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BILD-Reichelt zeigte, dass selbst der Springer-Verlag lernfähig ist:

„Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum, für die wahre Demokratie zu kämpfen“
schrieb er in einem flammenden Plädoyer zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Mit beredten Worten bereute er den bisherigen Kampf seines Verlages gegen Moral. Ohne moralische Widerstandskraft sei Politik schutzlos gegen alle Verbrechen dieser Welt. Moral zur Moralkeule zu dämonisieren sei eine Verwerflichkeit seines Hauses gewesen und werde sich ab jetzt grundlegend verändern. Alle MitarbeiterInnen des Verlags werden verpflichtet, Kurse in demokratischer Ethik zu besuchen, um die bisherige innere Hohlheit und Verworfenheit von WELT & BILD zu erkennen und sich zukünftig zu wehrhaften Demokraten zu entwickeln. Demokratie sei eine hochmoralische Erfindung der Griechen, die durch amoralischen Zynismus nur zugrunde gerichtet werden könne. Zerknirscht müsse er zugestehen, dass mediale Schlechtmenschenkohorten der deutschen Republik großen Schaden zugefügt hätten.
Kein Widerständler im Dritten Reich sei denkbar gewesen ohne Kompass menschlichen Anstands. Reichelt erinnerte an Hans von Dohnanyi, „der noch im April 1945 hingerichtet wurde, weil er Juden zur Flucht verholfen hatte. Warum er das im Wissen der drohenden Todesstrafe getan hatte? „Es war einfach der zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen„.
Es gebe nur eine Lehre aus Auschwitz: Nie wieder – amoralisch und menschenfeindlich.

Das war ein Appell der Kategorie „Wunder gibt es immer wieder – nur nicht bei BILD“.
Denn der Appell gehört zum Genre Fake News. Es war nicht Reichelt, sondern der jüdische Historiker Saul Friedländer, aus dessen Bundestags-Rede hier zitiert wurde.
(SPIEGEL.de)

Auch der Bundestagspräsident fand deutliche Worte am Erinnerungstag der deutschen Schande:

„Keine Nation könne sich ihre Geschichte aussuchen oder sie abstreifen. „Geschichte ist die Voraussetzung der Gegenwart und der Umgang mit ihr ist die Grundlage

  der Zukunft jedes Landes“, so Schäuble. Aus der deutschen Schuld erwachse unsere Verantwortung.“

Woran erkennt man, dass richtige Sätze zur Predigt entarten? Wenn sie sich nicht zielgerichtet gegen jene wenden, die sie bestreiten. Dann werden wahre Sätze zu Erbauung oder Kitsch. Wie etwa im Kommentar von BILD-Wagner zur Friedländer-Rede, der nicht schnell genug zum Eigenlob der heutigen Deutschen wechseln konnte:

„Es war still im Bundestag, die Grünen-Chefin weinte. Alle erhoben sich, als Friedländer sagte, dass die Deutschen ein anderes Volk geworden sind. Ein Bollwerk gegen die Gefahren von Rassismus. Und mit seiner leisen Stimme ermahnt uns der alte Mann, der eigentlich tot sein sollte. Zu Toleranz, Menschlichkeit.“ (BILD.de)

Toleranz, Menschlichkeit – sind das nicht Moralkeulen eitler Gutmenschen?

Vor allem die Spitzenpositionen der deutschen Verfassung sind zu staatstragenden Reden im Predigtton verpflichtet. Von konkreter Tagespolitik entlastet, können sie die Höhen folgenloser Moral unbeschwert erklimmen. Bei der Kanzlerin beginnt die Verpflichtung zur machiavellistischen Staatsraison, die Moral nur als heuchelndes Instrument amoralischer Interessen einsetzen darf. Merkels Politik ist ein unentwirrbares Knäuel aus Eigennutz und folgenloser Agape.

