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es gibt nur noch ein Mittel gegen die kapitalistische Pestilenz: die Weisheit des Begründers des Kapitalismus:

„Ungerechtigkeit wirkt mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft zu zerstören. Der Mensch hat eine natürliche Liebe zur Gesellschaft und wünscht, dass die Vereinigung der Menschen um ihrer selbst willen erhalten werde, auch wenn er selbst keinen Vorteil aus ihr ziehen sollte. Der geordnete und blühende Zustand der Gesellschaft ist ihm angenehm und er findet seine Freude daran, ihn zu betrachten. Unordnung und Zerrüttung der Gesellschaft dagegen erweckt seinen Abscheu und er ärgert sich über alles, was die Tendenz hat, solche Unordnung hervorzurufen. Er ist sich auch dessen bewusst, dass sein eigenes Interesse mit dem Gedeihen der Gesellschaft enge verknüpft ist, und dass die Glückseligkeit, ja vielleicht die Erhaltung seines Daseins, von ihrer Erhaltung abhängt. Aus all diesen Gründen hegt er darum einen Abscheu gegen alles, was dahin zielen kann, die Gesellschaft zu zerstören, und ist bereit, sich jedes Mittels zu bedienen, dass ein ihm so verhasstes und schreckliches Ereignis zu verhindern vermag.“ (Adam Smith)

In einer aufsehenerregenden Untersuchung wurde dieser Text ohne Nennung des Verfassers anerkannten Ökonomen vorgelegt. Sie sollten nachweisen, dass ihnen Texte des Urkapitalismus vertraut sind und sie den Namen des Verfassers nennen können. Das Ergebnis war frappierend (wie alle wissenschaftlichen Erkenntnisse heutzutage frappierend sind): nur ein Gelehrter tippte auf den richtigen Namen. Es war der Außenseiter vom Dienst, der einen Lehrstuhl für die Ethik des Kapitalismus innehatte.

Solche ethischen Sonderlinge gibt es. Der Zutritt zur Gruppe der Wirtschaftsweisen, die Aufmerksamkeit der Medien, die Nähe zur Regierung ist ihnen verschlossen. Stellungnahmen aus traumtänzerischer Sicht schaden der Konkurrenzfähigkeit der

  deutschen Wirtschaft – wie Untersuchungen ihrer realpolitischen Kollegen ergaben.

Frappierend sollen die Ergebnisse gewesen sein? Never. Gehirnuntersuchungen einer repräsentativen Gruppe von Wirtschaftlern kamen zur Erkenntnis, dass ethische Zentren in Ökonomiegehirnen – unauffindbar waren. Fake news? Das weisen die Neurowissenschaftler empört zurück. Eine Prise Wissenschaftsdeutsch gefällig?

„Neben cortikalen sind auch subcortikale Regionen und Komponenten des so genannten limbischen Systems beteiligt, das für das emotionale Erleben wichtig ist. Die Amygdala etwa fährt immer dann ihre Aktivität hoch, wenn moralische Emotionen im Spiel sind. Sie ist relevant für die Vorhersage, ob ein bestimmtes Verhalten anderen Menschen Schaden zufügt. Letztlich gibt es aber kein ethisches oder moralisches Zentrum im Gehirn.“ (dasgehirn.info)

Die Stellungnahmen sogenannter Wirtschaftsweiser zu moralischen Folgen von Ungerechtigkeit bestätigen den Verdacht, dass ökonomische Experten nicht die leiseste Ahnung von Gerechtigkeit haben. Sonst könnten sie nicht solchen Stuss von sich geben, wenn‘s um Absicherungen sozial Schwacher, die Gefahr einer unermesslichen Kluft zwischen Superreichen und Nichtshabern und die selbstzerstörerischen Folgen eines grenzenlosen Wirtschaftswettbewerbs geht. So auch ihre heutige Stellungnahme zur SPD, die ihre Schröder‘schen Hartz-4-Verirrungen reumütig zurückgenommen hat.

