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Sofort, Hier und Jetzt LXXXIII

Sofort, Hier und Jetzt LXXXIII,

„“Zuerst die schlechte Nachricht“, sagte Max Tegmark: „Die Menschheit rast auf einen Abgrund zu.“ Kurz hielt er inne, um die Botschaft sacken zu lassen. „Und jetzt die gute„, sagte er dann: „Es sitzt niemand am Steuer.“

Schreibt der SPIEGEL unter der Rubrik: „Jede Woche eine Erkenntnis“. (SPIEGEL.de)

Wie viele Wochen haben wir noch, bevor der Abgrund uns von endlos weiteren Erkenntnissen befreit? Niemand sitzt am Steuer, wenn wir dem Untergang entgehen gehen: das soll die gute Nachricht sein?

Steuermänner können versagen, wenn sie ein Chaos vermeiden wollen. Sitzt aber niemand am Steuer, wird das Desaster unvermeidbar. In Demokratien soll jeder beim Steuern des gemeinsamen Boots beteiligt sein, zumindest die Steuerleute unter Kontrolle halten, dass sie nicht „aus Versehen“ Mist bauen.

„Es wäre nicht das erste Mal in der Weltgeschichte, dass ein Krieg aus Versehen entsteht.“ (SPIEGEL.de)

Somnambul, aus Versehen, rein zufällig – auf keinen Fall darf der Mensch Herr im eigenen Hause sein. Darauf kommt es trunkenen Todesfahrern an. Zwischen Indien und Pakistan herrschen seit mehr als einem halben Jahrhundert hasserfüllte religiöse und territoriale Rivalitäten. Dennoch soll der allzeit drohende Krieg nur Zufall sein, ohne benennbare Ursachen und historisch bekannte Gründe?

Die Welt rast dem Inferno entgegen und kein Mensch versucht, das Steuerrad herumzureißen: das soll die gute Nachricht sein? Max Tegmark ist Kosmologe, dafür zuständig, „Paralleluniversen zu ersinnen.“ Wie praktisch. Da können wir unser Oldschool-Universum bedenkenlos entsorgen, wenn wir uns beliebig neue

  Welten aus den Rippen schwitzen können.

Reißerisch der Artikel, ohne eine einzige Zeile der Kritik. Man kann auch mit richtigen Fakten fälschen, Petitessen müssen nicht manipuliert werden. Der Name Relotius kann unerwähnt bleiben. Wenn der drohende Weltuntergang zum Glanzpunkt der bad news wird, können wir langsam mit Beten beginnen.

Stillstand in der Welt. Trotz aller Beschleunigungen und Rasereien. Warum regredieren die Völker, als wären sie an einer unsichtbaren Mauer zurückgeprallt? Weil es diese Mauer gibt. Der endlose Fortschritt ist eine Sackgasse, die grenzenlose Kreativität eine Falle mit Salto morale rückwärts.

„Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch – sie selber noch?“ Also sprach Zarathustra.

Wenn die Menschheit kein Ziel hat, kein gemeinsames, befreiendes, mit freudigen Emotionen verbundenes Ziel, wird sie sich immer an derselben Stelle den Schädel einschlagen.

Scheinbare Ziele hat sie genug. Mit Robotern will sie sich überflüssig machen, zuvor noch schnell unsterblich werden, das Universum zusammenfalten, um in potenzierter Lichtgeschwindigkeit im Schwarzen Loch zu verschwinden. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Ein sinnvolles Ziel, eine humane Utopie aber ist verboten. Mit trügerischen Zielen soll das Fehlen eines wirklichen Ziels überdeckt werden.

Nietzsche kennt kein gemeinsames Ziel der Menschheit.

„Wozu die Welt da ist, wozu die Menschheit da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern, … aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich.“

Es gibt keine gemeinsame Zukunft, es gibt nur solistische Größenphantasien. Der Pastorensohn, der das Christentum überwunden haben will, hängt immer noch an der Seligkeit des Einzelnen, Erwählten.