„Ein Mensch, der überall nur das Gute will, muss inmitten von vielen, die das Schlechte tun, notwendigerweise zugrunde gehen.“ (Machiavelli)

„Inmitten von vielen, die das Schlechte tun“: eine friedliche Nation wäre demnach verpflichtet, durch leuchtendes Vorbild die Zahl kriegerischer Völker zu reduzieren, um Frieden und Selbsterhaltung miteinander zu verbinden.

Kriege beginnen nicht mit dem Einsatz der Waffen, sondern mit der Verbreitung von erbarmungsloser Konkurrenz, Hass und Aggression. Insofern die deutsche Verfassung ihre obersten Repräsentanten zur Moral, alle anderen aber zur amoralischen Staatsraison verpflichtet, erweist sie sich als Heuchel-Verfassung.

„Im Deutschen wurde damals das Bild des Heuchlers vom Hunde hergenommen, der die Sache, das Hauchen und Kriechen und Sich-ducken, vom Menschen erst gelernt hat.“ (Mauthner, Wörterbuch der Philosophie)

Wenn Schäuble das Erinnern des Vergangenen zur Pflicht bewusster Demokratie erhebt, hätte er sich mit klaren Worten gegen die heutigen Zukunftsparolen wehren müssen: „Ich schaue nicht zurück, ich schaue nach vorn“.

Aus deutscher Schuld erwachse unsere Verantwortung? Hier schon beginnt der Irrtum. Verantwortung, Wille der Vernunft, kann Schuld erst definieren, wenn sie zuvor eine Moral des Guten und Bösen entworfen hat. Zuerst muss ich eine Tat als meine Schuld erkennen und anerkennen, bevor ich mich für ihre Folgen verantwortlich zeige. Wer moralische Kriterien des Handelns verwirft, kennt weder Schuld noch Verantwortung.

Ein darwinistischer Rassist der Gegenwart würde noch heute jede Schuld an der Vernichtung des jüdischen Volks zurückweisen. In seiner moralischen Matrix können die Starken und Wohlgeratenen gar nicht anders, als die Überflüssigen, Schwachen und Lebensunwerten vernichten. Sie müssen tun, was sie im Dienst einer gnadenlosen Evolution zu tun gezwungen sind.

Am Auschwitz-Tag entlarvte sich das ganze Ausmaß der BILD-Heuchelei. In ihrem Bericht über die Erinnerungsfeier im Reichstag sucht man Friedländers Appell an die moralische Standfestigkeit der Deutschen so vergeblich wie einen erstzunehmenden Kommentar zur deutschen Schuld. Wie kann man schuldig werden ohne Kriterien des Guten und Bösen? Wie kann man seine Schuld in tätige Reue und Buße (nicht vor Gott, sondern den Menschen) verwandeln, wenn man nicht weiß, was man falsch gemacht hat? Das sind Fragen auf Klippschulenniveau. Die Deutschen beherrschen sie nicht mehr. (BILD.de)

Menschenrechte, Würde, Freiheit sind Selbstverpflichtungen einer moralischen Vernunft. Wer Moral ablehnt, lehnt automatisch die Menschenrechte ab. Vernunft ist kein beliebig veränderbares, frei schwebendes Ding im Weltraum, wenn sie durch De-finition (Abgrenzung) scharf umrissen und dingfest gemacht worden ist.

Zur Moral- und Vernunftverdrossenheit der Deutschen gehört ihre Lieblingsdisziplin: alles Wertvolle, zu Verteidigende und Anzustrebende so lange zu schmähen und zu verwüsten, bis man sagen kann: dieser Begriff ist verbrannt, man kann ihn nicht mehr verwenden. Sätze wie: ich bin es leid…, das kann ich nicht mehr hören, das nervt, gehören inzwischen zum rhetorischen Standard der Edelschreiber.

Antisemitismus ist Verletzung der Menschenwürde, ein radikaler Verstoß gegen die Moral der Menschenrechte. Wie kann BILD philosemitisch sein, wenn sie keinen Tag ohne Keulenschlag gegen die „Moralkeule“ auskommt? Wie kann man Moral als menschenschädigende oder -vernichtende Waffe diffamieren, wenn sie das einzige wehrhafte Mittel der Verteidigung der Demokratie ist? Sie wollen „sündigen“, aber bitte im Dunkeln. Das ist die Tradition der mittelalterlichen Dunkelmänner, die das Licht der öffentlichen Meinung scheuten. Dunkelmänner oder Obskuranten waren Gegner der Aufklärung, die sich nicht zufällig die Epoche des Lichts nannte.

