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wenn sie wüssten, dass morgen die Welt unterginge, würden sie heute noch ein Startup-Unternehmen gründen: noch höhere Geschwindigkeit, noch schneller das Finale.

Die Gesellschaft, ein gigantischer Zug, mit unendlich vielen Passagieren, die sich in immer engeren Verhältnissen drängeln, fährt mit rasendem Tempo jener Stelle entgegen, an der er ins Nichts kippen wird. Seit Jahrzehnten gellen die Sirenen. Niemand hört sie, weil man sich an ihren Lärm gewöhnt hat.

Gegen Alarm sind die Zuginsassen taub geworden. „Lasst sie schreien, die Kassandras“, beschwichtigen die Führer des Zuges, „wir fahren unbeirrt der Zukunft entgegen“ – die sie nicht mehr erleben werden, wenn die Schreier nicht irren.

Woran leidet die Welt? An Geschichte. Diese Krankheit hat der Westen der ganzen Welt vermacht. Geschichte ist nicht die Summe der Taten aller Menschen, sondern ein selbständiger, unbeeinflussbarer Prozess, der den Erdbewohnern Ursprung und Ziel ihrer irdischen Reise diktiert.

Die Völker sitzen alle in einem Zug. Dennoch glauben sie, sie könnten sich gegenseitig überholen und als Sieger im Ziel einlaufen – auf Kosten ihrer Mitreisenden, die als Loser enden werden.

Geschichte ist nicht Teil der Evolution, einer internen Bewegung der Natur, sondern eine Reise durch die Zeit, die in vorgeschriebenen Etappen eine erwählte Minderheit ins Heil und die riesige Mehrheit der Menschen ins Unheil führen wird. Sie sprechen von Heilsgeschichte, obgleich die meisten Menschen im Unheil enden werden.

Da Geschichte den einen Heil, den anderen Unheil bringt, muss sie als Selektionsprozess betrachtet werden. Heilszeit ist einmalig und linear. Eine Wiederholung zur Korrektur des individuellen Schicksals – wie in anderen

  Religionen – ist in der christlichen Heilsgeschichte ausgeschlossen.

Eine Geschichte, eine Chance, ein Schicksal.

Bei Calvin nicht mal eine Chance. Der Herr der Geschichte bestimmt vor Erschaffung der Welt unwiderruflich das Schicksal jedes Einzelnen. Im neucalvinistischen Gods own country allerdings sind die Amerikaner überzeugt, ihr Schicksal in eigenen Händen zu halten. Göttliche Fremdbestimmung verwandelten sie in politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung – die dennoch nicht dazu führte, am verheißenen Heil des Volkes zu zweifeln.

Der amerikanische Traum besteht aus zwei unverträglichen Elementen: der Einzelne ist Herr seines Schicksals, das ganze Land hingegen wird geführt von Gottes Willen. An der nationalen Devise: America first kann es keinen Zweifel geben. Da können die Propheten noch so dramatisch und unheilsschwanger in den Schofar blasen: die Erwählten wissen sich geborgen in Gottes Hand.

Wie anders also sollte Amerika auf die Klimakatastrophe reagieren als mit der überlegenen Glaubensgewissheit von Erwählten? Wissen sie doch längst durch ihre Bibellektüre, dass die sündige Welt zum Untergang verurteilt wird. Sind sie die wahren Lieblinge Gottes, so werden sie es bleiben. Wären sie es nicht, hülfe ohnehin nichts gegen ihr finales Verderben.