„Der Vorsitzende der „Wirtschaftsweisen“, Christoph Schmidt, hat kritisch auf das SPD-Konzept für eine Sozialstaatsreform reagiert. Die Partei schicke sich an, „das arbeitsmarkt- und rentenpolitische Rad wieder zurückzudrehen“, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage der „Süddeutschen Zeitung.“ Mir scheint, dass die schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit mittlerweile völlig in Vergessenheit geraten sind, als die Wirtschaftspolitik noch verzweifelt nach Wegen gesucht hat, einen gewaltigen Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen.“ (SPIEGEL.de)

Kein Journalist befragt die Weisen, ob sie die emotionale Situation der Abgehängten nachempfinden können. Solche Fragen sind für sie unwissenschaftlich. Sie kennen die Zahlen, ergo kennen sie die Gefühle der Zahlenträger. Naturwüchsige Gefühle sind für sie Old School. Der Fortschritt der Wissenschaften habe an die Stelle luftiger Spekulationen die stets überprüfbare Zahl gesetzt. Zahlen bewiesen: den Deutschen gehe es so gut wie noch nie. Wer anders empfinde, müsse ein Dino sein, der versehentlich überlebt habe.

In der Tat. Dort, wo bei retrograden Menschen moralisches Mitempfinden im Gehirn nachgewiesen werden kann, sind in entsprechenden Gehirnarealen der Ökonomen nur Zahlenkolonnen zu entdecken. Die Evolution hat die einfühlende Epoche der Menschheit überwunden. Wir sind im Bereich der weisen und kalten Zahlen angekommen. Weisheit ist keine Summa kluger Gedanken mehr, sondern mathematische und algorithmische Zahlenreihen. In Platons idealem Staat haben Weise die Macht übernommen, im zukunftsfesten Staat der Gegenwart sind es Statistiker und Rechner.

Ökonomen lesen keine Bücher, sie rechnen. Die Klassiker, auf die sie sich bei Feiertagsreden berufen, sind ihnen unbekannt. Ihre Studenten haben den Namen Adam Smith kaum gehört. Die Sprache, von Theologen in ein Wünschdirwas verwandelt, ist von Naturwissenschaftlern endgültig in einem Meer von Zahlen ersäuft worden. Postmoderne Medien haben sie von der Wahrheit abgekoppelt, auf dass sie ihre ästhetischen Dekorationskünste voll zur Geltung bringen können. In der Silicon-Valley-Politeia der Zukunft wird es keine Sprache mehr geben.

Die empathische und moralische Absenz der Wirtschaftsweisen – wie lässt sie sich erklären? Neurowissenschaftler verweisen auf den Fall des Eisenbahnarbeiters Phineas Gage im Jahre 1848.

„Bei einem Unfall im Jahr 1848 wird ihm eine Metallstange in Kopf und Stirnhirn getrieben. Er überlebt, doch seine Persönlichkeit ist verändert: Der vorher als ruhig und umgänglich beschriebene Mann wird plötzlich grob, respektlos, verliert die Achtung vor den Kollegen. Die Hirnverletzung hat seinen Charakter und auch seinen sozialen Umgang verändert.“ (dasgehirn.info)

Irgendein Äquivalent zu dieser Metallstange im Kopf muss den Ökonomen jegliche Gerechtigkeitsvorstellung à la Adam Smith ausgetrieben haben. Auch die Freude an einer harmonischen Gesellschaft, in der alle auf ihre Kosten kommen. Heute herrscht disharmonischer Wettbewerb rund um den Globus.

Die Gerechtigkeitsvorstellungen von Adam Smith sind jedem Kind zugänglich, gerade deshalb werden sie von ausgewachsenen Männern abgewiesen. Es müssen schreckliche Metallstangen gewesen sein, die den Ökonomen symbolisch in den Schädel gejagt wurden, dass sie wie Phineas Gage nur noch grob, respektlos und uneinfühlsam ihre Zahlen reproduzieren. Verhalten sie sich im Kreis ihrer Frauen und Kinder auch nur als Vorformen der Roboter? Dem naiven Zeitbeobachter tun sich Abgründe auf.

Wirtschaftsweise: das muss satirisch gemeint sein. Mit Weisheit haben die Dompteure der Zahlen so viel zu tun wie KI mit selbständiger Intelligenz. Die Profitrechner sind zu Bodyguards der Industrie geworden. Wer dennoch von Wirtschaftsweisen spricht, sollte wegen Schändung der Weisheit zu lebenslänglicher Sozialknete verurteilt werden. Diesen Herren ist es schlechthin gleichgültig, wie Menschen am Rand der Existenz vegetieren können.

