer Unterschied. Hier sind die Menschen so warmherzig und man hat halt so ein Gefühl als wäre man wirklich „angekommen“, halt so ein „Familien-Gefühl“ (nein liegt nicht daran dass ich aus der Türkei komme, da ich Türkei nicht wirklich mag) …. aber in Deutschland ist das ganz anders. Draußen sind sich die Leute so fremd, so einsam und kalt irgendwie. Allein im Internet sieht man das, es kommt wirklich oft vor dass man einfach kalt und hochnäsig behandelt wird. Woran liegt das nur?“

Woran das liegt? Daran, dass die Deutschen ihr privates Leben mit politischer Kälte ausgestattet haben. Ursprünglich waren sie unpolitisch. Dann lernten sie Politik nach machiavellistischer Art, die sie bewunderten und zum einzigen Maßstab ihres Tuns erhoben. Sie wollten gefürchtet sein, wenn sie die politische Arena betreten würden.

Den anfänglichen Kontrast zwischen privater Moral und politischer Amoral nivellierten sie und wurden privatistische Machiavellisten. Auf die Dauer schafften sie es nicht, nebeneinander warmherzige Sippen- und Familienmitglieder – und eiskalt berechnende Politiker zu sein. Als ihr Volk zur völkischen Einheit zusammenrückte, verschmolzen sie beides. Sie wurden eiskalte politische Menschenfeinde – und warmherzige Väter und Mütter. Mitten in ihren Verbrechen blieben sie anständig. Anständig sind sie noch heute unter ihresgleichen, wenn sie Fremde jagen und Hetzjagden auf sie veranstalten.

Hegels Hass auf die Moral, die er zur Kammerdienermoral degradierte, grassiert noch heute, wenn sie nicht müde werden, der Moral eine Nase zu drehen. Sie wollen Menschen von internationalem Format sein. Die Welt soll vor ihnen den Hut ziehen und Respekt bezeugen. Als Moralisten fühlen sie sich ärmlich und lächerlich. Früher nannten sie sich Idealisten, das hatte mit Moral nichts zu tun.

Heute müssen sie Leistung zeigen, Erfolg haben. Ihre Banken, Betriebe und Hochschulen müssen Weltniveau zeigen. Ohne Leistung fühlen sie sich nackt und bloß. Sie bringen das Kunststück fertig, als „Idioten“ politisch zu sein, während sie sich als Demokraten unpolitisch, also idiotisch geben. Das ist die Anziehungskraft Merkels, dass sie als Politikerin mütterlich scheint, um der gesellschaftlichen Kälte Paroli zu bieten. Solange die Deutschen eine Mutter besitzen, die sich warmherzig gibt, können sie als Privatiers Kälte verbreiten.

Merkel wurde zum Opium des Volkes, damit die Tüchtigkeit der Deutschen zur religiösen Auserwählung wird. Ihr bester Freund Seehofer betet die Heimat an. Nur deshalb, weil die deutsche Heimatliebe in der Welt einmalig ist:

„Vor allem eine Eigenschaft kommt uns dabei sicherlich zugute: die enge emotionale Bindung an unsere Herkunft, unsere regionalen Wurzeln, kurz unsere „Heimatliebe“. Keine andere Sprache und Kultur kennt etwas Vergleichbares. In Amerika spricht man von der German Heimat und meint einen ganz besonderen Sehnsuchtsort damit.“ (WELT.de)

Die linden Lüfte der Nächstenliebe scheinen zu wehen, wenn Merkel Audienz hält und mit dem Einzelnen spricht. Alle Vereinzelten am Bildschirm erkennen sich dann in jenem wieder. Wenn sie sich zu Kindern in der Kita niederbeugt. Wenn sie ihrem Volk sagt: ich verstehe Eure Sorgen. In diesen Augenblicken scheint das Menschliche die kalte Politik überwunden zu haben. Und wenn es nur zum Schein wäre: wäre der Schein nicht besser als Nichts?

Es waren deutsche Eliten, die ihre Unfähigkeit, eine menschliche Politik zu entwickeln, dem Volk per Bildung einbläuten. Man las Goethe und ließ sich mit dem Spruch: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, hinters Licht führen. Selbst der Historiker Friedrich Meinecke, der als einer der Wenigen die deutsche Katastrophe nach dem Krieg analysierte, riet den Deutschen zur Gründung von Goethe-Vereinen – um seelisch zu gesunden. Dabei war es Goethes Bewunderung für den Teufel, der das Teuflische seiner Nation absegnete und zum faustischen Prinzip erhob. Ohne Mephisto keinen Fortschritt, keine Kultur und keinen Kitzel des Abgrunds. Heute erklingt noch immer das Loblied auf Mephisto, der alles wagt und wenn er dabei drauf gehen sollte:

„Wir brauchen Erfinder und keine Abstauber. Wir brauchen Zauberer und keine Erbsenzähler.“ Es ginge um „Glück und Geschwindigkeit; um Erfinden und Improvisieren; um den Bau von Maschinen unter extremen Bedingungen in feindseliger Umgebung; um die Freude an den eigenen neurologischen Waffensystemen; um die Entschlossenheit, sich lieber zu zerstören, als sich geschlagen zu geben.“ (SPIEGEL.de)

Paradox: der Mangel an Politik wurde zur Politisierung des Privaten, das seine Moral opfern musste, um auf das Niveau einer amoralischen Politik zu kommen.

