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Sofort, Hier und Jetzt LXIII

Sofort, Hier und Jetzt LXIII,

den homo sapiens retten? Durch Verbesserung der Menschheit? Für solche Visionen wird man in Deutschland gekreuzigt oder muss sich selbst ans Kreuz nageln. So geschehen im Jahre des Herrn 2019.

Robert Habeck heißt er, der den Erlöser spielen wollte. Als seine blasphemische Hybris ihm endlich zu Bewusstsein kam – fast wäre es für tätige Reue zu spät gewesen – wurde er ganz bleich. Zerknirscht trat er vor das Volk und sagte: Vergebt mir, ihr unbeugsamen Deutschen, ich habe gegen euren tapferen blinden Todeswillen verstoßen.

Verzeiht meinen Hochmut, dass ich euch abbringen wollte von eurem Kurs ins Verderben. Vergebt meine aufrüttelnden Worte und meine Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Ich werde es nie wieder tun.

Fresst Fleisch, bis die Methanwolken den Horizont verdüstern, produziert endlos Gerümpel, das kein Mensch benötigt, verbraucht Energie, bis ihr auf dem letzten Loch pfeift, vermüllt eure Meere, bis alle Fische ersticken, vergiftet eure Ackerkrume, bis kein Grashalm mehr wächst.

Wasser, Luft, Boden, Pflanzen, Tiere: alles soll zugrunde gehen, bis ihr in der Lage seid, Alles ein zweites und besseres Mal aus Nichts zu erschaffen. Alles steht bedingungslos zu eurer Verfügung. Das Alte, es hat lange genug existiert auf Erden und eure Genialität behindert. Räumt es weg, eliminiert es, erschafft alles von

  vorne. Ihr seid die Herren der Welt.

Verzeiht, dass ich glaubte, es besser zu wissen – um eure Lebenschancen zu erhalten.

Vergebt mir, dass ich euch für Irrende hielt, die nicht wüssten, wohin sie wollten.

In Wirklichkeit wisst ihr alles besser – und ich bin ein jämmerlicher Ignorant, der es nicht verdient, politische Vorschläge zu machen. Erst jetzt kapiere ich, dass die anderen Parteien Vorschläge machen, die gar keine sind. Denn sie wollen alles beim Alten belassen – nur schneller, höher, weiter, profitabler und automatischer.

Ihr schafft eine neue Welt und ich, ich elender Tropf, wollte euch daran hindern. Ja, ich bekenne, ich war ein Feind der Zukunft, ein Kleingläubiger, der die Creation einer neuen Welt für absurd hielt, ein primitiver Maschinenstürmer, der die digitalen Geschöpfe des Menschen für Rohrkrepierer hielt.

Ihr wolltet das Neue, und ich war ein rückwärts gewandter Lakaie des Alten. Ich verstand nicht, dass man erst alles rausreißen muss, um das Neue einzupflanzen. Ja, ich war Old School und ihr seid auf dem besten Weg in die Goldene Stadt der Zukunft.

Ich wusste es nicht, aber ihr habt es schon immer gewusst. Wie macht man etwas besser? Indem man es nicht besser macht, sondern vor die Hunde gehen lässt, wie es selber will.

Wie kann man überleben? Indem man dem Tod entgegen eilt.

Wie kann man am besten leben? Indem man den Untergang der Menschheit unbeirrt beschleunigt.

Ich war ein naiver Anhänger der kindlichen Logik: wer Gutes will, muss das Gute wissen und das Gute tun.

Bei euch habe ich gelernt: wer Gutes will, darf sich nicht einbilden, es wissen zu wollen und dem Volk zur Entscheidung vorzulegen. Mir war nicht klar, dass ihr alles tausendmal besser wisst als Besserwisser wie ich. Dabei macht ihr gar kein Aufsehen, bleibt bescheiden und demütig wie euer Führungspersonal.

Demokratische Konkurrenz habe ich völlig falsch verstanden. Ich glaubte, jeder soll vors Volk treten, wenn er glaubt, einen guten, ja besseren Vorschlag zu machen, damit ihr euch alles anhören und entscheiden könnt.

In Wirklichkeit gibt es keine demokratische Konkurrenz um Wahrheit. Denn die Wahrheit habt ihr vorsichtshalber aus dem Weg geräumt. Es gibt nur Wettbewerb um Geld, Maschinen, Tand und Macht. In allen Disziplinen, von Schönheit bis zum Marathonlauf, sucht ihr den Besten. Nur nicht beim wichtigsten Thema: Wie entkommen wir dem Verderben?

Was ich – unter Tränen muss ich es gestehen – überhaupt nicht verstand, war euer unverrückbarer Glaube an das Bessere.

Doch an das Bessere? Ja, aber nicht an das Bessere durch moralischen und erkenntnismäßigen Fortschritt – sondern durch superschlaue Maschinen. Durch eure Kopfgeburten, die ihr unter Schmerzen geboren und in der Welt verbreitet habt. Nicht der Mensch kann sich verändern – das habt ihr in eurer menschenhassenden Religion gelernt –, nur seine eigenen Geschöpfe können ihn retten. Die stählernen Geschöpfe seines Kopfes, die alles berechnenden Kreaturen seiner Genialität.