In schlimmen Zeiten, wenn sie an ihrer Erwählung irre wurden, schrien die Kinder Israels zu ihrem Gott. Nicht jedes Schreien wurde erhört. Nicht selten, dass der Herr der Geschichte sich verzog, um sein störrisches Volk zu bestrafen. Erst am Ende wird alles gut werden – wenn man unbeirrbar glaubt:

„Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue? Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott. Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott! denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“

Selbst der Sohn wurde an seinem Vater irre:

„Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Das sind die größten Anfechtungen, die trübsten Stunden im Leben der Frommen. Sie schreien gen Himmel und fühlen sich von ihrem Schöpfer und Erretter verlassen. Seitdem der Erlöser seinen ersten JüngerInnen versprach, noch zu ihren Lebzeiten zurückzukehren, bis zum heutigen Tag sein Versprechen aber nicht einhielt, haben seine Schäfchen diese unfassbare Fehlleistung durch zweierlei Strategien zu kompensieren versucht:

Durch Verschieben, Verschieben, Verschieben – weswegen Prokrastination zur Charakterdeformation der Modernen gehört – und durch Selbermachen, Selbermachen, Selbermachen, welches zum ambivalenten Fortschritt führte. Do it yourself, ist die Heilsformel einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Die Herstellung des zweiten Gartens Eden muss immer hektischer werden, um die unterirdische Verzweiflung durch Atemlosigkeit mundtot zu machen. Scheinzuversicht und untergründige Zweifel an ihrem Gott: das sind die beiden Gesichter des eschatologischen Fortschritts.

Gott hat sein auserwähltes Volk oft genug schreien lassen, um es durch Strafe zu erziehen. Jede Bindung der Kinder zu ihrem Vater schien in diesen echolosen Zeiten verloren. Auch der Sohn verhielt sich nicht selten merkwürdig beziehungslos und abweisend zu seinen SchülerInnen:

Maria von Magdala war die erste unter den JüngerInnen, die sich um den Gekreuzigten kümmerten. Doch was sie mit Ihm erlebte, zeugte nicht von tiefer Bindung des Erlösers an seine Getreuen. Barsch fährt er sie an: noli me tangere, rühr mich nicht an.

„Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen. Als sie nun weinte, guckte sie ins Grab und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu den Häupten und eine zu den Füßen, da sie den Leichnam hin gelegt hatten. Und diese sprachen zu ihr: Weib, was weinest du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hin gelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus stehen und weiß nicht, daß es Jesus ist. Spricht er zu ihr: Weib, was weinest du? Wen suchest du? Sie meint es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hin gelegt, so will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm: Rabbuni (das heißt: Meister)! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.“

In entscheidenden Momenten liebt es der Herr, der unerkennbare, verborgene Gott zu sein. Selbst vor seinen Frömmsten. Als Maria ihn schließlich erkennen darf, ihn herzen und küssen will, herrscht er sie an: Abstand! Lass mich in Ruhe. Die Begründung klingt modern. Solange ER seine irdisch-himmlische Karriere nicht vollendet hat, bleibt ER auf Distanz.

Das ist die Rolle der Väter bis heute: weg von der Familie, Abstand von Frau und Kindern durch Flucht in Arbeit und Karriere. Emotionale Bindung und Erfolg in der Welt passen nie und nimmer zusammen. Das trifft auch für die Dynastien der Mächtigen und Reichen zu. Zumeist halten sie zusammen wie Pech und Schwefel, aber nicht durch emotionale Liebe und Treue, sondern durch die Betäubungsmittel Macht und Mammon.

Bindungslosigkeit, soziale Atomisierung, ist ein expandierendes Kennzeichen der Moderne. Die emotionale Ursippe, immer noch die Quelle der Geborgenheit, zugleich die schärfste Gegnerin des Kapitalismus, ist etwas, was überwunden werden muss. Nicht mehr lange und der Kapitalismus wird seinen größten Triumph feiern: das Ende der familiären Bindung.

Immer weniger Männer wollen sich durch eine stabile Beziehung binden lassen. Um der finanziellen Abhängigkeit vom Mann zu entgehen, werden Frauen gezwungen, die emotionale Erziehungsarbeit an ihren Kindern auf Fastnichts zu reduzieren und sich unter das Joch der Männerwirtschaft zu beugen. Die asozialste und kälteste Weise des menschlichen Umgangs müssen sie als Gipfelpunkt ihres Lebens empfinden. Als ob das Leben mit Kindern ein Eremitenleben sein müsste, ohne politische und soziale Entfaltungsmöglichkeiten. Dabei ist es umgekehrt: kapitalistische Arbeit verhindert demokratische Betätigung und soziale Kompetenz.