„Obskurantismus (lat.), Gegensatz zu Aufklärung, sowohl die Hinneigung zur geistigen Dämmerung als das System, alle Aufklärung von andern abzuhalten. Die Anhänger des O. heißen Obskuranten (Finsterlinge).“ (Meyers Konversationslexikon)

Dominanz der Finsterlinge – das wäre ein passendes Etikett für die deutsche Gegenwart. Wie kann eine vitale Demokratie ohne politische Feste auskommen? Wie kann sie lebensnotwendige Erinnerungen zu erbaulichen Heucheltagen verunstalten?

„Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“ (Hegel)

Nicht nur die Philosophie. Erbaulichkeit war zu Hegels Zeiten noch ein pietistisches Augendrehen. Heute drehen sie die Augen, wenn von humaner Politik die Rede ist. Antimoral wurde zur eigentlichen Moral.

Will man in Deutschland einen Gegner einstampfen, muss man ihn als Moralisten beschimpfen. Keine größere Beleidigung als der Ausruf: du Gutmensch, du Moralist!

40 Nachkriegsjahre haben sie benötigt, um sich von demokratischer Moral erziehen zu lassen. Seit Einbruch des Neoliberalismus unterlassen sie nichts, um ihrer Re-education ein weites Re- anzuhängen: Re-re-education. Mit Negation der Negation sind wir wieder da gelandet, wo die Westmächte uns an den Haaren aus dem Sumpf zogen. Was Moral – solange wir Deutsche sind und freie Fahrt auf Autobahnen haben!

Was aber ist mit der WELT? Stets ist sie bemüht, liberaler zu wirken als BILD. Diese Marotte darf aber nicht übertrieben werden. Der Grundtenor des Verlags muss bleiben: Was Moral ist, bestimmen immer noch wir. Sind wir nicht frei? Sollen wir uns etwa eine fremde Moral aufdrücken lassen?

Mit Autonomie hat diese Reaktion nichts zu tun, sondern mit Dreistigkeit. Die angemaßte Freiheit erträgt nicht die Freiheit der anderen. Da will eine selbsternannte Elite bestimmen, wo Bartels den Most holt.

Aufklärung war eine Sache der oberen, gebildeten Stände – Adel nicht ausgenommen. Seitdem das Licht bei den Unteren angekommen war, nicht selten in Form tugendhafter Überlegenheit über die Mächtigen, wurde aus moralischer Erstlingsschaft der Neid derer, die sich mit Moral nur noch langweilten. Sie beschimpfen die Moralisten des Pöbels als Spießer, um sich selbst als Edelmänner einer restaurierten Amoral in Szene zu setzen.

Amoralismus wurde zur Neu-Moral derer, die es nicht mehr nötig hatten, sich mit biederem Gutsein zu profilieren. Wer sein Copyright an andere verlor, muss es den unteren Feinden neiden und eine neue Überlegenheit anmelden. Ick bün al hier, rufen die Erfolgreichen, um ihren Abhängigen zu zeigen, wer noch immer das Sagen hat. Was in die Hände des Volkes gelangt, muss lächerlich und auftrumpfend sein.

Thomas Schmid schreibt über die deutsche Schuld:

„Weil diese Schuld unwiderruflich in die Welt der existierenden Dinge eingebracht ist, geht sie auch die Nachgeborenen an. Man kann sich dessen weder mit guter Gesinnung noch durch laute Parolen entledigen. Der 27. Januar sollte kein Anlass sein, im Heute die Umrisse der nationalsozialistischen Vergangenheit zu erkennen. Er könnte vielmehr Anlass sein, der Verlorenheit der Opfer, der geretteten und der untergegangenen, zu gedenken.“ (WELT.de)

Gute Gesinnung, laute Parolen: Moral in vermeintlicher Verfallsform, die mit Schuld nicht umgehen kann. Was schlägt der Verfasser als Alternative vor? Nichts.