Ihr Weltbild ist überschaubar. Wenn Wirtschaft „brummt“, ist es das Verdienst der Spätkapitalisten, die der Gesellschaft Arbeitsplätze verschaffen. Brummt sie nicht, ist es die Schuld der Arbeitsplatz-Nehmer, die über ihre Verhältnisse leben, übermäßige Löhne kassieren und den Unternehmern das Leben schwer machen. Es ist wie bei Schöpfer und Geschöpf. Ist alles sehr gut, gebührt Dank und Anerkennung dem Großen Meister. Ist alles im Eimer, sind die Geschöpfe schuld.

Wenn der Staat die Industrie in schweren Zeiten unterstützt, sprechen sie von konjunkturstützenden Interventionen. Wenn er bedürftigen Menschen hilft, werden Parasiten mit Steuergeldern hart arbeitender Menschen über Wasser gehalten.

Es geht hier um das grundsätzliche Problem einer erpressbaren Abhängigkeit. Alles Gute kommt von Oben, von den Agilen, Tatkräftigen und Reichen. Also müssen sie vor allen anderen unterstützt werden, damit die Nation keinen Schaden nehme. Es ist wie in der traditionellen Patriarchenfamilie. Dem Oberhaupt der Familie gebühren immer zwei Schnitzel. Denn seine Arbeit ernährt die ganze Familie. Bedürfnisse der Anderen müssen zurückstehen.

Seitdem die ersten Kapitalisten den Bauern Land und Autarkie abjagten und sie von ihren Höllenbetrieben abhängig machten, war an eine gleichberechtigte Tauschgesellschaft nicht mehr zu denken. Wiesen die ausgeraubten Bauern den Arbeitsplatz der Fabrikanten zurück, konnten sie wählen zwischen Bettelei, Zwangsaufenthalt in Arbeitshäusern (vergleichbar heutigen Hartz-4-Sauereien), der Emigration nach Amerika oder freiwilligen Verrecken.

Es geht nicht nur um ungleiche Reichtümer, es geht um Machtunterschiede. Der Reiche ist mächtig. Die Schicht der Reichen kann jeden Staat aushebeln. Über den Aspekt des demokratie-feindlichen Besitzes wird nicht gesprochen. Als Vorzüge des Kapitalismus werden stets genannt: wachsender Wohlstand und die Errettung vieler Völker aus absoluter Armut. Abgesehen davon, dass die meisten Menschen lieber in naturverträglicher Bedürfnislosigkeit als in erniedrigender Abhängigkeit leben wollten, wird der Aspekt der pekuniären Macht ausgeblendet.

Wenn Ehrgeizige durch einseitige Akkumulation von Geld und Gut eine solche Übermacht erringen können, dass sie die Gleichwertigkeit der Demokraten zerstören, sind sie per definitionem antidemokratisch und müssten durch Gerichtsbeschluss verboten werden.

Sie reden gern von Freiheit, um (wie Poschardt) auf der Autobahn mit 300 km/h Menschen zu gefährden oder mit lobbyistischer Gewalt die Politik zu beeinflussen. Dann muss es auch Freiheit sein, wenn Amerikaner sich bewaffnen, um Selbstjustiz zu üben.

Alles Demokratische ist reziprok. Nichts ist atomistisch. Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Ist der Eine reich und mächtig, muss der Andere seiner Weisung folgen, ob er will oder nicht. Gerechtigkeit ist ein Netzwerk. Gerechtigkeit „gegen“ diesen oder jenen ist keine Politik, sondern christliche Nächstenliebe, die die Welt nicht verändern, sondern Punkte für den Himmel sammeln will.

Worin gleichen sich linke Systemrevoluzzer und rechte Systemverteidiger? Dass beide das System anbeten und den Einfluss des Einzelnen negieren. Alles soll durch das System, nichts durch den mündigen Menschen vollbracht werden.

So denkt der grüne Politiker Habeck, so der linke Sozialpsychologe Harald Welzer. Das Tun des Einzelnen ist von privater Belanglosigkeit. Entscheidend ist das Tun der Politiker. Privates Tun nennen sie Moral, das Tun der Politiker die Erhaltung oder Veränderung des Systems.