Die vollständige Zerschlagung der Familie steht der progressiven Moderne noch bevor. Kinder werden dann im Labor gezeugt, in gesichtslosen Säuglingsheimen, Kitas und Schulen zu Wirtschaftsmarionetten getrimmt. Der Höhepunkt aber wird kommen, wenn biologische Mängelwesen nicht mehr benötigt werden, weil Maschinen die Menschen ersetzen. Maschinen kennen keine Beziehungs- oder Bindungsprobleme.

Das 1000-jährige Reich war eine Vorwegnahme der machtbegierigen Bindungslosigkeit der Männer. Frauen gebaren ihre Kinder für den Führer. Durch kalte Erziehung sollten die Kinder den Eltern entfremdet und so früh wie möglich dem Führer zugeführt werden. Johanna Haarer war die einflussreichste pädagogische Schriftstellerin im Dienste ihres Führers, deren Bücher noch lange in der Nachkriegszeit gelesen und befolgt wurden:

»Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen«, riet damals Johanna Haarer. Sie schilderte detailreich körperliche Aspekte, ignorierte aber alles Psychische – und warnte geradezu vor »äffischer« Zuneigung: »Die Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten, etwa gar von Dritten, kann verderblich sein und muss auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit in diesen Dingen ist der deutschen Mutter und dem deutschen Kinde sicherlich angemessen.« Gleich nach der Geburt sei es empfehlenswert, das Kind für 24 Stunden zu isolieren; statt in einer »läppisch-verballhornten Kindersprache« solle die Mutter ausschließlich in »vernünftigem Deutsch« mit ihm sprechen, und wenn es schreie, solle man es schreien lassen. Das kräftige die Lungen und härte ab.“ (Spektrum.de)

Hört ihr die Kinder schreien? Lasst sie schreien. Was den Indianer nicht tötet, macht ihn nur härter. Gelobt sei, was hart macht. Das Härteste war die gewollte, familiäre Bindungslosigkeit der Kinder. Dem weit entfernten Führergott sollten sie Treue schwören, indem sie sich alle Gefühle zur Familie aus dem Herzen rissen.

Gegenwärtig werden wieder Therapien entwickelt, schreiende Kinder solange schreien zu lassen, bis sie sich die Seele aus dem Leib geschrien haben. Wenn ihnen das Schreien vergangen ist, gelten sie als geheilt.

Schreiende Kinder scheinen ein deutsches Problem zu sein, steht in einem WELT-Artikel aus dem Jahre 2007. 12 Jahre später sind diese Erkenntnisse bereits wieder vom Tisch:

„Primitivere“ Völker besitzen in dieser Hinsicht eine „größere Weisheit“, meint Karp. Die Mütter verstehen es besser, ihre Babys zu beruhigen, sie halten engen Körperkontakt und stillen mehr. „In Südamerika oder Asien gibt es kaum Schreibabys“. Auch bezeichnet er die Sorge, ein Baby „verwöhnen“ zu können, als „typisch deutsch“: „Verwöhnung entsteht, wenn Kinder auf Signale die falsche Antwort bekommen. Statt bei ängstlichem Weinen mit Körperkontakt beruhigt zu werden, erhalten sie Spielsachen und Essen.“ Schreien sei nun mal ein Überlebenssignal. Für welche Not des Babys müssen die Eltern herausfinden. Das Lesenkönnen der Signale ist entscheidend.“ (WELT.de)l

Heute werden Schreikinder mit NS-Haarer-Methoden an die Darwin‘sche Wirklichkeit angepasst. Individuelle Anamnesen unterbleiben. Man folgt den Drillmethoden der Verhaltenstherapie, die denen der Nationalsozialisten verblüffend ähnlich sind:

