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Sofort, Hier und Jetzt LXXX

Sofort, Hier und Jetzt LXXX,

allzeit bereit – die Losung christlicher Pfadfinder wird zum Leitgedanken der Gegenwart:

Wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.

Amerikanische Prepper rüsten für die Endzeit, decken sich ein mit Waffen, Generatoren und Lebensmitteln, die sie in verborgenen Schutzräumen horten – für den Tag X, an dem das Außerordentliche geschehen wird. Ein deutscher Prepper…

… hat Vorräte gebunkert. Am Tag X wird er seine Frau und die beiden Kinder ins Auto setzen und sein Versteck ansteuern. Wo es liegt, soll niemand wissen. Seine Familie wäre sonst in Gefahr. „Wer nicht vorgesorgt hat, wird schauen, wo es was zu holen gibt“, sagt er. „Und dann stehen sie plötzlich alle bei mir vor der Tür.““ (SPIEGEL.de)

Das ist unvollkommener Glaube. Wahre Gläubige vertrauen blind ihrem Herrn, der sie bei seiner Wiederkunft im Nu in die Lüfte entrücken wird.

Deutsche halten nichts von Endzeitmythen, weder in religiöser noch in ökologischer Sicht. Sie tun das Gegenteil, negieren alle Gefahren und handeln, als sei nichts geschehen: sie prokrastinieren. Alles verschieben sie auf den Sankt Nimmerleinstag.

Die einen sind die Überwachen, die anderen bevorzugen das Schlafwandeln – das durchaus mit äußerer Hetze verträglich ist. Dafür müssen sie bezahlen mit verborgenen Ängsten, Misstrauen und Hass gegen die Aufgeweckten. Wer vor dem nahenden Inferno warnt, wird ausgegrenzt. EU-Präsident Juncker ächtete Greta Thunberg mit einem Handkuss und sagte kein einziges Wort.

Kinder schützen sich vor Gefahren, indem sie ihre Augen bedecken. Wenn sie nichts sehen, so glauben sie, werden auch sie nicht gesehen. Deutschland hat eine Binde vor den Augen, auf dem Land liegt eine Atmosphäre des Verdrängens und

  Verleugnens.

Verleugnung ist nach Freud „eine Abwehrform, die in einer Weigerung des Subjekts besteht, die Realität einer traumatisierenden Wahrnehmung anzuerkennen, insbesondere die Penislosigkeit der Frau.“ (Vokabular der Psychoanalyse)

Nicht wahr-nehmen heißt, die Wahrheit der Dinge nicht sehen und erkennen. Bei Freud waren Frauen die größten Verdrängerinnen, denn sie wollten nicht wahrhaben, dass sie nicht penetrieren können.

Nach dieser Kuriosität müsste man heute sagen: vor allem die Eliten, pardon die mächtigen Männer, wollen nicht wahrhaben, dass ihre Gehirnlosigkeit unfähig ist, die Wirklichkeit zu erkennen. Die Realität aber können sie nicht nach Belieben verändern. Zwar penetrieren sie die weibliche Natur bis zur Besinnungslosigkeit, ja bis zum Tode – bis zu ihrem eigenen Tod. Die Natur selbst aber werden sie nicht auslöschen, die mit Sanftmut und leiser Melancholie ihre Gerippe mit Erde überdecken wird.

Nehmen wir die WELT, die das Regiment der Eliten, pardon, der mächtigen Männer, mit verbundenen Augen verteidigt.

Da ist Jacques Schuster, der schreibt:

„Angesichts des Verlaufs der bisherigen Katastrophen aber sollte man Alfred Polgar gedenken: «Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.»“

Da ist Wolfgang Kaden, Ex-Chefredakteur des SPIEGEL. Die WELT scheint ein Zufluchtsort für desertierte Sturmgeschützler der Demokratie zu sein:

„So erleben Deutschland und viele Länder der entwickelten Welt eine immer lauter geführte Gerechtigkeitsdebatte. Die Regierenden sind in den Augen der Regierten an allem schuld, außer vielleicht am Wetter. Es ist ein störrisches, renitentes Wahlvolk, mit dem sich die Regierenden herumschlagen. Politiker müssen auf die Bürger hören, natürlich. Aber sie müssen in einer repräsentativen Demokratie zuweilen auch versuchen durchzusetzen, was sie für richtig erkannt haben. Das Volk hat nicht immer recht. Richtig ist: Der Horizont vieler Wähler reicht nicht über die Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen und Befindlichkeiten hinaus. Das gilt nicht zuletzt für alle Fragen der Ökonomie. Die Mechanismen der Marktwirtschaft bleiben vielen verschlossen. SPD-Veteran Klaus von Dohnanyi forderte seine Parteiführung auf, künftig nicht mehr auf ihre Mitglieder zu hören.“ (WELT.de)

Da ist Richard Herzinger, der alle Kritiker des Neoliberalismus und der naturzerstörenden Technik zusammenfasst und ratzfatz als Antisemiten deklariert:

„Die vermeintlichen Antipoden zeigen mit dem Finger auf den jeweils anderen, finden sich jedoch umso fester geeint in den gemeinsamen Feindbildern, gegen die sie antreten: „Das internationale Finanzkapital“, die „globalistische Elite“, die „neoliberale EU“, die auf die Vernichtung nationaler Souveränität und sozialer Rechte aus sei – im Dienst des Weltfeinds USA mit seinem „Raubtierkapitalismus“ und „Kulturimperialismus“. Das können auch Islamisten unterschreiben, wie die Schriften Osama Bin Ladens zeigten. Zusammengenommen ergibt es einen giftigen Humus, auf dem der Antisemitismus in allen Variationen üppig blühen kann. Zu diesem Strickmuster gehört auch der Glaube, „das Volk“ an sich sei gut und stets nur Opfer dunkler Mächte. Die Gelbwesten könnten so der Prototyp einer neuen Art von Verschmelzung scheinbar gegensätzlicher ideologischer Blöcke werden. Diese bringen keine geschlossenen Denksysteme mehr hervor, sondern hantieren mit ideologischen Versatzstücken, die von Affekten zusammengehalten werden. Je austauschbarer sie sind, umso mehr werden sie Bestandteile einer großen Inszenierung ideologischer Gegensätze, die am Ende nur auf eines zielen: die wirkliche Unterscheidungslinie zwischen demokratisch und antidemokratisch systematisch zu verwischen.“ (WELT.de)

Für Schuster genügt ein aus den Zusammenhängen gerissenes, zynisches Bonmot, um alle Gefahren in absolutistischer Geste vom Tisch zu wischen.

Kaden scheint noch nicht gehört zu haben, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Unfehlbarkeit war keine Voraussetzung. Im Gegenteil. Da Demokraten um ihre Irrtumsfähigkeit wissen, haben sie den Streit auf dem Marktplatz erfunden, um sich agonal der Wahrheit anzunähern.

Sind denn Eliten unfehlbar? Will Kaden eine Volksherrschaft ohne Volk – wie SPD-Edelmann von Dohnanyi in Hamburger Noblesse fordert? Wer Gerechtigkeit begehre, wolle die Demokratie zerstören? Das Volk sei unmäßig und kriege den Rachen nicht voll, die Eliten aber sind maßvoll und bescheiden? Wie bei Edelschreibern üblich, feuert Kaden Assoziationen in die Luft, die nach allen Seiten irrlichtern. Des Raunens nimmt kein Ende.

Richard Herzinger bemüht sich erst gar nicht, einen Dialog unter Abwesenden zu führen. Auf Argumente verzichtet er völlig: er schäumt wie ein mittelalterlicher Kreuzzugsfanatiker, der alle Gegner der kapitalistischen Ungerechtigkeit umstandslos zu Antisemiten erklärt. Neoliberalismus, Eliten, Finanzkapital – nichts als Giftprodukte aus der Hexenküche der Versager und Überflüssigen?

Eine uralte und notwendige Debatte wird, ohne den Anhauch einer Begründung, zu einem inquisitorischen Autodafé dämonisiert. Hier werden Begriffe, die der Klärung bedürften, an den Mast gehängt, um sie unter Gejohle zum Abschuss freizugeben. Reizwörter genügen, um die Edlen und Rechten zur Wallung zu bringen.