„Die Ursache für diesen Mangel an gesellschaftlichem Engagement müssen in der Literatur gesucht werden. Es war ein tief verwurzeltes Vorurteil, dass Schriftsteller sich mit transzendenten Themen und geistigen Werten beschäftigen sollten, während die Politik der Gesellschaft sie nichts anging. Erich Auerbach hat dargelegt, dass diese seltsame Unterscheidung viel der überragenden Gestalt Goethes verdankt, dessen Interesse für die gesellschaftliche Entwicklung gering war. Das Anwachsen der Industrie und die zunehmende soziale Mobilität waren ihm „unerfreulich“. Seine eigenen Romane spielten in einem anderen Umfeld. Der modernen Struktur wandte Goethe keine Aufmerksamkeit zu.“ (Nach Craig, Über Fontane)

Noch schlimmer: Goethe lehnte die Moderne ab, die er in seinen Werken mit all seiner Darstellungskunst verherrlichte und propagierte. In Christopher Marlowes „Doktor Faustus“ war Mephisto noch das absolut böse Prinzip. Bei Goethe wird das Böse zum Motiv des Guten. Der Teufel wird zum Engel, das Böse zum Guten.

Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.

Da schwappten verschiedene Elemente übereinander, die von ihrem Ursprung nicht zusammengehörten. Die Aufklärung wollte das Böse aus der Welt jagen, weil der Mensch letztlich ein vernünftiges Wesen ist. Die Theologen wollten Gott rechtfertigen, indem sie das Böse als „List des Schöpfers“ entdämonisierten und dem guten Endzweck zuführten. Es gibt kein Böses, das das Gute ausschlösse. Es gibt kein Wahres, das unverträglich wäre mit dem Unwahren. Wird das Gute zum Bösen, das Böse zum Guten, wird alles grau in grau – und damit gut. Nichts muss mehr bekämpft werden. Jeder darf sich sagen: wird schon. Gott wird es richten.

Das ist Merkels Glaube, der sich vor der Sünde nicht hüten muss. Mutter Angela: sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Der Glaube wird deine Sünden zu Tugenden machen. Warum sollte die Kanzlerin nicht in sich ruhen, wenn sie Gott auf ihrer Seite weiß?

In dieser dialektischen Auflösung aller Widersprüche gründet Merkels Plädoyer für den allversöhnlichen Kompromiss:

„Demokratie brauche Debatte, aber ihrem Eindruck nach gehe es häufig in erster Linie darum, gegensätzliche Standpunkte aufeinanderprallen zu lassen. Sie frage sich: «Wo bleibt die Wertschätzung des Kompromisses, der nach meiner Meinung die Grundlage für gemeinsamen Handeln ist.» Wo der Kompromiss verächtlich gemacht werde, «da ist Demokratie in Gefahr», sagte Merkel. Demokratie bedeute immer auch Schutz und Stärkung der Minderheit. Zudem sei in der politischen Arbeit Optimismus, Zuversicht und Tatkraft nötig und nicht «Larmoyanz, Untergangseuphorie und Rumgenörgel».“ (WELT.de)

Hier enthüllt Merkel ihre mütterliche Kehrseite: sie versteht ihre Kinder nicht und verbittet sich volks-schädliche Gefühle. Was Kritik ist, entscheidet sie. Larmoyanz, Untergangseuphorie und Rumgenörgel gehören nicht dazu. Sie ermahnt zu Win-win-Verhalten und kritisiert Trumps Motto: dem Gewinner alles.