Was aber ist ein System?

„Als System (‘aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes‘) wird allgemein eine Gesamtheit von Elementen bezeichnet, die miteinander verbunden sind und dadurch als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können, als strukturierte systematische Ganzheit.“ (Wiki)

System ist entweder eine Maschine, die aus verschiedenen Teilen besteht, die per Konstruktion zusammenwirken – oder eine Demokratie, die per Gleichberechtigung aller Mitglieder ihre Entscheidungen suchen muss. Jede Demokratie ist gefährdet, zur Maschine in der Hand weniger zu degenerieren. Dann sprechen wir von Diktatur, Despotie oder Faschismus. Systeme verbinden Politik und Moral. Wer sie trennt, zerstört das Netz des Systems.

Irrsinnig, das Tun des Einzelnen vom Tun des Ganzen zu trennen. Das System wurde zur modernen Umschreibung der preußisch-religiösen Obrigkeit. Wer die moralische Kraft und Bedeutung des Einzelnen verwirft, entlarvt sich als Anhänger einer gottgewollten Obrigkeit.

Was soll man von der deutschen Demokratie halten, wenn es hier keine einzige nennenswerte Philosophie der moralischen Verantwortung gibt? Wie sollen moralische Kastraten systemische Entscheidungen fällen, wenn sie über keine politische Kompetenz verfügen? Der unmündige Mensch soll mündige Politik betreiben?

Wer außer moralisch Mündigen soll zuständig sein für die Veränderung oder Erhaltung des Systems? Das System ist nichts anderes als die vernetzte Summe aller Einzelnen. In der athenischen Urdemokratie war das System sichtbar – in der Volksversammlung, in den Volksgerichten, in allen Tätigkeiten, die eine Demokratie am Leben erhalten und, zeitlich limitiert, von allen übernommen wurden. Nicht säuerlich und gezwungen, sondern in politischer Leidenschaft. Wer gegen seine moralischen Grundsätze verstößt, seien sie privat oder politisch, vertritt eine Doppelmoral. Diese Heuchelei ist das moralische Ideal der gegenwärtigen deutschen Eliten.

Der Verfall der deutschen Demokratie ist am deutlichsten zu erkennen an der Ablehnung der Moral des Einzelnen und der Anbetung eines Systems, das über allen Menschen schwebt. Die Linken attackieren das Gerede vom alles-entscheidenden Markt. Doch auch ihr Markt heißt System, das von Einzelnen weder erreicht noch reguliert werden kann.

Systemtheoretiker wie Luhmann haben die Gesellschaft in eine selbstregulierende Megamaschine verwandelt, in der der einzelne Mensch nichts zu sagen hat.

„Und wo bleibt der Mensch? In der Systemtheorie von Niklas Luhmann „verschwindet“ der Mensch als Einheit, Luhmann selbst bezeichnete seine Theorie absichtsvoll als „antihumanistisch“.“

Wenn alles wie eine Maschine funktioniert, werden Menschen zu Maschinisten, die den Anweisungen der Konstrukteure folgen müssen. Diskurs und Debatte sind unmöglich geworden.

Habermas wollte Luhmanns systemischer Knechtschaft eine demokratische Diskursethik gegenüberstellen. Gleichwohl ist auch sein Diskurs von moralischen Erwägungen ausgeschlossen:

„Damit bleibt bei Habermas der Weg versperrt, moralische Erwägungen zur Grundlage der Rechtsgestaltung zu erheben“.

Biologen setzen auf Evolution, Theologen auf Gott, Historiker auf Geschichte, Kapitalisten und Marxisten auf den guten und bösen Markt, Neurologen auf das Gehirn, Psychologen auf Konditionierung, Soziologen auf die Gauß‘sche Glockenkurve – wo bleibt die Mitbestimmung des Menschen?

Von allen Seiten wird der Einzelne entmündigt oder für belanglos erklärt. Soll er das Fliegen einstellen, kein Fleisch mehr essen, Rad fahren – und überhaupt ökologisch vorbildlich sein?

Ach was. Noch immer ist die Losung der modernen Systemanbeter lutherisch: Sündige tapfer – wenn du nur an die Rettung des Systems glaubst. Durch wen? Durch Menschen, die ihre politischen Entscheidungen ohne moralische Kompetenz fällen?