Gewiss, bloße Gesinnung ohne Taten, Parolen ohne Konsequenzen genügen nicht. Das wäre kein moralisches, sondern ein schein-moralisches Verhalten. Einer Schuld kann man sich ohnehin durch nichts entledigen. Humane Moral kann ihre Schuld nur bekennen und versuchen, für die Folgen der Schuld, so weit es möglich ist, praktisch einzustehen. Oft ist es die größte Hilfe für Opfer, wenn die Täter ihre Schuld eingestehen, dass sie nicht in den Verdacht falscher Vorwürfe geraten.

Warum sind Erinnerungstage wichtig? Weil man überprüfen kann, ob eine Wiederholung des Vergangenen droht. Seelisches, nicht aufgearbeitet, steht unter Wiederholungszwang. Das gilt auch für die kollektive Seele. Wer die Wiederholung des Grauens verhindern will, muss die auftretenden Wiederkehr-Elemente penibel wahrnehmen, um der drohenden Gefahr vorzubeugen.

Diese Selbstprüfung hält Schmid für sinnlos. Wenn aber keine Wiederholung mehr droht, ist die Gefahr der Wiederkehr gebannt. Deutschland wäre überm Berg. Der Auschwitztag wäre nichts als ein düster-sentimentaler Erinnerungstag – ohne aktuellen Erkenntniswert. Wenn alles in Butter ist, wird das Verbrechen von gestern zum Horrormärchen, das niemandem mehr die Frage aufnötigt: Haben wir unsere Vergangenheit tatsächlich schon aufgearbeitet?

Auch Richard Herzinger schrieb über die Holocaust-Gedenkfeier. Er zitiert die moralische Ermahnung Friedländers, aber so, als wäre sie Prosa von einem anderen Stern. Auch eine amerikanische Museumsdirektorin kommt mahnend zu Wort:

„Das Undenkbare ist immer möglich. Und die Einzelnen haben mehr Macht, als sie glauben – zum Guten wie zum Schlechten.“ (WELT.de)

Selbstermächtigung zum Guten oder Schlechten: eben dies ist Moral. Herzinger geht darüber hinweg, als ginge uns das nichts mehr an.

Wenn ihnen feierlich zumute ist, bemühen sich deutsche Politiker um das Grundgesetz, die Grundlage unseres Rechts. Vor einiger Zeit beschworen sie noch die abendländischen Werte, die niemals genauer definiert wurden. Die Eingeweihten wussten es längst. Abendländische Werte sind christliche Werte. Das heidnische Erbe der Griechen wurde längst erschlagen und an der Biegung des Flusses verscharrt.

Warum sprechen sie von Werten? Die Nähe zu ökonomischen Werten ist kein Zufall. Moral ist ein verschlissener Hut, Werte aber sind Kostbarkeiten aus dem Tresor, die nur an Feiertagen das Licht erblicken dürfen.

An christliche Werte glaubt man, realisieren kann man sie nicht. Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) ist eine fromme Katholikin und will christliche Elemente im öffentlichen Leben retten. So das Kreuz der CSU in staatlichen Räumen:

„Als Retterin des christlichen Abendlandes inszenierte sich Kramp-Karrenbauer auch, indem sie sich gegen eine Entscheidung des Saarbrücker Amtsgerichts wandte, Kreuze aus den Sitzungssälen entfernen zu lassen: „Das Kreuz verdeutlicht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist“, so Kramp-Karrenbauer laut Saarländischem Rundfunk. Die NS-Justiz habe gezeigt, was es bedeute, wenn sich der Mensch zum absoluten Richter mache. „Deswegen hat es für mich keinen Sinn, das Kreuz generell aus Gerichtssälen zu verbannen“.“ (hdp.de)

Wenn der Mensch, nicht das Maß aller Dinge, aber auch nicht das Maß seiner Dinge sein soll, bleibt nur die Böckenförde-Doktrin, das göttliche Maß. Wenn Gott regiert und nicht der Mensch, haben wir keine Demokratie mehr, sondern eine Theokratie. Wenn heilige Schriften das säkulare Gesetzbuch dominieren, herrschen Scharia, Talmud und das Neue Testament.