Win-win-Verhalten aber wäre das Ende des Kapitalismus. Es wäre das Ende der ungerechten Kluftbildung zwischen Arm und Reich. Merkel gibt sich verantwortlich für die Schwachen, bei Griechenland aber hat sie jegliche Solidarität vermissen lassen. Nun tut sie, als ob sie altruistisch-egoistische Wirtschaftspolitik betreiben würde. Warum aber wächst der Abstand in Deutschland zwischen Oben und Unten immer mehr? Aktuelles Beispiel:

„Wenn der Besitz oder Nichtbesitz dieser oder jener Vermögenswerte derart stark über die Ungleichheit zwischen Reich und Arm entscheidet, heißt das nichts Gutes für ein Land wie Deutschland – in dem es vergleichsweise wenig Aktien- und Immobilienbesitzer gibt, und wo Aktien- wie Immo-Preise in den vergangenen Jahren stark gestiegen sind. Dann drohen Reich und Arm so spektakulär weiter auseinanderzudriften wie in kaum einem anderen Land. Keine gute Zeit, um die Spaltung des Landes zu überwinden.“ (SPIEGEL.de)

Merkel lebt im dialektischen Phantasieland, in dem alles es selbst und zugleich sein Gegenteil ist. Es ist die Hegel‘sche Versöhnung von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Wahr und Unwahr, Gut und Böse. „Gott wird sein alles in allem“: die finale Idylle des christlichen Glaubens wurde Realität in der politischen Gegenwart der Deutschen. Es ist eine neue Variante des 1000-jährigen Reiches oder Gods own country in Germany. Wer diesen Traum ablehnt unter Genörgel und Gejammer, gehört nicht zu den Berufenen.

Glauben an das zweite deutsche Paradies ist die erste Bürgerpflicht. Deutschland hat nicht nur seine eschatologische Vergangenheit reanimiert, es hat aufgeschlossenen zu seinen messianischen Vorbildern Amerika und Israel. Drei Länder, drei biblische Verheißungen. Doch jetzt der Riss in der Dreieinigkeit. Die zwei anderen Paradiese trennen sich von Deutschland und Europa. Im säkularen Europa fühlt Merkel sich zunehmend unbehaust. Zu Trump und Netanjahu darf sie sich nicht offenherzig bekennen, doch Europa hängt ihr zum Hals raus.

Warum flog sie nicht nach New York, um in der UN-Vollversammlung dem amerikanischen Präsidenten und Hitler-Verehrer, Hand in Hand mit Macron, mit scharfen Worten zu widerstehen? Hier zeigt sich die Feigheit ihrer Kompromiss-Ideologie, die vor faulen Kompromissen nicht mehr fähig ist, Klartext zu reden.

Was ist der Unterschied zwischen faulen und vertretbaren Kompromissen? Solche Fragen werden hierzulande nicht gestellt. Jeder Kompromiss hat notwendig und gut zu sein. In Prantls Artikel „Ein Hoch auf den Kompromiss“ gibt es nur vorbildliche Kompromisse. Der unseligen Verdammung Andersdenkender in theokratischen Zeiten will sich Prantl durch Überschlag entziehen. War jeder Kompromiss früher schlecht, muss er jetzt immer gut sein:

„Nicht der Politiker ist ein guter Politiker, der den anderen verteufelt, den Gegner einen Lügner nennt und ihm am liebsten an die Gurgel gehen würde. Und nicht diejenige Partei hat Problemlösungskompetenz, welche die simpelsten Lösungen anbietet.“ (Sueddeutsche.de)

Ihre dialektischen Rösselsprünge haben die Deutschen zur Differenzierung unfähig gemacht. Es gibt eine notwendige Kompromisslosigkeit im Denken. Nur sie ist in der Lage, im Schutz ihrer scharfen Profile Zugeständnisse an den andersdenkenden Partner zu machen.

Wer kompromisslos auf seiner Wahrheit besteht und sie nur ändert, wenn er bessere Argumente hört, ist weder ein starker Mann, noch muss er seine Gegner zu Feinden stilisieren. Prantl offenbart eine erschreckende Unkenntnis jener strikten Wahrheitssuche in Griechenland, die zur demokratischen Polis führte.

Kompromisse sind notwendig in der Demokratie, aber nur, wenn sie durch die Gemeinsamkeit demokratischer Überzeugungen geschützt sind. Wer nach Rom will, kann sich über die beste Route streiten. Letztlich wird man sich einigen können, denn das Ziel steht fest. Viele Wege führen nach Rom.

Urgewissheiten müssen kompromisslos festgehalten werden. Ziel aller demokratischen Bemühungen muss das humane Leben für alle Menschen sein. Solange das gemeinsame Ziel ungefährdet ist, sind alle Kompromisse vertretbar.

Solange die Deutschen den Eindruck hatten, beim Nachlernen der Demokratie, inmitten gleichgesinnter Freunde und Verbündeter, auf dem richtigen Weg zu sein, waren alle Kompromisse willkommen und hilfreich. Denn das Ziel war klar.

Dieser Konsens ist geplatzt. Spätestens mit der Gefahr eines klimafeindlichen Suizids müssen alle Selbstverständlichkeiten auf den Tisch. Nichts, was nicht dreimal umgedreht werden müsste: was dient dem Überleben der Gattung, was führt in den Abgrund?