Was Wirtschaftsweisen unzugänglich bleibt, ist das Leben jener, die von der Wirtschaft ruiniert werden. Der junge Schriftsteller Edouard Louis aus der französischen Arbeiterklasse hat die Qualen seines Vaters und seine eigenen geschildert:

„Louis‘ Buch handelt von der Beziehung zu seinem Vater in einem von Arbeitern geprägten Dorf in Nordfrankreich. Unter der Härte des Vaters, der Dominanz und dem Hass auf alles „Verweichlichte“ leidet die ganze Familie – insbesondere Louis selbst. Nach Jahren knochenharter Jobs und einem schweren Arbeitsunfall hat sein Vater heute einen kaputten Rücken, dazu Herz- und Atemprobleme. Zusätzlich belasten die Familie seit jeher politische Maßnahmen wie Sozialstaatsabbau oder die Reform des Arbeitsmarktes. Die Gestalter dieser Politik, die Staatspräsidenten Chirac, Sarkozy, Hollande und Macron hält Louis auch für diejenigen, die für die „Zerstörung“ seines Vaters verantwortlich sind.“ (Jetzt.de)

Die führenden Klassen schweben außerhalb des Vegetierens in Scham und Versagen. Wenn Journalisten die Realität beschreiben, machen sie sich stets „auf Spurensuche“ quer durchs Land, das ihnen in vielen Aspekten unbekannt ist. Was eigentlich ist los … mit unserer Jugend, unseren Innenstädten, unserem Wohnungsmarkt, mit unseren Kitas und Schulen, unseren Betrieben?

Weltblindheit wird stilisiert zur Naivität, die die Gesellschaft in Distanz wahrzunehmen glaubt. Doch ihre künstliche Naivität verhüllt nur ihr Fremdeln, welches froh ist, wieder zu Hause zu sein. Warum müssen sie die Welt durch ästhetisches Kolorieren verklären? Weil sie die Welt, wie sie ist, nicht ertragen. Künstlerischer Schein dient der Verhüllung des Seins, welches man in nackter Rohheit nicht erträgt.

Das gilt nicht nur für die Welt der anderen. Selbst die eigene Welt bleibt unbekannt, wenn man kontrastlos in ihr brütet. Sie wollen die fremde Welt beschreiben wie Daniel Defoe die Reisen des Robinson Crusoe. Der aber fand eine unbekannte fremde Welt, die von der eigenen noch unberührt war.

Solche Unberührtheiten gibt’s in der ganzen Welt nicht mehr. Wo immer man hinkommt, trägt man die Brandzeichen im Gepäck, mit denen die fremden Welten gebrandmarkt wurden. Das gilt auch für die verratenen Klassen der eigenen Gesellschaft. Wer andere verstehen will, muss synchron sich selbst verstehen. Die Überlegenheit der bürgerlichen Klassen schmeichelt den Tüchtigen und Glücklichen. Dass sie nur tüchtiger sind, weil sie ihre Unfähigkeiten bei den Niederen entsorgen konnten, wollen sie nicht wahrhaben.

Das gesellschaftliche System hat vor allem die Aufgabe, Schuld und Verdienst asymmetrisch zu verteilen. Schuld den anderen, Verdienst sich selbst. Auch dieses Gesetz haben sie ihrem himmlischen Vater abgeschaut. Gott ist immer sündlos, selbst wenn er ganze Völker abschlachtet; Menschen sind immer schuldig, auch wenn sie moralische Genies wären. Es zählt nicht, was sie wirklich sind und getan haben. Es zählt, was ihnen von Oben „zugerechnet“ wird.

Würden die Oberen moralische Kriterien zulassen, müssten sie sich selbst moralisch beurteilen oder verurteilen. Das erträgt kein Banker, der im Angstschweiße seiner Gier Millionen einstreicht.

Joris Luyendijk hat in der ZEIT den Versuch unternommen, Porträts über Londoner Banker zu schreiben. Sind sie böse Menschen? Iwo. Sie sind Menschen wie Du und Ich. Das System macht sie zu – ja, zu was? Zu Schurken, Supermännern, Weltbeherrschern?