Die persönliche Vereinzelung des Ziels wurde inzwischen zur nationalen. Nur ein Volk kann als erstes die Ziellinie reißen. Der Wettbewerb aller gegen alle lässt kein kollektives Ziel zu. Schon gar nicht eines, an dem alle sich freudig in die Arme schlössen und den hieros gamos feierten.

Schon der Zweite ist ein Verlierer, hieß die Kampfparole der Familie Kennedy.

Wer kein völkerverbindendes Ziel kennt, will keinen Frieden. Deutsche Geostrategen kennen nur die autistische Überlegenheit ihrer Nation. Wir müssen investieren, aufrüsten, aufholen, unseren Vorsprung wahren, unsere Schlampereien korrigieren, so klingt‘s im deutschen Blätterwald. Sage mir, ob du eine gemeinsame Utopie kennst, und ich sage dir, ob du ein Liebhaber des Friedens bist.

Warum gibt es für Nietzsche kein gemeinsames Ziel der Menschheit?

„Werte legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich »Mensch«, das ist: der Schätzende. Schätzen ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden! Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muß. Schaffende waren erst Völker, und spät erst Einzelne; wahrlich, der Einzelne selber ist noch die jüngste Schöpfung. Älter ist an der Herde die Lust, als die Lust am Ich: und so lange das gute Gewissen Herde heißt, sagt nur das schlechte Gewissen: Ich.“

Das Ich ist die jüngste und höchste Erfindung in der Entwicklung der Menschheit. Solange das Gewissen die Herde umfasste, war das Ich verfemt. Erst der Triumph des Ich über den Gruppenzwang der Herde kann Ziele schaffen. Erst der einzelne, geniale Übermensch kann den Dingen Sinn verschaffen. Durch Vernichten der Herdengewohnheiten und traditionellen Dummheiten. Schaffen ist Vernichten. Auch das ist der Sinn der christlichen creatio ex nihilo:

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr.“

Was heute nicht kreativ ist, braucht sich gar nicht erst blicken zu lassen. Ist es nicht merkwürdig, wie sie ihre Jugend im gleichen Takt dressieren und einschnüren, damit diese enthemmt in die Welt stürmt, um das Unwahrscheinliche zu ersinnen?

„Immer der Erste zu sein und voranzustreben den anderen“.

Eris war die alte Göttin der Zwietracht und des Streites. Doch bei Hesiod begann ihre Humanisierung. Er stattete sie mit zwei Gesichtern aus. „Eins, das Krieg und Streit hervorruft und eins, das in friedlichem Wetteifer Arbeit und Wohlhabenheit fördert.“ Aus Eris wurde der Agon, „die Schule der individueller Leistungsfähigkeit, erst zum Erweis körperlicher Tüchtigkeit und Gewandtheit, dann auf das Geistige übertragen. An den panhellenischen Festen treten neben Athleten und Wagenlenker Dichter und Sänger auf.“ Aus dem Dionysoskult entstand das griechische Theater:

„Das Theater der griechischen Antike erreichte seinen Höhepunkt im 5. Jahrhundert mit den Stücken der drei großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides und den Stücken der Alten Komödie, insbesondere des Kratinos und des Aristophanes. Während der kultische Zweck zunehmend in den Hintergrund trat, erfüllte das Theater eine wichtige Funktion für die Entwicklung der attischen Demokratie: es stand für Selbstvergewisserung, Repräsentation und Machtdemonstration der Polis-Gesellschaft. Das antike griechische Theater war ein Theater der freien Bürger beiderlei Geschlechts: der Besuch der Aufführungen war demokratisches Recht und religiös-moralische Pflicht zugleich.“ (Wiki)

Beiderlei Geschlechts! Ja, die Frau war rechtlich nicht gleichberechtigt, aber bereits so wichtig, dass Frauenfeinde sich herausgefordert fühlten, ihre Fähigkeiten zu verspotten. Wie hätte der Geschlechterstreit in Hellas entbrennen können, wenn die Frauen bedeutungslos gewesen wären?