„KritikerInnen fühlen sich beim Anblick weinender Mädchen und Jungen, die in hohen Gitterbetten in dunkle Zimmer geschoben werden, an Nazimethoden erinnert und rufen dazu auf, den Film zu verbieten.“ (ZEIT.de)

Der Kinderarzt Renz-Polster hat die entscheidenden Fragen gestellt, um den neuesten Einbruch des uralten Ungeistes der Deutschen sichtbar zu machen:

„Was mich an diesem Film vor allem wundert, ist die Schamlosigkeit, mit der erzieherische Gewalt dargestellt, glorifiziert und auch medikalisiert wird. Man darf einer Mutter erklären, ihr Kleinkind verhalte sich nicht normal – nur weil es sich vom Arzt nicht untersuchen lässt? Man darf Kinder zum Essen zwingen, nur weil man einen Kittel anhat? Man darf sie in Gitterbetten in dunkle Räume stellen? Und man darf das in einem Kinofilm als die richtige Erziehung von Kindern darstellen? Heute, wo wir Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung zusprechen? Müsste nicht gerade das Fachpersonal das Kindeswohl thematisieren? Gerade in einem KINOfilm? Vielleicht noch grausamer ist das mit anzusehen: wie nüchtern und hart über die schwer verunsicherten, teilweise auch traumatisierten Kinder geurteilt wird. Vor allem aber wundert mich die Reaktion der großen Medien. Der Bayerischen Rundfunk  gibt kund, dass der Film zeige, „wie ganzheitliches Verhaltenstraining mit Psychotherapie und Erziehungscoaching funktionieren kann“. Das sei ein „kraftvoller Blick auf die Suche nach einer guten Erziehung“. Wie bitte?“ (Kinder-verstehen.de)

Erneut ein Exempel zur Anfälligkeit der Medien für elegante Zeitgeisthörigkeit. Etwas muss nur im Gewande einer internationalen Reputation daherkommen und schon sind die ewig Rückständigen auf gleicher Augenhöhe mit dem Weltgeist. Da sie ihre Vergangenheit mit Eins plus bewältigt haben, kommen sie unmöglich auf den Verdacht, Gespenster des Unheils könnten wieder hochgekommen sein.

Was ist deutsche Verwöhnung? Die Versuchung, Kinder an Glück und Geborgenheit zu gewöhnen. Schlimmeres kann es in Deutschland nicht geben als das Glück, ein fröhlicher Mensch unter Menschen zu sein. Die Heranwachsenden sollen sich so früh wie möglich lösen. Lösen von allen wichtigen Gefühlsbeziehungen. Die Sicherheit der Nähe soll fluchtartig verlassen, der Mensch so früh wie möglich an die Kälte des Kapitalismus gewöhnt werden.

Lösen, lösen. Jede stabile Beziehung wird Bindung genannt. Ein Gebundener ist ein Gefesselter. Binden und Lösen sind Privilegien der Priester:

„Auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelsreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.“

Binden und Lösen sind übernatürliche Machtbefugnisse. Was Priester auf Erden gebunden oder gelöst haben, soll auch im Himmel gelten.

“Freiheit in Bindung“ war ein Hauptmotto der frühen CDU. Die neue demokratische Freiheit? Wenn‘s sein muss. Aber nicht ohne Bindung an die Fesseln kirchlicher Gebote. Die Böckenförde-Doktrin wurde zum Glaubensbekenntnis einer säkularen Demokratie. Freiheit war etwas Suspektes, das man nicht frühzeitig genug unterhöhlen konnte, damit es nicht zum Chaos entarte.

Freiheit der Neoliberalen ist tatsächlich die chaotische Lizenz zu allem. Weswegen die Gegner grüner Politik überall totalitäre Maßnahmen wittern, wenn sie mit dem Wandel ihres Lebensstils das Überleben der Gattung sichern könnten.

Wäre freiwillige Änderung nicht besser? Auf jeden Fall. Doch wenn Einsichten ausbleiben und irreversible Gefahren drohen?