Alles, was eine Demokratie ausmacht: die Vermeidung von Ungleichheit, der nie aufhörende Kampf gegen Ungerechtigkeit, soll den Zweck haben, „die Unterscheidungslinie zwischen demokratisch und antidemokratisch systematisch zu verwischen“? Das ist mehr als bodenloses Geplärr, das ist Rückzug in die Herrschaft der Eliten. Die zweite Republik, ein Geschenk der Befreier, wird vor aller Augen demontiert.

Ja, die Warnung vor Judenhass, dem verwerflichsten Erbe der Deutschen, ist notwendig und überfällig. Wer aber die Gefahr nutzt, um alle Kritik an einem inhumanen und selbstmörderischen Kapitalismus im selben Aufwasch zu beseitigen, der ist kein Freund der Juden. Der missbraucht sie, um seine Gegner mit trüben Affekt-Koalitionen mundtot zu machen. Das ist mehr als schändlich, das ist ein Fehler.

Herzinger erwartet geschlossene Denksysteme? Früher sprach man von Originalität und Geniekult. Jedes Lernen von anderen wurde als minderwertiges Plagiieren verworfen. Im Sturm und Drang, dem ersten deutschen Aufbäumen gegen die Aufklärung, wurde das unvergleichliche Genie geboren. Jede Übernahme von anderen Geistern wurde zur epigonalen Imitation.

Wenn jeder unvergleichlich und monadisch ist, kann jeder nur seine eigene Welt erschaffen. Berührungen mit anderen Monaden gibt es nicht. „Wehe dir, dass du ein Enkel bist,“ Goethe verwarf und bewunderte den Geniekult gleichermaßen.

Ein Quidam sagt: „Ich bin von keiner Schule.
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle.
Auch bin ich weit davon entfernt,
daß ich von Toten was gelernt.“
Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:
Ich bin ein Narr auf eigne Hand.

Die deutschen Denker mussten metaphysische Gesamtentwürfe liefern, die nicht ihresgleichen auf der Welt hatten. Der unvergleichliche Geniekult wurde zur Quelle der Postmoderne: jeder schafft seine Wahrheit auf eigene Faust, ein Gespräch zwischen den Unvergleichlichen ist ausgeschlossen.

Das alles ist das Gegenteil von demokratischer Aufklärung, wo jeder mit jedem eine gemeinsame Sprache suchen kann, um eine universelle Wahrheit zu erarbeiten.

Geniegetue und Originalitätssucht sind demokratie-unverträglich. Wahre Originalität ist keine autistische Konstruktion subjektiver Wahrheiten, sondern wachsende Anteilnahme an der gemeinsamen Vernunft.

Schweigt, ruft Originalgenie Herzinger den Kritikern seines vergötterten Kapitalismus entgegen: ihr seid weder Hegel noch Nietzsche. Ihr seid bunte Hunde, die aus beliebigen Versatzstücken zusammengestückelt sind.

Von anderen lernen, seien sie aus Gegenwart oder Vergangenheit, jedem die Ehre antun, dass auch er etwas zu sagen habe, aber auch jeden so ernst nehmen, dass er irrtumsfähig sein darf, dass man ihm seinen Schwachsinn um die Ohren hauen kann: das ist vitale Demokratie.

Streiten ist Anerkennung des Streitpartners, keine Herabwürdigung eines bösen Andersdenkenden. Jemandem zuzumuten, seine Denkfehler zu entdecken und zu korrigieren: das ist Anerkennung einer lernfähigen Vernunft.

Das Geschwätz gegen Besserwisserei verbarrikadiert sich hinter der Unfehlbarkeit, es noch besser zu wissen als alle Besserwisser zusammen – ohne sich auf einen argumentativen Kampf einzulassen.

Wer seine Begründungen vorträgt, weil er sie für besser hält, tut das nicht aus Eitelkeit, sondern weil er eine gefährdete Demokratie verteidigen will. Demokratie kann nicht mit der Faust verteidigt werden, sondern nur mit wehrhaften Gedanken und Taten. Selbst, wenn er eitel wäre: was soll‘s? Lieber eitle Verteidiger der Demokratie als selbstgefällige Domänenverwalter, die es nicht mehr nötig haben, ihre Kompetenz nachzuweisen.