Sappho war mehr als eine Ausnahmeerscheinung. Antigone, Aspasia, Diotima, Medea entsprangen keinen Männerphantasien. Hetären waren hochgebildete Lust- und Geistarbeiterinnen, „betrieben gewerbsmäßig Musik, beherrschten die Kunst des Tanzes und des Gesangs, spielten Aulos und Kithara.“

„Und doch weisen einige Spuren darauf hin, dass die Sophistik auch eine Art Frauenbewegung ausgelöst hat, die die Teilnahme an der neuen Bildung und Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frau erstrebte.“ (Nestle)

„Die beste Frau ist die, von der man nicht redet“: das war ein ungewolltes Kompliment der Männer, die die Qualitäten der Frauen subkutan fürchteten und bewunderten.

Im Verlauf des beginnenden hellenischen Kosmopolitismus wurde die Frau zum gleichberechtigten Wesen. Von Anfang an war sie nicht perfekt, die athenische Polis. Doch ihr geistiges Ringen um die beste Lebensform zerbrach nach und nach die Benachteiligungen der Frauen, Sklaven und Fremden. Am Ende des Wettkampfes um Wahrheit stand der gleichberechtigte Mensch.

Wie in der heutigen Griechenverachtung nicht anders möglich, zeichnet Eva Thöne im SPIEGEL nur das abschreckende Bild der athenischen Frau. Dass es eine kämpferische Bewegung gab zur geistigen und rechtlichen Emanzipation, wird unterschlagen.

„Nicht nur verklären wir die Antike oft als ein demokratisches Ideal, obwohl sie in Wirklichkeit für viele Menschen eine Epoche der Unfreiheit war, auch die öffentlichen Abwertungs- und Diffamierungsmechanismen sind den damaligen noch sehr viel ähnlicher, als wir es uns eingestehen wollen.“ (SPIEGEL.de)

Würde man die Französische Revolution, die amerikanische Demokratie an denselben Kriterien messen, wären sie Männerherrschaften über Frauen gewesen. Wann erhielten die Frauen in der vorbildlichen Schweizer Demokratie die volle Gleichberechtigung?

Seit dem französischen „Streit zwischen den Alten und Modernen“ am Ende des 17. Jahrhunderts muss die Neuzeit in allen Dingen die Alten überragen. Worin sie uns überlegen waren, wird verdrängt, indem die ganze Vergangenheit als minderwertige aus dem Gedächtnis gestrichen wird.

Eine selbstbewusste Demokratie würde lernen, wo immer sie lernen kann: aus dem frühen, fremden, wilden und einfachen Leben aller Zeiten, Kulturen und Weltgegenden.

Weil Vergangenheit als vorbildliche völlig ausfällt, muss die Zukunft zur Neuen Zeit verklärt werden. Was nicht den Realitätstest bestehen muss, kann als Phantasie nie überprüft werden. Der Futurismus ist der inhalts- und erkenntnislose Ersatz für die gemeuchelte Vergangenheit.

Die friedliche Eris sublimierte den zerstörerischen Wettkampf zum agonalen Charakter in allen Dingen. Es entstanden nicht nur die Olympischen Spiele, das friedliche Messen der körperlichen Kräfte. Auch die Geister rangen um die besten Ziele des Lebens, um – obwohl man es nicht mehr hören kann –: die Ziele des Schönen, Wahren und Guten.

Im Volkstheater rangen Tragödien- und Komödiendichter um die eindrücklichste Darstellung des Lebens in der Polis, vom tragisch scheiternden, leidenden bis zum übermütigen Possenreißer. Da erschienen nicht nur Eliten, die sich für gebildet hielten, da versammelte sich das ganze Volk, um die Wiederspiegelungen seines Lebens auf der Bühne miteinander zu vergleichen und zu bewerten.

Das war nicht nur geistloses, die Zeit vertreibendes Amüsement, dies hatte den Zweck, das gesamte Leben der Polis in Kunst zu verwandeln. Da geschah etwas, was heutigen Ästheten und Feuilletonisten als Gräuel erscheint:

In der Gestaltung der Tragödie erlebte das Volk ein ethisch-erzieherisches Motiv.