Gesetze sind das Gegenteil totalitärer Zwangsmaßnahmen. Warum gibt es Ampeln und Straßenverkehrsordnungen? Als Erinnerungen an die Hitlerzeit? Für solche Dummheiten gilt der Satz: „Die Zeit der Distinktionen ist vorbei.“  

Wahre Freiheit hingegen ist Mut zur autonomen Selbstbestimmung. Trägt meine Freiheit zur Unfreiheit meines Nachbarn bei: kann das humane Freiheit sein? Wie können Superreiche ihr Geldscheffeln als Freiheit empfinden, wenn es nur dazu beiträgt, die Schwachen an den Rand des Elends und würdeloser Bedeutungslosigkeit zu bringen?

Was ist der Kitt der Gesellschaft? Was verbindet den Einzelnen mit den Vielen, das Individuum mit der Gesellschaft?

Nach Meinung der Ewiggestrigen ist es menschliche Nähe und Wärme. Nach Meinung der Futuristen ist es der Eigennutz.

Hier stock ich schon, wer hilft mir weiter fort? Welcher Eigennutz? Der böse Egoismus, der in die Hölle – oder auf die Liste der Reichsten der Welt führt? Oder der rationale Eigennutz, der zugleich den Nutzen des Anderen will? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ist nichts als rationaler Eigennutz. Liebe den anderen, wie du dich selbst liebst. Völker sprechen von der Goldenen Regel.

Selbst wenn der Herr die Goldene Regel übertreffen und die Seinen zur Vollkommenheit verpflichten wollte, bliebe die „Vollkommenheit“ nur ein Mittel zum Zweck – der Seligkeitsgewinnung.

Nebenbei: wie können Christen sich selber lieben, wenn sie sich hassen müssen? „Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.“

Selbsthass ist die conditio sine qua non der ewigen Seligkeit.

Adam Smith schwankt in seinen Werken endlos zwischen ethischen Gefühlen und berechnendem Eigennutz. Auf der einen Seite: „Menschliche Glückseligkeit entsteht in erster Linie aus dem Bewusstsein, geliebt zu werden.“ Auf der anderen:

„Das entscheidende Motiv für die Bildung von nationalem Wohlstand ist das Streben des Einzelnen nach Verbesserung seiner ökonomische Lage und seines sozialen Rangs. Es handelt sich dabei um einen geläuterten, einen aufgeklärten und einen sozialen und rechtlichen Regeln unterworfenen Egoismus.“ (Vorwort zum Wohlstand der Nationen)

Adam Smith wollte sich von heuchelnden Moralpredigten des Klerus verabschieden. In den Anfängen des Kapitalismus waren seine humanen Vorstellungen vom Gesamtnutzen der Nation noch verständlich. Sein zweites Werk heißt nicht umsonst: Wohlstand der Nationen.

Würde er heute die verheerenden Folgen des Freihandels erleben, könnte er an der Identität von Eigen- und Fremdennutzen unmöglich festhalten. Erstens stimmt es nicht, dass der globale Kapitalismus viele Völker aus der Armut befreit hat. Zweitens ist die „neue Armut“ verheerender als das karge Leben am Busen der Natur, mit dem die Völker endlose Zeiten überlebten. Heute sind sie Fußabstreifer eines Systems geworden, das sie mit Verachtung straft.

Globaler Handel wurde nicht nur zum Weltklimakiller, sondern auch zum Mittel der Reichen, sich überall auf der Welt die Sahnestückchen der Völker zu sichern. Protektionismus gilt als verachtet, obgleich die Schwachen vor der Gier der Starken effizient geschützt werden müssten.

Warum schreit die Menschheit nicht auf? Angesichts der Gefahren, die über sie kommen? Weil sie nicht mehr schreien kann. Sie wurde derart an die unsteuerbare Geschichte gewöhnt, dass sie es sich abgewöhnt hat, das Maul aufzureißen.

Wenn eine jenseits gesteuerte Geschichte das Schicksal der Menschen mit eiserner Faust regiert, gibt es nur zwei Optionen: man stürzt sich ins Messer, um den Folgen der Manipulation zu entgehen – oder man unterwirft sich in apathischer Stummheit.

