Kategorien
Tagesmail

Sofort, Hier und Jetzt XCVII

Sofort, Hier und Jetzt XCVII,

Angela Merkel übt zivilen Ungehorsam gegen Trump: sie verspricht die Erhöhung des Militäretats – und hält ihr Versprechen nicht.

Das ist löblich. Die besten Armeen sind jene, deren Waffen und Geräte verrotten. Durch pazifistische Verwahrlosung hofft Merkel, doch noch den Friedensnobelpreis zu erhalten – und Greta Thunberg vor der Nase wegzuschnappen.

Angela Merkel übt listige Obrigkeit und lobt die Freitagsdemonstranten: gut, dass ihr uns einheizt. Über lästige Schulpflicht zu reden, überlässt sie nachgeordneten Behörden.

Schulpflicht und ziviler Ungehorsam sind in Deutschland föderale Angelegenheiten. Das Gewissen ist fest in Händen des Kultus. Kultus ist „Verehrung einer Gottheit durch religiöse, rituelle Handlungen“ – Kultusminister sind demnach Angestellte Gottes.

Gewissen haben Abgeordnete nur, wenn sie sich vom Volke wählen lassen, nicht aber daran denken, seine Aufträge auszuführen.

Wenn Abgeordnete ihrem Gewissen folgen, üben sie zivilen Ungehorsam gegen das Volk, (pardon für die Herabstufung); sie zelebrieren spirituellen Ungehorsam gegen den Pöbel. Der Pöbel – das „Volk“ – hat kein spirituelles Gewissen, es kann nur heidnischen Einflüsterungen des Ungehorsams gegen die Obrigkeit folgen.

Normale Deutsche praktizieren keinen zivilen Ungehorsam. Sie sind stolz darauf, ein spirituelles Volk zu sein – das sich erkühnt, seinen Priestern durch die Hintertür zu entkommen. Jährlich verlassen X-Tausende die Kirche, ohne einen Mucks über ihre Beweggründe verlauten zu lassen. Gleichzeitig halten sie sich für spiritueller als die Kultusdiener der Kirchen. Diesen Popenklamauk, nein, den brauchen sie nicht, um

  sich für wahrhaft christlich zu halten.

Andere Völker müssen ihnen das erst mal nachmachen: sich zu einem Glauben zu bekennen, von dem sie nichts wissen. Wissen wollen, wurde ihnen jahrhundertelang eingebläut, ist Sache der Ungläubigen. Wahre Gläubige folgen der Stimme ihres Herzens. Fehlendes Wissen kann problemlos ersetzt werden durch Ge-wissen.

Die Würde des Menschen ist hierzulande unantastbar: heiliges Ehrenwort. Nur der Staat darf sie antasten und die Gesellschaft würdelos dem CO2-Tod ausliefern. Einzelne Personen müssen würdelos am Leben bleiben. Haben die obersten Richter entschieden und Ärzten die Erlaubnis gegeben, ihre halbtoten Patienten vor einem würdigen Tod zu retten.

Demokratische Werte ohne geistliche sind nichts, weshalb sie nach Belieben exstirpiert werden dürfen:

„Der Ethiker Wolfgang Huber hat recht: Würde ist unantastbar, weil sie mir verliehen wird – ich glaube: von Gott. Wenn ich sie selber stifte und ihre Grenze bestimme, dann taste ich sie an. Deshalb ist das Tabu gegenüber der Hilfe zum Sterben richtig. Die Bundesärztekammer hat sich im Februar zu Recht dagegen gesperrt, dass Ärzte tödliche Medikamente verschreiben. Hiob klagte Gott an, dass er ihm das Leben zumutet, obwohl er ihm alles genommen hat: seinen Besitz, seine Familie, seine Gesundheit. Sein Zustand war aussichtslos und sein Leiden unerträglich.“ (ZEIT.de)

Es gibt nicht nur eine Schul-, sondern auch eine Lebenspflicht – selbst wenn das Leben nicht mehr lebenswert wäre. Nicht der Einzelne kann das bestimmen: wer bist du, Mensch, dass du dem himmlischen Lebensspender ins Handwerk pfuschen willst? Dein Leben, und wäre es noch so würdelos, ist immer voller Würde. Würde ist nicht das, was man erlebt, empfindet und für sich selbst bestimmt, sondern was man entgegenzunehmen und zu glauben hat:

„Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun die Antwort auf diese Frage gegeben, mit einem Grundsatzurteil: Ärzte können für eine künstliche Lebensverlängerung nicht haftbar gemacht werden, auch dann nicht, wenn sie ohne jeden medizinischen Sinn war. Und zwar deshalb, weil das Leben juristisch niemals als „Schaden“ eingestuft werden dürfe, sei es auch noch so leidvoll: „Das Urteil über den Wert menschlichen Lebens steht keinem Dritten zu“, sagte die BGH-Senatsvorsitzende.“ (Sueddeutsche.de)

Dem Dritten und dem Ersten nicht. Aber den Vierten im Richtertalar. Wenn Würde ein Geschenk Gottes ist, darf der Schenker auch bestimmen, wie lange sie zu gelten hat. Läppische Selbsteinschätzungen sind ehr- und würdelos. So weit kommt es noch, dass demokratische Werte der Selbstbestimmung des Menschen ausgeliefert wären. Der Mensch ist theonom, nicht autonom. Hiob, nicht Kant, ist das Vorbild der Moderne:

„Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten.“

Der Einzelne darf nicht sterben, wann er gerade will. Aus Jux und Tollerei würde er sich ins Messer stürzen. Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. Was wäre das für ein liederliches Profitstreben, mit dem eigenen Tod noch Gewinn zu machen?

Die Gattung hingegen muss sterben, wann sie muss. Wer hier Lebensrettung betreiben wollte, verstieße gegen das altpreußische Gesetz: Hunde, wollt ihr ewig leben?

Geburt ist ungefragtes Geworfensein ins Leben, Tod ungefragter Rauswurf aus dem Leben. Zwischen ungefragt und ungefragt werden keine Fragen gestellt. Würde ist, wenn niemand antworten kann, weil niemand Fragen stellt. Noch Fragen, Kienzle?

„Das Leben darf niemals als Schaden eingestuft werden, sei es auch noch so leidvoll.“ So sprechen Priester, keine Richter. Jeder weiß es: im Hintergrund dieses Urteils ist das NS-Verbrechen am „lebensunwerten Leben“ mitzudenken.

Doch hier schlägt die vergötterte Dialektik zu: Einerseits werden alle Widersprüche versöhnt, ob sie wollen oder nicht. Andererseits werden angebliche Gegensätze zu Heilmitteln erklärt.

Das lebensunwerte Leben war keine Selbstbeurteilung der NS-Opfer. Es waren Fremdurteile, die mit Gewalt an Wehrlosen exekutiert wurden.

Wie erklären wir uns, dass auch demokratische Richter nicht die Menschen befragen und ihre Autonomie respektieren, sondern erneut von außen dekretieren, was jene zu tun oder zu lassen haben? Das angebliche Gegenteil ist eine unerkannte Identität mit anderen Vorzeichen: noch immer ist der Mensch nicht Herr seines Schicksals.

Er ist Marionette der Heilsgeschichte, seiner Gehirnstrukturen, seines unfreien Willens, eines göttlichen Marktes und triumphalen Fortschritts. Wie kommt diese vermaledeite Kreatur dazu, an den eigenen Lebensfäden zu ziehen?

Die deutsche Justiz ist zurückgefallen ins Revier der Heiligen, das keine Selbstbestimmung des Menschen kennt. Der Böckenförde-Doktrin ist es gelungen, die lebensunwerte Autonomie der Heiden auszureißen.

Der verleugnete Kampf zwischen griechischem und christlichem Geist ist entschieden. Die Würde stammt von Gott, das Recht zu leben oder zu sterben ebenfalls. Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen, der Name des Herrn sei gepriesen. Die amerikanischen Biblizisten in Amerika, die Wähler Trumps, werden jubeln. Es kann nicht mehr lange dauern, bis der deutsche Trump antreten wird. Schon bejubelt BILD den Retter Amerikas: „Ist Trump doch ein guter Präsident?“ (BILD.de)

Trumps religiöser Partikularismus, man könnte auch von Erwählungsegoismus reden, steht nicht allein. Es hat sich bereits eine messianische Dreieinigkeit gebildet aus Trump, Netanjahu und Messias Bolsonaro:

„Dabei spielen auch religiöse Gefühle eine Rolle. Vor einigen Jahren ließ sich Bolsonaro, der als Katholik aufwuchs, während eines Israel-Besuchs im Jordan evangelikal taufen. Brasiliens Staatschef verkörpert damit auch einen Trend in seinem Land: Schätzungen zufolge machen Evangelikale heute bis zu 30 Prozent der Bevölkerung Brasiliens aus. Vor wenigen Jahrzehnten war ihre Zahl noch verschwindend gering. Für viele von ihnen hat Israel eine besondere spirituelle Bedeutung. Eine Parallele zu den „Evangelicals“ in den USA.“ (SPIEGEL.de)

Alle drei Staaten sind gespalten zwischen Autonomen und Theonomen, allgemeinen Menschenrechten und Sonderrechten für die eigene überlegene Nation. Wer sich gegen universelle Völker- und Menschenrechte wendet, plädiert für die Überlegenheit der Starken, die den Schwachen ihre Gesetze des Lebens aufzwingen.