„Wie alle griechischen Dichter, so haben sich die großen Tragiker stets als Lehrer und Erzieher ihres Volkes gefühlt. Sie wollten ihre Mitbürger zur mannhaften, demokratischen Mitwirkung am Leben der Polis erziehen.“

Heute ist Demokratie zu einem geistlosen, philosophiefeindlichen Machtgeschiebe verkommen. Intellektuelle und Wissenschaftler fühlen sich nicht versucht, ihre hohen Erkenntnisse den politischen Vorgängen zur Verfügung zu stellen – was ihre Erkenntnisse zur Makulatur verurteilt. Eine Demokratie ist ein lebendiges Gebilde, das es sich nicht leisten kann, seine verschiedenen Organe gegeneinander zu isolieren und abzuschnüren.

Die Kunst auf der Bühne, bei Schiller zum Ersatz für politische Unfähigkeit ernannt, hat sich unter Absingen schmutziger Lieder längst von allem „Belehren und Ermahnen“ verabschiedet. Politisches Theater wird als penetrant empfunden. Für ästhetische Sensibilisten ist es entwürdigend, moralische Lektionen erteilt zu bekommen. Einerseits sind sie schon jenseits von Gut und Böse, andererseits genießen sie die dionysischen Mächte ihres Es als Befreiung von ihren Ich-Kontrollen.

Was Es war, soll Ich werden: das ist der Entwicklungsprozess des Reifwerdens.

Wo Ich war, soll wieder Es werden: das ist der kategorische Imperativ einer dauerpubertierenden Ästhetik, die das Bühnengeschehen als Hexenkessel eines unbeherrschbaren Trieblebens benötigt. Die Dauerkontrolle des alltäglichen Lebens muss durch blutgierige und laszive Vorgänge auf der Bühne erträglich gemacht werden.

Wenn die SchauspielerInnen in Kot und Sperma waten, erleben deutsche Söhnchen jene Freiheit, von der sie bislang nur träumen konnten. Die grenzenlose liberale Freiheit der Reichen, die sich von keinem Gesetz einschränken lassen will, entspricht der chaotischen Freiheit auf der Bühne, die alle Vernunft als spießerische Knebel empfindet.

Bildende Kunst, Philosophie, Tragödie und Komödie, Musik und Dichtung: alle Bereiche des Lebens dienten der demokratischen Ertüchtigung. Nichts war abgespalten, nichts führte ein apolitisches Sonderdasein. Heute würde man angewidert von Demokratur reden, weil alles dem Ziel des besten Lebens zu dienen hatte. Aber nicht durch Zwang, sondern durch Eros, die Leidenschaft des Selberdenkens.

Bücher und Bühne sollen das Leben schildern, wie es ist, nicht, wie es sein soll, sagt man heute. Wie aber ist es – in ihren Augen? Wie es nicht sein soll. Es ist zu moralisch. Das befreite Es soll dem Ich und Über-Ich den Garaus machen. Das ist auch ein Soll. Dieses Soll, das seine schlüpfrigen Jugendwünsche als zensurbefreite Kollektivereignisse erleben will, ist ein Soll der Unfähigkeit, erwachsen zu werden.

Bourgeoisbengel werden oft ermahnt, weshalb sie im Tempel der Kunst nie mehr zusammengestaucht werden wollen. Im Gegensatz zu den kapitalistischen Tretmühlen, wo die Bourgeoisie ihre Abhängigen nach Belieben drangsalieren kann. Einerseits will die herrschende Klasse perfekt sein und keiner Ermahnung mehr bedürftig, andererseits von perfekter Verdorbenheit, die alle Moral verworfen hat. Nietzsche sprach von Jenseits von Gut und Böse.

„Im Zarathustra taucht der Begriff Jenseits von Gut und Böse ebenfalls auf, wo in „Das andere Tanzlied“ das Leben zu Zarathustra spricht: „Wir sind Beide zwei rechte Thunichtgute und Thunichtböse“. Beide stehen außerhalb der Moral und im „Jenseits von Gut und Böse.“

Außerhalb und oberhalb der Moral, das ist das Übermenschen-Bewusstsein der gegenwärtigen Moralhasser. Wenn die Moral der anderen ihre zügellose Freiheit einzuschränken droht, werden sie zu ungezügelten Moralverächtern. Was ihre eigenen Altäre betrifft, fauchen sie gegen die Verdorbenheit und Korruptheit des amoralischen Zeitgeistes.