Vom humanen Fortschritt redet niemand. Der technische Fortschritt gaukelt den Menschen vor, all ihre moralischen Defizite könne er ausgleichen. Erneut verlässt sich die Menschheit auf fremde Erlöser, anstatt sich selbst zu ändern und jene Humanität zu erlernen, die zur friedlichen Menschheit führen kann. Humane Visionen werden verabscheut, technische angebetet.

Wie können Kompromisse gebildet werden, wenn es keine klaren Alternativen gibt – die Kompromisse erst erforderlich machen? Wenn schon die Ausgangsprämissen kompromittiert sind, kann das Entgegenkommen auf gleicher Augenhöhe nur Augenwischerei sein.

Nicht lange her, dass Merkel die TINA-Melodie sang: Es gibt keine Alternative zu meiner Politik. War das die Voraussetzung einer kompromissbereiten Alltagspolitik?

Und wer schließt stets kategorisch die Zusammenarbeit mit den Linken aus? In wie vielen Landesparlamenten sind die Linken mittlerweilen vertreten? Biegsam bis zur Konturlosigkeit auf der einen Seite, starr und unbeweglich auf der anderen: das ist Merkels seliges Durchwurschteln durch die irdische Sündengeschichte – bis eines Tages der Herr kommen wird.

Merkel – in politischer Philosophie eine Ignorantin – versteht nicht, dass der Verfall der Gesellschaft die Frucht fauler Dauerkompromisse ist. Das Wettrennen um grenzenlose Gewinne hat zur Zerstörung der Natur und zur asozialen Zerrüttung der Menschheit geführt. Hier gibt es keine Kompromisse mehr.

Hambach ist ein Frevel an der Zukunft der Menschheit. Merkels faule Kompromisse in ökologischen Fragen sind Verbrechen am Überleben der Gattung. In Fragen des Überlebens ist jeder ökologische Kompromiss eine Bankrotterklärung der Führungsklassen. Gewaltloser Widerstand gegen diese Schandtaten ist die kategorische Pflicht jedes Demokraten.

Prantls blinde Kompromiss-Schwärmerei bezieht sich auf einen Satz des israelischen Philosophen Avishai Margalit:

„Ideale können uns etwas Wichtiges darüber sagen, was wir gern wären. Kompromisse aber verraten uns, wer wir sind.“

Einspruch, wir sind, was wir gerne wären. Was wir noch nicht sind, können wir lernen. Es ist kein Wahn, dass wir Menschen sind, die Menschen werden wollen. Von Natur aus sind wir weder dumm, sündig, noch lernunfähig. Was wir sein wollen, sind wir – in Entwicklung. Wer zwischen Norm und Realität, Ziel und Wirklichkeit, einen unüberbrückbaren Graben zieht, unterstützt die Menschenfeindschaft der Erlöser. Der Mensch kann seine humanen Unfähigkeiten erkennen und durch Selbsterkenntnis überwinden.

Dass die Mehrheit die Regierung bestimmt, ist ein eingebauter Kompromiss, der jede faschistische Zwangsbeglückung unmöglich macht. Niemand hat das Recht, sich zum elitären Weisen oder Experten zu ernennen, der die Gesellschaft nach seiner Pfeife tanzen lässt. Das Ergebnis einer Wahl muss nicht die reine Wahrheit sein. Es ist ein Kompromiss aus Gleichheit aller Menschen – und ihrer Wahrheitsfähigkeit. Demokratie ist eine Gesellschaft auf der kollektiven Suche nach der Wahrheit.

In der Gegenwart muss das Überleben der Gattung an erster Stelle stehen. Kompromisslos. Kompromisslos ist keine Lizenz zur Gewalt. Alle Kompromisse sind faul, die, aus Macht- oder Profitgründen, diese Grundforderung aushebeln. Im Denken gibt es nur die kompromisslose Suche nach der Wahrheit. Nur in praktischen Fragen kann man sich in der Mitte treffen.

Denken ist nur der Wahrheit des eigenen Verstandes verpflichtet. Dann aber muss es sich auf dem Marktplatz dem Wettbewerb um die Wahrheit stellen. Praktische Kompromisse sind erst fällig, wenn der Versuch dialogischer Verständigung gescheitert ist. Dann erst ist ein Kompromiss durch symmetrisches Entgegenkommen notwendig.

Praktische Kompromisse müssen im demokratischen Alltag erprobt und getestet werden. Im nächsten Wahlkampf müssen sie erneut in theoretischer Radikalität als alternative Programme angeboten werden. Erhält keine Partei die absolute Mehrheit, müssen Koalitionen die unvermeidlichen Kompromisse auskämpfen. Bei der nächsten Wahl dasselbe Spiel – mit neuen Erfahrungen.

Kollektive Lernerfahrungen wären der einzige Fortschritt, auf den der Mensch stolz sein könnte. Es wären Fortschritte in Menschlichkeit und Wahrheitsliebe.

 

Fortsetzung folgt.