Die Modernen haben sich für die zweite Option entschieden. Um die eigene Stummheit nicht wahrzunehmen, flüchten sie in endloses Geschwätz über eine gloriose Zukunft. In jedem neuen Film schwatzen die Schauspieler in noch höherem Tempo. Nachdenkliche Pausen und allmähliches Verfertigen der Gedanken, bei dem man sich selbstkritisch zuhören kann? Vergiss es.

(Martin Walser wollte das allmähliche Verfertigen der Gedanken in der Mimik der Kanzlerin gelesen haben. Gedanken? Merkel spricht ein garantiert gedankenfreies Pidgin-Deutsch.)

Die Ablösung des Menschen vom Menschen nähert sich seinem Höhepunkt. Familien werden zerstört, Nachbarschaften anonymisiert, Gesellschaften mechanisiert, Politik maschinisiert. Kinder, kaum geboren, werden aus ihrer Nestwärme entfernt, in Kitas und Schulen outgesourct. Was sie selbst wollen, spielt keine Rolle. Deutschland hat die rigideste Schulpflicht. Homeschooling wie bei den europäischen Nachbarn gilt als Erfindung des Teufels.

„In Deutschland gilt seit genau hundert Jahren die Schulpflicht. Das bedeutet, jedes Kind zwischen 6 und 15 Jahren muss eine Schule besuchen, entweder eine öffentliche oder eine staatlich genehmigte private Ersatzschule. Eine generelle Befreiung von der Schulpflicht aus pädagogischen oder religiösen Gründen ist nicht zulässig.“ (ZEIT.de)

Sinn der Zwangsschulen soll das Lernen sozialer Kompetenz sein. Als ob in Schulen demokratische Solidarität gelernt werden kann. Als ob das Leben in Familien ein Eremitenleben sein müsste.

„Diese Kinder sind ja nur aus der Schule, aber nicht aus der Welt. Soziale Kompetenzen können sehr wohl auch außerhalb eines Schulgebäudes erlernt werden, zum Beispiel in Sportvereinen und Orchestern oder bei den Pfadfindern.“

Kitt der Familien ist Geborgenheit. „Kitt“ der Gesellschaft ist gnadenloser Wettbewerb. Dieser Kitt verbindet nicht, sondern zerschneidet und verätzt. Wenn soziale Fähigkeit empathische Solidarität bedeutet, ist die Nötigung in die Konkurrenzgesellschaft eine frühe Abrichtung zu kaltblütigem Hauen und Stechen. Wieder einmal zeigt sich, dass die Deutschen das defekte Menschenbild der christlichen Religion in „Staatsraison“ verwandelt haben.

Schrei, wenn du kannst. Warum schreit die Menschheit nicht? Weil der Einzelne nicht lernte, seinen Mitmenschen zu vertrauen. Wem sollte er zurufen? Von wem sollte er etwas erwarten? Von der Geschichte lässt sich der Mensch stumm und devot treiben, weil er aus allen verlässlichen Bindungen herausgeschnitten wurde. Losgelöst von allen hilfreichen Beziehungen wurde er grenzenlos mobil und flexibel – also verantwortungslos.

Auch von der Natur, die er vernichtet, hat er sich längst zu lösen begonnen. Nun steht ihm nur noch ein Schrittchen bevor: die totale Lösung von der Erde durch Abwanderung ins Weltall. Wissenschaftler, so heißt es, haben bereits riesige Weltraumschiffe erdacht, mit denen Millionen ins Universum emigrieren können.

Die Taktik der verbrannten Erde – oder das Abstoßen von der Erde, dem Ekelobjekt aller Erlöser, ist der Höhepunkt in der Religion der Geschichte:

“Habet nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist: des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.“

NB. Letzte Meldung: auch in Deutschland beginnen die Jungen gegen die Zerstörung ihrer Zukunft zu rebellieren. Eltern, Lehrer und Professoren schweigen.

 

Fortsetzung folgt.