Lernen heißt, überzeugen und sich überzeugen lassen, prüfen und sich prüfen lassen.

„Sokrates war ein stetiger Unruhestifter, er verglich sich mit einer Bremse, die ein großes und edles, aber zur Trägheit neigendes Ross anstachelt. Seine Menschenprüfung hatte den Zweck, die Leute zur Selbstbesinnung zu bringen, zum Nachdenken über das, was sie wollen und sollen. Das nennt er „Sorge für die Seele“, damit diese so gut wie möglich werde. Dass der Mensch diese geistige Kraft zur Selbstbesinnung besitzt, ist seine felsenfeste Überzeugung; sie in andern zu entbinden, hält er für seinen Lebenszweck. Das Wirken dieses Herumstreichers verglich man mit dem schmerzenden Biss einer Otter oder dem elektrischen Schlag eines Rochens.“

Das heutige System muss wirtschaftliche Versager durch öffentliches Beschämen und Ausgliedern bestrafen. Das ist die „Gerechtigkeit der Erfolgreichen“. Wenn sie selbst in Gefahr kommen, durch Debattieren entlarvt zu werden, fangen sie an zu jaulen: da will uns ein Scheeläugiger schlecht machen. Unsere Reputation als Führungsklasse wird angezweifelt – wo soll diese Pöbelherrschaft nur enden?

Sie soll dort enden, wo es weder Pöbel noch aufgeblasene Eliten gibt. Schon gar keine, die ihren Pseudoadel an ihrem Kontostand ablesen. Eine Herrschaft des Volkes, in der nicht jeder mit jedem reden kann, ist zur Herrschaft der Kasten verkommen.

Warum sollte das Volk immer recht haben? Ein solches Volk gibt es nicht. Es gibt nur Individuen, die subjektive Meinungen haben – und die Fähigkeit, diese im Ring zu verteidigen.

Haben denn die Eliten immer recht? Davon geben sie sich überzeugt – bis zum nächsten Finanzdebakel. Warum unterlassen sie nichts, um ihre Dummheiten und Unverfrorenheiten hinter künstlichen Komplexitäten zu verbergen? Ihre Kunstsprachen sind zu „Framing- und Wording“-Nebelwerfern geworden, die den Ungebildeten einbläuen, dass sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.

Die ARD, eine riesige Institution politischer Experten, ist nicht in der Lage, ihren „Bildungsauftrag“ adäquat darzustellen und zu verteidigen. Das ist ein Gesamtkollaps der medialen Vermittlung. Was aber ist Framing?

Framing ist eine unbewusste Beeinflussungsmethode zur Gewinnung oder Erhaltung von Machtstrukturen. Die supermoderne Verhaltenstherapie aus der Schule Skinners – ist uralt, früher sprach man von sophistischer Rhetorik. Die Methode will lenken, ohne dass die Gegängelten ihre Lenkung bemerken.

Es geht nicht um Aufdeckung von Unklarheiten, um Ringen kollidierender Meinungen – oder um Aufklärung. Es geht um Reiz-Reaktionsmechanismen im Untergrund unseres Bewusstseins. Wir sollen gesteuert werden, ohne das wir verstehen, was mit uns geschieht. Wir sollen tun und denken, was andere für richtig halten, ohne Möglichkeit, uns selbst eine Meinung zu bilden.

Einer der Gründer der griechischen Rhetorik, des antiken Framings, war Gorgias. Als die athenische Demokratie immer mehr ins Wanken kam, schwand auch die Kraft der philosophischen Wahrheit. Die Skepsis wurde stärker. Die Rhetorik war ein Kind der Skepsis, die das Spiel um die Macht nicht mit Erkennen der Wahrheit, sondern mit der Verführungskraft der vieldeutigen Sprache gewinnen wollte.

Gorgias erteilte der Philosophie eine Absage und untersuchte die Möglichkeiten, mit doppelbödiger Redekunst sein Publikum zu gewinnen. Etwa in Gerichtsreden, mit denen die stärkere Sache zur schwächeren, die schwächere zu stärkeren gemacht werden konnte.