Wer mit Hilfe eines Gesetzbuches richtet, ist kein absoluter Richter, sondern sorgsamer Hermeneut eines demokratischen Rechts.

Das Recht der Nationalsozialisten war in sich absolutistisch, sodass jeder Richter absolutistisch sein musste, wenn er sich sorgsam an den Buchstaben der Unmenschen hielt.

AKK will christliche Politik, was aber nicht bedeutet, dass sie die Bergpredigt als wortwörtliche Vorlage ihres Tuns betrachtet. Christliche Normen seien unerreichbar, also sollte man erst gar nicht versuchen, sie in Realität umzusetzen. Gott wird die innere Gesinnung kennen und sich damit zufrieden geben.

Die Saarländerin ist katholisch, aber auch für sie gilt Luthers Erlaubnis zum fröhlichen Sündigen: pecca fortiter, sed fide, sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Die höchsten abendländischen Werte sind unerreichbar, also sollte man sich mit dem handelsüblichen Schlampampen begnügen. Nur ja keine Utopien und Selbstvervollkommnungs-Eitelkeiten. Das wäre Aufstand gegen den Himmel. Aber möglichst viel Kontrolle im Namen des Höchsten, das muss sein.

All dies darf nicht laut verkündet werden, damit nicht noch mehr Menschen den Kirchen davonlaufen oder die Integrität der C-Parteien allzu großen Schaden nehme.

Kommen wir zur entscheidenden Frage: Sind staatliche Gesetze Früchte der Moral?

Spricht nicht jeder Richter ein moralisches Urteil, wenn er im Namen des Volkes das Gesetz sprechen lässt? Sollte man nicht annehmen, Gesetze der Demokratie müssten den moralischen Vorstellungen des Volkes entsprechen? Bei Streitigkeiten sollten die Vorstellungen der Mehrheit obsiegen und die staatlichen Gesetze bestimmen? Denkste.

„Recht und Moral müssen sich nicht entsprechen. Theoretisch, gedanklich und systematisch sind beide Bereiche zu trennen: das ist das Anliegen der reinen Rechtslehren. Bei einer Verbindung von Recht und Moral besteht die Gefahr, Moralvorstellungen, die nicht alle teilen, zu verallgemeinern und zu verabsolutieren, die eigenen moralischen Überzeugungen zum Maßstab zu erheben, indem unerwünschte Rechtsnormen diskreditiert und erwünschte Rechtsnormen moralisch legitimiert werden.“ (Brockhaus, Fachlexikon Recht)

In Demokratien setzen sich wechselnde Mehrheiten durch. Mehrheitsentscheidungen sind nicht totalitär, denn jede Minderheit darf hoffen, bei der nächsten Wahl die Oberhand zu gewinnen. Absurder kann nicht mehr argumentiert werden.

Das positive Recht entzieht sich der Rechtfertigung durch das Volk, gleichzeitig warnt es vor Mehrheitsentscheidungen mit dem Argument, sie seien undemokratisch.

Der Rechtspositivismus lehnt es ab, sich dem Naturrecht – dem Recht der geltenden Vernunft – unterzuordnen.