„Die meisten meiner Interviewpartner hätten vom Klischee des psychopathischen Wall-Street-Wolfs nicht weiter entfernt sein können. Wenn ich sie nach ihren Arbeitskollegen fragte, sagten sie: Schwarze Schafe gibt es überall, und das Bankgeschäft scheint sie anzuziehen. Doch die überwältigende Mehrheit meiner Kollegen sind Menschen wie du und ich. Schlechte Menschen sind nicht das Problem, insistierten die Banker. Das Problem ist ein System, das schlechtes Verhalten belohnt. Das also ist das Erste, was man bei genauem Hinsehen in den Gesichtern der dahineilenden Banker entdeckt. Nicht Schuldbewusstsein, schließlich hatte so gut wie niemand persönlich etwas mit dem Crash zu tun. Nicht Gier, obwohl der Ehrgeiz, den größten Bonus von allen zu bekommen, natürlich eine wichtige Rolle spielt. Das vorrangige Gefühl, das die Gesichter von Bankern verzerrt, ist Angst. Bei vielen Großbanken gibt es vierteljährliche Entlassungswellen – Hunderte Angestellte verlieren dann an einem Tag ihre Arbeit.“ (ZEIT.de)

Keine Schuld nirgendwo. Das setzt voraus, dass niemand für moralische Entscheidungen haftbar gemacht werden kann. Wie aber kamen die armen Opfer des Systems zu ihrem Job?

„Viele dieser Menschen haben schon als Teenager und dann in ihren Zwanzigern beharrlich daran gearbei­tet, dorthin zu gelangen, wo sie jetzt sind. Das richtige Gymnasium, der richtige Bachelor­-Abschluss, das richtige erste Sommerpraktikum, das richtige zweite Sommerpraktikum.“

Leugnet man den freien Willen, ist niemand schuld. Dann sollte man aber auch Verbrecher nicht anklagen und verurteilen, als hätten sie absichtlich böse gehandelt.

Bleiben wir jedoch auf der Ebene der persönlichen Zurechnung, so haben die Banker schon als junge Menschen die moralische Entscheidung getroffen, sich dem Moloch zur Verfügung zu stellen. Auf Glück oder Unglück, auf Teufel komm raus, auf Risiko und Gefahr.

Gottlob, dass es das System gibt. Es befreit uns von aller Verantwortlichkeit. Die Linken harren des Systems, welches die Welt retten wird. Die Rechten vertrauen auf das System, das all ihre Machenschaften rechtfertigt. An einer winzigen Stelle aber blitzt die Erkenntnis auf, dass es doch eine Schuld geben könnte, die nicht ohne Strafe bleiben wird:

„Der Ausdruck, den Londoner Banker für diese Art von Kündigung verwenden, spricht Bände: „execution„, Hinrichtung. Hakt man nach, zucken sie mit den Schultern: «So ist es nun mal. Wer Loyalität will, soll sich einen Hund anschaffen.»“

Welches politische System bevorzugen die Opfer, die den Reichtum der Welt als Beute betrachten? Das totalitäre chinesische Überwachungssystem:

„«Dieses Konzept findet mit 46 Prozent im Milieu der Performer den größten Anklang», sagt Manfred Tautscher, Geschäftsführer des SINUS-Instituts. «Diese wirtschaftsnahe und effizienzgetriebene Leistungselite ist äußerst fortschrittsoptimistisch und schätzt es sehr, wenn das Leben durch technischen Fortschritt vereinfacht wird. Den geringsten Zuspruch erfährt dieses Instrument hingegen mit 28 Prozent im Milieu der Sozialökologischen.»“ (heise.de)

Wer Angst vor Exekution hat, muss prophylaktisch selbst exekutieren, um seine Ängste loszuwerden. So entstehen totalitäre Systeme.

Hinrichtung, Todesstrafe – für blanke Unschuld? Die Welt ist illoyal, jeder ist der Wolf des anderen – sagen die Wölfe. Und wollen für immer schuldlos sein.

Die Menschheit ist dabei, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Nur keine Aufregung: das System kennt keine Schuld. Niemand muss Verantwortung tragen. Die Weisheit der Ökonomen ist Torheit vor der Moral. Die Weisheit der Moral Torheit vor Gott. Die Jugend, sie soll sich nicht so haben.

 

Fortsetzung folgt.