Was dachten die Stoiker über den selbstbestimmten Tod?

„Ein gutes Leben sei nicht unbedingt ein langes Leben. Wer unter Krankheit und Schmerzen leide, Armut, Hunger oder die Herrschaft eines Tyrannen ertragen müsse, solle lieber freiwillig aus dem Leben scheiden, lehrten die Stoiker.“ (Planet-wissen.de)

Nationalsozialisten waren keine Vertreter der Autonomie, sondern des Rechts der Herrenmenschen, über die Vielzuvielen nach Belieben zu bestimmen.

Momentan gibt es eine absonderliche Debatte in Deutschland. Menschen, die nicht über ihr Leben und Lebensende bestimmen dürfen, wollen über ihre Leichen bestimmen. Ob sie sind oder nicht sind, spielt keine Rolle. Sie wollen gefragt werden, ob sie Organe spenden wollen, die sie nicht mehr benötigen. Wenn ihre Meinung schon nicht im Leben wichtig ist, soll sie wenigstens posthum gehört werden. Freiheit und Gleichheit im Tod, im Leben sollen sie keine Rolle spielen.

Die Abgeordneten freuen sich auf eine zünftige Debatte. Einmal in vier Jahren gibt es eine Diskussion ohne Fraktionszwang. Einmal in vier Jahren wird dem Gewissen Gelegenheit gegeben, sich zu Wort zu melden. Welch extraordinärer Luxus für eine Gesellschaft, die nur eine freie Wirtschaft kennt. Nicht die Gewählten bestimmen ihre Meinungen, sondern wenige Häuptlinge maßen sich an, den Kurs des Schiffleins unter sich auszuklüngeln.

Sie wollen kein autonomes Lebensende, aber über ihren Leichnam wollen sie souverän entscheiden: schriftlich oder nicht schriftlich, ausdrücklich oder unausdrücklich.

Warum berichten die allerfreiesten Medien nicht über die steigende Quote der Selbstmörder? Weil sie niemanden zum Suizid animieren wollen, der Tod könnte ansteckend sein in der besten aller Welten. Wo bleiben dann die Fakten? Wo bleibt das Recht des Publikums, sich eine eigene Meinung zu bilden? Auch über Fakten des Todes?

Sind schlechte Nachrichten nicht die Lieblingsnachrichten der Medien, wo sie sich in allen Details des Abgeschlachtetwerdens überschlagen?

Schlechte Nachrichten sind das Hors d’oeuvre, die Vorlust auf den Tod. Alte Menschen müssen ungefragt einen unwürdigen Lebensabend absolvieren. Eine demente Meinung zählt nicht, also wartet man, bis sie nicht mehr wissen, wer sie sind. Könnten sie nicht eine falsche Entscheidung treffen, wenn sie allzu früh zum Schierlingsbecher griffen?

Wer will das von außen beurteilen? Gerade, indem der Arzt nicht eingreifen darf, beurteilt er es: das Leben ist immer lebenswert, auch wenn es die Hölle wäre.

Höllenmeister und Inquisitoren der Erlöserreligionen hiellten Folter immer für göttliche Wahrheitsinstrumente. Sie brachten an den Tag, was Teufel verbergen wollen. Indem Ketzer und Hexen in Stücke zerrissen wurden, geschah an ihnen das Wunder der Gnade.

„Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind, Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust und den Geiz, welcher ist Abgötterei.“

Sie tun, als hielten sie sich raus, wenn sie sich aufspielen wie der Gott Hiobs. Indem das Leben in atmenden Tod verwandelt wird, wird die eine Hälfte der Gesellschaft zum Lazarett, die andere zum Koma-Dasein in der Intensivstation. Solange Menschen selbst noch leben wollten, wäre Kümmern ein humaner Akt. Wer aber das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen tritt, der hält seine Autonomieverweigerung für den Gipfel der Nächstenliebe.

Der Tod ist die wahre Fundgrube deutscher Metaphysik. „Der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes“ (Hegel). Der Tod ist Vernichtung der maroden Natur und Voraussetzung des Neuen und des grenzenlosen Fortschritts. Wer nicht vernichten kann, kann nicht genial und kreativ sein.