„Kennzeichen des Rechtspositivismus ist die strikte Trennung von Recht und Moral. Es gehe um die strikte Unterscheidung von Sein und Sollen, polemisierte Hans Kelsen gegen Eugen Ehrlich, der sich gegen die angemaßte Autonomie des Rechts ausgesprochen hatte (sie seien blutleere Abstraktionen). Die Reine Rechtslehre ist monistisch. Sie lehnt es ab, sich von soziologischen, ethischen und politischen Erwägungen beeinflussen zu lassen. Sie beantwortet die Frage, wie das Recht ist, nicht, wie es sein sollte.“ (ebenda)

Glaubt man das? Rechtspositivisten, von denen es noch viele gibt, nehmen das Recht, wie es nun mal vorhanden ist, als ob es ein göttlich-unveränderbares sei. Auch weiß niemand, woher es gekommen ist. Sie schirmen sich ab von Gesellschaft und allen Wissenschaften und behandeln das Recht, als sei es vom Himmel gefallen. Und sie, die Rechtsgelehrten, seien die unfehlbaren Exegeten dieses Rechts.

Das klingt nach numinoser Offenbarung. Hier gebärdet sich eine Rechtskaste wie eine Priesterkaste. Ob das Recht den Moralvorstellungen des Volkes entspreche? Darüber können sie nur die Augenbrauen hochziehen.

Nehmen wir den aktuellen Fall einer Verurteilung zweier Studentinnen, die weggeworfene Lebensmittel eines Supermarkts retten wollten, um sie Notleidenden zugute kommen zu lassen:

„Berge von Nahrungsmitteln werden in Deutschland weggeworfen. Wer sie aus dem Müllcontainer holt, macht sich strafbar. Andere Länder sind schon viel weiter.“ (Sueddeutsche.de)

Der Richter muss sich an den Buchstaben des Gesetzes halten, auch wenn er das Ganze für amoralisch hält. Warum werden solche Gesetze, die den moralischen Vorstellungen der Mehrheit mit Sicherheit nicht entsprechen, nicht geändert? Ist das Rechtssystem ein Ableger der unfehlbaren Theologie?

Das Recht hat sich vor den Meinungen des Volkes abgeschirmt. In einem Kernbereich der Demokratie hat das Volk nichts zu sagen. Rechtlich gesehen, ist es entmündigt. Das gesamte Rechtssystem ist ein Affront gegen die Moral der Menschen, deren Rechtsvorstellungen weder Politiker noch Juristen interessiert.

Wie aber lassen sich die Defekte einer Gesellschaft verbessern, wenn Moral keine Rolle spielen darf? Eben jetzt sind wir in einer Weltminute angekommen, in der das Überleben der Gattung gefährdet ist. Gerade jetzt müsste an die moralische Kompetenz aller Menschen appelliert werden, um die Gefahren wirksam zu bekämpfen.

Was geschieht? Die junge Greta Thunberg, Anstifterin zum moralischen Aufstand gegen die suizidale Degenerierung der Erwachsenen, wird von Verächtern der Moral als gegängelte Marionette attackiert. Henryk M. Broder gehört zu den Leugnern des menschengemachten Klimawandels. Den Versuch, diesen zu stoppen, hält er für widersinnig.

„Ich bin für eine Verschärfung des Tatbestands „Kindesmissbrauch“, um auch solche Fälle verfolgen zu können wie den der bereits erwähnten Greta aus Schweden, die von den Klimarettern zur Ikone ihrer Bewegung erkoren wurde.“ (WELT.de)

Es klingt schon nach biblizistischem Creationismus, wenn Broder die unendlichen Beweise einer selbstfabrizierten Klimaverschärfung aus der Höhe eines Unfehlbaren verwirft. Noch papistischer klingt es, wenn er eine junge Frau, die sich mit dem Kurs der Erwachsenen nicht zufrieden geben will, als Missbrauchte diffamiert.

Auch im Dritten Reich wollten die Deutschen die Judenverfolgung lange nicht zur Kenntnis nehmen. Hätte Broder, wenn er damals gelebt hätte, die jungen Mitglieder der Weißen Rose nicht auch als Erziehungs-Opfer moralistischer Gutmenschen schmähen müssen?

Deutsche Meinungseliten fürchten sich nicht vor dem Untergang der Menschheit. Sie fürchten sich vor den Gefahren der Moral. Für sie scheint es nicht Schlimmeres zu geben, als eine moralisch gefestigte Nation zu werden, in der universelle Menschenrechte gelten.

 

Fortsetzung folgt.