„Durch die Kraft des Wortes sollte das Kleine groß und das Große klein erscheinen.“ Sagte ein aufgeweckter Schüler zu seinem Rhetoriklehrer: „Wenn du mich das Überreden gelehrt hast, so überrede ich dich, kein Honorar zu nehmen; hast du es mich aber nicht gelehrt, so zahle ich dir auch keines, weil du es mich nicht gelehrt hast.“

Die neue Disziplin Rhetorik wurde als „Meisterin der Überredung“ definiert.

Sokrates kann man nicht verstehen, ohne seinen Kampf gegen die rednerische Überredungskunst verstanden zu haben. Von deutschen Altphilologen, bei denen die Begriffe Politik und Demokratie fast nie vorkommen, wird er nicht selten als Gegner der Demokratie dargestellt. Das Gegenteil ist richtig. Er entzog sich der plakativen Alltagspolitik, um die Demokratie durch grundsätzliche Wahrheitssuche zu verteidigen. Nur Demokraten, die wüssten, was sie tun, seien in der Lage, ihren Pflichten nachzukommen.

Vergleichen wir mit der heutigen Situation: nicht veränderte Parteiprogramme, nicht rhetorisches Getöse vor Kameras und in Talkshows werden die Erneuerung bringen, sondern das Nachdenken des Einzelnen, das intensive Gespräch, der Dialog oder Diskurs, der methodische Streit.

Die Mächtigen müssten just das tun, was sie vehement ablehnen: sie müssten sich mit sich selbst beschäftigen. Freilich nicht mit Austricksen, Runtermachen und Deklassieren, sondern mit – mäeutischen Gesprächen.

Das sind Selbstbesinnungen, mit denen jeder herausfinden kann, was er will – und was er sollte. Nur Selbsterforschung kann ihm zeigen, mit welchem Handeln er die Gemeinschaft verteidigen kann. Dieses Handeln nannten die Griechen Moral. Das sokratische Ziel der Erkenntnis waren nicht grenzenlose Einsichten über den unendlichen Kosmos, sondern die Erkenntnis moralischer Wahrheit.

„Unrechttun hat immer seinen Grund im Trachten nach äußeren Gütern wie Reichtum, Macht und Ehre. Das sind die Güter der eitlen Welt. Wer aber für seine Seele sorgen will, der strebt nach Wahrheit und Besonnenheit. Wer die falschen Güter von den richtigen unterscheiden kann, der ist „der wissende Mensch“, der nicht anders handeln kann als diesem Wissen zu folgen. Er würde sich selber schaden, wenn er mit sich in Zwiespalt käme. Handeln ist nicht abhängig von einem äußerlichen Angelernten oder Eingedrillten, sondern von der Fähigkeit, sich selbst zu erkennen. Alles andere wäre Unwissenheit, Irrtum oder Selbsttäuschung.“ (Nestle)

Betrachtet mit sokratischen Augen, wäre der ganze Politklamauk um Framing und Wording nichts als Selbst- und Fremdbetrügereien. Wenn es Probleme gibt in der Sprache, sollen sie, für alle sichtbar, auf den Tisch gelegt und überprüft werden. Dasselbe gilt für Sachprobleme. Dort, in der Öffentlichkeit, sollen sie in methodischer Strenge durchbuchstabiert werden.

Warum geschieht dies nicht? Gespräche brauchen keine Moderatoren, die alles besser wissen, weil sie ihre eigene Position verheimlichen. Im catch as catch can quotenabhängiger Talkshows kommt der Sieg der Rhetorik über die Wahrheit auf den schwatzhaften Begriff.

Wer sich wirklich durchschaut hat, wird der Stimme seiner Vernunft ohne Widerstreben folgen. Sollte er sagen: ich weiß, was ich soll, habe aber nicht die Kraft, meiner Einsicht zu folgen – der hat sich noch nicht durchschaut.

Welch unglaubliche Zuversicht in die Kompetenz der Vernunft war es, die zur ersten Demokratie in der Geschichte führte. Heute gibt es keine Zuversicht in die Vernunft. Religiöse Verachtung des Menschen als missratene und erlösungsbedürftige Kreatur ist die Ursache des demokratischen Verfalls.