Gedenke des Todes, damit du leben kannst und Todesängste nicht dein Leben verkümmern. Das war die Botschaft der Griechen.

Gedenke des Todes, damit das ganze Leben ein Vorlaufen zum Tode wird. Das Leben muss ein Irrtum bleiben, eine lebenslang schwärende Wunde. Das ist die Frohe Botschaft der Christen.

„Nicht selten wurde die Angst vor dem Tod zu einer Art Hass-Liebe. Im „Geheimen Buch des Jakobus“ empfahl Jesus den Selbstmord: das Königreich des Todes könne nur denen gehören, die sich selbst töten. Niemand, der dieser Pflicht auswiche, könne gerettet werden. Wo hingegen es eine Vorstellung von der Mutter Natur gab, verband sie sich mit dem Gedanken, dass der Tod etwas Natürliches und dass die Wurzeln der Blume im Verwesenden stecken.“ (Walker)

Die fieberhafte Sucht der Moderne nach Leben, Macht, Reichtum, Risiken und Gefahren, nach immer neuen Herausforderungen, ist die Kehrseite der Angst vor dem Tode. Dürften Menschen das Geheimnis des Lebens – im Leben entdecken, wären Kapitalismus und Fortschritt auf der Stelle tot. Wann entwickelte sich der Glaube an die unendliche Seele? Als die Hochkulturen aufeinander trafen und interne Probleme überhand nahmen.

Warum verharren die Menschen gelähmt vor ihrem drohenden Gattungstod? Weil sie fasziniert sind von ihm. Sie sehnen sich nach dem Ende des Treibens und Jagens. Doch das Zugeben von Lustangst wäre das Eingestehen von Schwäche. Lieber mit Karacho in den Abgrund, als seine Schwächen zu gestehen, um ein angstfreies Leben zu leben.

Unvorstellbar, ein Leben ohne Angst. Solche Phantasien müssen ins Jenseits transformiert werden, auf Erden können sie nicht ertragen werden. Ohne irdisches Jammertal hätten wir Hoffnung auf omnipotente Herrlichkeit nicht nötig.

KI wird immer nötiger, um unsere Sehnsucht nach Angstfreiheit auszuagieren. Maschinen haben keine Gefühle. An ihrer Coolness berauschen sich unsere Gefühle nach Unberührbarkeit. Wenn jeder wie eine Maschine durchs Leben staksen könnte, hätten wir alle kindischen Ängste überwunden.

Jugendliche Demonstranten sollen nun wegen Renitenz bestraft werden, indem man ihre Eltern mit Geldstrafen belegt. Sippenhaft nennt man das in prämodernen Mafiagesellschaften. Doch die Gemeinten durchschauen den Bluff und wehren sich.

Wie lautet die Lieblingsschlagzeile der Medien? „Die Zahl der Demonstranten geht allmählich zurück.“ Geht etwas Sinnvolles kaputt, müssen untätige Beobachter kein schlechtes Gewissen mehr haben.

„350 Euro Bußgeld bezahlen, nur weil sie mit „Fridays For Future“ für den Klimaschutz streiken? So wie es ihr Direktor kürzlich in einem Rundbrief forderte? Die Schülerinnen und Schüler am staatlichen Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium wollen das nicht hinnehmen. An diesem Freitag werden sie im Pausenhof gegen diese Sanktionen demonstrieren.“ (Jetzt.de)

Auch der Grüne Kretschmann fühlt sich von den eigenmächtigen Jugendlichen genervt:

„Wenn man Regeln verletze, müsse man mit Sanktionen rechnen. «Sonst sucht sich zum Schluss jeder sein Thema aus, das er dann irgendwie moralisch auflädt – und das geht nicht.»“ (SPIEGEL.de)

Ausgerechnet der Bewunderer Hannah Arendts, die Bemerkenswertes zum zivilen Ungehorsam beisteuerte, diffamiert den Ungehorsam als privatistisches Täuschungsmanöver: ein Nichts wird in moralischer Beliebigkeit aufgeladen.

Dass nachprüfbare wissenschaftliche Gründe vorliegen, dass es sich um eine mächtige Generationenbewegung handelt, dass keine Zeit mehr vertändelt werden darf: das kann ein Grüner, der keine katholische Pilgerwanderung mehr versäumt, nicht mehr verstehen.