Nach Schiller entrückte sich die Kunst allmählich zu einer vierten Dimension, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu hatte. Sie wollte auch keine Realität darstellen.

„Die Kunst steht über jeder Realität, sie hat keine unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit.“ Daher darf sie auch nicht an der Erfahrungswirklichkeit gemessen oder gar dieser nachgeordnet werden.“ (Mondrian in: Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst)

Das erinnert an eine mystische Erleuchtung – und in der Tat haben die Künstler die Rolle der Erleuchteten übernommen, die später zu Originalgenies und zu Ästheten jenseits von Gut und Böse wurden. Keineswegs schweben sie außerhalb der Realität, ihre künstlerische Vorstellungskraft ist die von wirklichen Menschen. Warum definieren sie sich dennoch als unantastbar und unbegreifbar? Sie wollen nicht mehr gerichtet und zensiert werden. In der modernen Moralallergie dringt das kollektive Es des Abendlands aus allen Poren.

Streng genommen sind alle Künstler die Schüler Fichtes, dessen gottähnliches Ich jede vorfindbare Realität abweist und alles Wirkliche aus eigener Vollmacht „setzt“. Als das moderne Ich seine Gottähnlichkeit definierte, vernichtete es alle Ich-fremde Realität und erschuf eine eigene in selbstherrlicher Omnipotenz.

Hier sind wir bei Nietzsches Vernichten und Schaffen gelandet. Das erfasst alle kreativen Elemente in Kunst und Wissenschaft. Der technische Fortschritt vernichtet die Wirklichkeit genauso wie der Künstler Mondrian. Die Erfinder der KI fühlen sich jetzt schon der schnöden Alltagsrealität entronnen. Das geben sie nicht zu und tun bescheiden. Doch wenn sie die „Gefahren beschwören“, verraten sie ihre gottähnliche Eitelkeit.

Kunst und Technik, die so ungleich scheinenden Brüder, sind in Wirklichkeit Zwillinge, die an derselben Gottähnlichkeit basteln – wenngleich mit verschiedenen Mitteln.

Was sie besonders verbindet, ist die ätherische Überlegenheit über die Erfordernisse des politischen Alltags:

„Kunst soll in den Demokratien der Erhaltung des Bürgerfriedens dienen. Sie soll die Zuneigung aller Herzen gewinnen und brüderliches Verstehen zwischen den Menschen stiften. Sie wird zu einem gemeinschaftsbildenden Faktor ersten Ranges. „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredelung des Charakters ausgehen.“ Dazu bedarf es eines Instruments, nämlich der Kunst. Der „schöne Künstler“ arbeitet demnach dem politischen in die Hand. Das Ergebnis ist der „ästhetische Staat“, in dem das Schöne für Geselligkeit bürgt. „Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in die Gesellschaft nötigt und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft. Im Reich des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt. Kunst gewährt dem Menschen, was ihm die gesellschaftliche Hierarchie vorenthält: Gleichheit als freier Bürger.“ (ebenda)

Hofmann vollzieht abrupt die Kehrtwende zu Schiller. Kunst ist l’art pour l‘art, sie wandelt in einem Reich oberhalb alles Menschlichen, das als Bildungsphilisterei abgelehnt wird:

„Aus diesen hohen Idealen bezieht der Bildungsphilister sein selbstgerechtes Urteil. Wie er in allem die Veränderung ablehnt, weil sie die Ruhe stört, das Beglaubigte in Frage stellt und Ungewissheit verbreitet, verlangt er von der Kunst, dass sie unverwandt das Moralische, Gefällige und sittlich Erhebende preise. Die Epigonen schmücken damit ihr dumpfes Behagen, das vom Künstler „bleibende, allgemein gültige Werte“ fordert.“ (Hofmann)

Diese Worte könnten von Hayek, einem Silicon-Valley-Genie – und von Merkel sein, die ihr sicherheits- und ruhebedürftiges Volk auffordert, sich dem digitalen Wandel zu stellen und keine Risiken zu scheuen. Die Kreationen in Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Technik sind nicht für den Menschen da – der Mensch ist für die Phantastereien der Genialen, Wagemutigen und Machtgierigen da.