Philosophische Selbstbesinnung war die Widerstandsbewegung der Athener gegen den aufkommenden Kapitalismus, den Zwillingsbruder des zoon politicon, der die neue Freiheit missbrauchte, um die Regeln der Polis zu schleifen. Die wahren Klassenkämpfer gegen die Herrschaft des Geldes und der Macht sind Denken und moralisches Handeln. Nicht Marx war der Held des Antikapitalismus, sondern die Denker der Demokratie, die Urheber der Menschen- und Völkerrechte.

„Eine Grunderkenntnis von Hirnforschung und Linguistik ist, dass jeder Begriff ohne dass der Mensch es beeinflussen könnte – den Rahmen bestimmt, in dem man anschließend denkt. „Zimt“? Man denkt an Gerüche. „Steuerlast“? Wie beschwerlich. „Staatsfunk“? Auf Linie bringen. Um in Diskussionen überhaupt eine Chance zu haben, rät Wehling der ARD zu eigenen Begriffen. Sie schlägt vor, vom „gemeinsamen, freien Rundfunk“ zu sprechen. Sie rät zur semantischen, „ständigen Pflege unserer medialen Infrastruktur“, mit der „wir die freie, demokratische Gesellschaft“ sichern. Was soll daran falsch sein? Wer will in einem Land leben, in dem Fox News statt ARD und ZDF den Diskurs prägt?“ (Sueddeutsche.de)

Was ist der Grundirrtum der „Gehirnforschung“? Dass sie glaubt, falsche Begriffe durch richtige ersetzen zu können. Von Natur aus gibt es keine falschen und richtigen Begriffe. Es gibt nur Begriffe, die gefälscht oder zu falschen Zwecken missbraucht werden. Zwar sind alle Begriffe subjektiv gefärbt. Doch diese Subjektivitäten können korrigiert werden – durch Bewusstwerden und gründliche Neubesinnung. Durch Rückbesinnung auf ihre Urbedeutung können Begriffe gereinigt und objektiviert werden.

Steuerlast ist nur für Feinde der Polis eine Last. Staatsfunk ist nicht falsch – denn hier werden Zwangsgelder erhoben. Staat aber wäre nichts Abstoßendes, wenn er die Heimat aller wäre.

Staatsmedien sind äußerlich unabhängig. Dennoch fühlen sie sich verpflichtet, bei mäßiger Alibikritik die Kirche im Dorf zu lassen. Alle Kritik an Merkel endet in finaler Segnung der Kanzlerin. Die Deutschen hängen an ihrer Mutterfigur. Deren geistloses Pflichtwerkeln gestattet ihnen, sich selbst durch alle Tageswirren hindurchzuwursteln. Solange Mutter ruhig bleibt, dürfen die beunruhigten Kleinen weiter schlafen.

„Was, oh Freund, verstehst du unter Gerechtigkeit?“ So könnte ein sokratischer Dialog beginnen. Was die Wörter den Einzelnen bedeuten, müssen sie individuell erforschen. Natürlich kann der Mensch den Sinn seiner Begriffe beeinflussen. Könnte er das nicht, müssten wir alle philosophischen Bücher auf den Müll werfen.

Erneut tritt eine Wissenschaft auf den Plan, die haarscharf beweisen will, dass der Mensch Sklave seines Gehirns ist. Nimm die Vorsilbe Neuro-, verbinde sie mit traditionellen Wissenschaften und du erhältst die Superwissenschaften der Gegenwart: Neuro-Ökonomie, Neuro-Linguistik, Neuro-Psychologie.

Welche Botschaften haben diese neuen Gehirnguckerwissenschaften? Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus. Halleluja.

Diese Botschaft ist so alt wie jene Erlöserreligionen, die den Menschen seit Jahrtausenden einpeitschen, dass sie wertlose Sündenkrüppel sind.

„Alles vermag ich durch den, der mich gemacht hat. Und er sagte zu mir: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn die Kraft erreicht ihre Vollendung in Schwachheit.“


(Auseinandersetzung mit Alain Finkielkraut folgt.)