„Zu den Grundsätzen einer wirklichen Demokratie gehört, was Hannah Arendt über das Verhältnis von Dissens und Konsens in einem freien Staat notiert: „Jemand, der weiß, dass er widersprechen kann, weiß auch, dass er gewissermaßen zustimmt, wenn er nicht widerspricht.“ (Nachdenkseiten.de)

Arendt bezog sich auf Henry Thoreau, den Urdenker der amerikanischen Demokratie, die heute dabei ist, seine Grundprinzipien zu verraten. Der Geist Thoreaus ist aber noch lange nicht tot. Auch Amerika wird seinen Kampf zwischen Erwählung und universeller Menschlichkeit ausfechten müssen.

„Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach’ dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten. Jedenfalls muss ich zusehen, dass ich mich nicht zu dem Unrecht hergebe, das ich verdamme.“ (Über die Pflicht zum Ungehorsam)

Bei Thoreau wird die große Kluft zwischen dem urdemokratischen Amerika und dem notdürftig demokratisierten Deutschland sichtbar.

Für Thoreau steht die Regierung im Dienst des Individuums, in Deutschland das Individuum im Dienst des Staates. Der Begriff Staat kommt in Amerika kaum vor. Die Neoliberalen haben die Staatsallergie verfälscht, um ihre Gier vor unliebsamen Eingriffen zu schützen. Das deutsche Gerede vom Staat gründet in altlutherischem Gehorsam vor der Obrigkeit und in der Untertänigkeit unter den absolutistischen Staat. In einer lebendigen Demokratie kann es keinen Staat geben. Wären alle Menschen demokratisch, könnte man auf Staat, Polizei und Justiz verzichten. Diese Utopie ist das einzige Kriterium, an dem Demokratien gemessen werden dürfen.

„Die beste Regierung ist diejenige, die überhaupt nicht regiert. Einen wirklich freien und aufgeklärten Staat wird es erst dann geben, wenn der Staat das Individuum als höhere, unabhängige Macht anerkennt, von der sich seine gesamte Macht und Autorität herleitet.“ (Thoreau)

Solche Sätze klingen in deutschen Ohren wie Schalmeien einer verbrecherischen Anarchie. Dabei beschreibt Thoreau nichts anderes als die Autonomie der Vernunft, die kritisch die Geschehnisse der Politik beäugt. Halten sie stand vor seinem Urteil, wird er ihnen sein Placet erteilen. Wenn nicht, wird er sich gegen sie wehren.

Man soll Gott mehr gehorchen als dem Menschen: das war die sokratische Denkfreiheit über die Polis, die vom Christentum zum Gehorsam gegen einen überirdischen Gott verfälscht wurde. Der Gott des Sokrates war die universelle Vernunft des Menschen.

In diesem Sinn ist das Ich jedes Einzelnen der Mittelpunkt seines Denkens und Wirkens. Aber nicht im egoistischen oder autistischen Sinn. Indem das Ich alles beurteilt, setzt es sich in Verbindung mit allen anderen Ichs der Gesellschaft, um sich mit ihnen zu streiten und zu verständigen. Erst in diesem Sinn lässt sich sagen: das Ich beurteilt alles in der Polis, weil die Polis alles Tun des Ich unter die Lupe nimmt.

So verschmelzen Ich und Gesellschaft zur Einheit: das Ich ist am besten für die Gesellschaft da, wenn die Gesellschaft am besten für das Ich da ist.

Der Kapitalismus von Adam Smith hat diese Einheit gespalten: wenn das Ich am besten für sich da ist, ist es auch am besten für die Gesellschaft da. Doch wie, etwa automatisch? Mit Hilfe einer unbekannten Hand, die nichts anderes als die Hand Gottes ist. Eben dies: die Hilfe Gottes ist in einer autonomen Demokratie unerwünscht, überflüssig und ausgeschlossen.

Sokrates unterstellte sein Denken keiner Mehrheit, als er zivilen Ungehorsam übte. Doch er stellte sich dem Gericht des Volkes und zögerte nicht, die Folgen des Urteils auf sich zu nehmen – auch wenn er es für falsch hielt.

Wir brauchen einen Generalstreik der Gesellschaft, ja, den zivilen Ungehorsam der gesamten Menschheit, um die Mächtigen zu zwingen, der Vernunft des Überlebens Folge zu leisten.

Wir brauchen ein Russell-Tribunal, auf dem alle Regierungen der Welt angeklagt und abgesetzt werden, weil sie die Menschheit sehenden Auges verloren geben.

Wir brauchen das Gespräch aller Völker mit allen, um unseren Kindern eine Chance zu geben.

 

Fortsetzung folgt.