Die Deutschen haben Demokratie als „Staat“ übernommen, als mechanisches Machtgebilde, das mit dem Leben von Dichtern und Denkern nichts mehr gemein hat. Die Seele der Deutschen erblühte im Hören von Beethoven, im Lesen des Faust, im weihevollen Gang ins Museum und Theater.

Doch ach, die Bildungswelt der Deutschen – ohnehin nur für die führenden Klassen – ist spurlos verschwunden. Die Innerlichkeit ist eine abgebrannte Ruine. Gab es früher innerliche Gegengewichte gegen Glanz und Macht, sind heute nur letztere übrig geblieben. Nicht der Mensch gestaltet seine Wirklichkeit durch humane Ziele, er wird gestaltet durch die Macht moralbefreiter Maschinen und Roboter.

„Durch Leiden zur Erkenntnis“ – das griechische Motto des Dramas bedeutete: durch Betrachten des menschlichen Leidens auf der Bühne sollte der athenische Zuschauer zur Erkenntnis seines eigenen Lebens kommen. Kunst war eine Erkenntnismethode, nicht anders als Philosophie, nur mit anderen Mitteln.

Wenn sie sahen, dass selbst Götter scheiterten, sollten sie sich ihrer Grenzen bewusst werden. Sie waren keine Götter, sondern endliche Menschen, die ihr Leben in schlichter Vernunft leben konnten. Was sie konnten, sollten sie auch. Die Griechen hatten nicht unter Heuchelpredigern zu leiden. Ihre Priester war bloße Ritualisten. Von der Natur erhielt der Mensch die Vernunft, um aus Schaden klug zu werden.

Wenn Leiden das Produkt unbezwingbarer Umstände ist, muss es als Schicksal hingenommen werden. Ist es die Frucht seines eigenen unvernünftigen Tuns, kann man es durch Klugwerden vermeiden. Das äußerlich Unbezwingbare muss hingenommen, das Selbstverursachte kann vermieden werden – wenn man erkannt hat, wie man seine vernunftlose Tat nicht wiederholen muss.

Die Christen übernahmen die Formel vom Leid, verkehrten sie aber ins Gegenteil. Durch Leid zum Sieg, durch Kreuz zur Krone. Sie litten, nicht um zu erkennen, sondern um zu siegen. Mit Absicht provozierten sie Leid, um sich egoistische Verdienste zu erwerben. Eine ganze Zeit lang im Himmel. Doch umso mehr auf Erden, je mächtiger die Kirche wurde. Das Leid, bei den Griechen ein Erkenntnisinstrument, wurde zum Machtergreifungsmittel der Lämmer und Schafe.

Die moderne Kunst ist eine Mixtur aus griechischem und christlichem Leid. Künstler suchen par force das Leid, um sich als Opfer zu profilieren und ihre Konkurrenten auszustechen. Das wiederum rechtfertigt die sadistischen Quälereien der großen Regisseure und Dirigenten: eben dies wollt ihr doch, ihr kleinen Masochisten. Ohne Demütigungen bringt ihr doch nichts zustande:

„Aber wer große Kunst machen will, muss Leid ertragen. Nicht alle, aber doch erstaunlich viele sehnen es dabei förmlich herbei, drangsaliert zu werden.“ (WELT.de)

Kunst kennt auch keine Demokratie? Wäre ja zuviel verlangt, dass Demokratien von demokratischen Strukturen geprägt wären. Wenn schon Schulen, Universitäten, Betriebe, Kirchen undemokratisch sind, warum sollte Kunst die Ausnahme sein? In Deutschland muss Gleichwertigkeit der Menschen eine Zumutung sein.

Durch Selbsterkenntnis und politisches Tun konnte man in Athen sein Leben in den Griff kriegen. Kunst war kein Ersatz für fehlende Politik, sondern ermutigte das zoon politicon zur persönlichen Besonnenheit – und zur öffentlichen Kontrolle der Mächtigen durch die Herrschaft des Volkes.

Die griechische Bühne wurde zur demokratischen Anstalt.

 

Fortsetzung folgt.