Was ich erst allmählich kapiere: man muss an das Gegenteil dessen glauben, was man will. Will man überleben? Muss man sterben. Will man die Welt verbessern? Muss man sie krepieren lassen. Will man eine lebenswerte Zukunft? Muss man sie in Stücke hauen.

Verglichen mit dieser Logik der furcht- und fruchtbaren Widersprüche ist meine Logik simpel und kindisch.

Vielleicht das Allerschlimmste: ich bin fremdgegangen und habe euch betrogen. Ich glaubte nämlich nicht an eure überlegene Kultur, die allen Kulturen der Erde weltweit überlegen sei. Ich glaubte an die Überlegenheit – der primitivsten Kulturen des Planeten. Ich glaubte an die wilden Eingeborenen, die seit undenklichen Zeiten in unveränderter Freundschaft mit der Natur leben gelernt haben. Ich glaubte an die nachhaltige Lebensweise der Wilden, die ihr als edle Wilde verspottet, dezimiert und ausgerottet habt. Vollkommen zu recht. Wer sich anmaßt, besser zu sein als unsere Kultur, der muss bedingungslos das Feld räumen. Eine größere Versündigung an unserer abendländischen Gottähnlichkeit kann es nicht geben.

Hört, mit welcher Unverschämtheit ein Vertreter der Wilden sich über unsere segensreiche Kultur stellt:

Euer Gott liebt euer Volk und haßt meins; er legt seine starken Arme liebend um den Weißen Mann und führt ihn, wie ein Vater seinen kleinen Sohn führt. Aber er hat seinen Roten Kinder im Stich gelassen; er läßt euer Volk jeden Tag stärker werden und bald werden sie sich über das ganze Land ausgebreitet haben, während unser Volk dahinschwindet wie die schnell zurückweichende Ebbe, die niemals wieder zurückströmen wird. Der Gott des Weißen Mannes kann seine Roten Kinder nicht lieben, sonst würde er sie beschützen. Sie scheinen Waisen zu sein, die nirgends Hilfe finden. Wie können wir da Brüder werden? Wie kann euer Vater unser Vater werden, uns Wohlergehen bringen und in uns Träume einer wiederkehrenden Größe erwecken.

Euer Gott scheint parteiisch zu sein. Er kam zum Weißen Mann. Wir sahen ihn nie, hörten noch nicht einmal seine Stimme. Er gab dem Weißen Mann Gesetze, aber er hatte keine Worte für seine Roten Kinder, von denen viele Millionen diesen unermeßlichen Kontinent füllten, wie die Sterne das Firmament füllen. Nein, wir sind zwei verschiedene Rassen und müssen es bleiben. Es gibt wenig gemeinsames zwischen uns. Die Asche unserer Vorfahren ist heilig, und ihre letzte Ruhestätte ist geweihter Boden, während ihr euch von Gräbern eurer Väter anscheinend ohne Trauer entfernt.

Eure Religion wurde von dem ehernen Finger eines erzürnten Gottes auf Steintafeln geschrieben, damit ihr sie nicht vergessen solltet. Der Rote Mann konnte das niemals behalten und auch nicht begreifen. Unsere Religion besteht in den Traditionen unserer Vorfahren, den Träumen unserer alten Männer, die ihnen vom Großen Geist eingegeben wurden, und in den Visionen unserer Weisen – und sie steht geschrieben in den Herzen unseres Volkes.“ (Rede des Häuptlings von Seattle)

Diese besserwissenden Ignoranten müssen vom Erdboden verschwinden. In unsrer Erwähltheit ertragen wir es einfach nicht, dass irgendjemand sich über uns stellen will. Wären wir Sieger der Geschichte geworden, wenn wir nicht alle Konkurrenten aus dem Weg geräumt hätten?

Wir sind von Gott bestimmt, die Erde zu unterwerfen – zu ihrem Besten. Nur wenn sie als alte zugrunde geht, können wir sie durch eine neue ersetzen. Sind wir also doch Besserwisser?

Das sei ferne von uns. Wir sind Besserkönner. Wir beweisen allen, dass nur wir in der Lage sind, die Erde vorschriftsmäßig zu zerlegen und zu atomisieren. Eben dies ist der Beweis unserer wesensmäßigen Überlegenheit über alle Primitiven und steinzeitlichen Götzenanbeter. Wissen allein ist Tand. Bloßes Wissen verwandeln wir in Maschinen und Werkzeuge, die keinen Stein auf dem andern lassen.

Hört, wie ein andrer Wilder es wagte, den Menschen mit der Natur gleichzustellen. Wie er den himmlischen Vater ersetzte durch eine lächerliche Mutter.

„Die Erde lebt und ist dasselbe wie unsere Mutter. Denn bestünde die Erde nicht, gäbe es keine Menschen. Die Menschen sind ihre Kinder und ebenso die Tiere. Sie achtet auf sie alle und versorgt sie mit Nahrung. Die Steine sind ihre Knochen und das Wasser ihre Milch. Die Tiere sind dasselbe wie die Menschen, sie sind von gleichem Blut; sie sind Verwandte.“ (Die athapaskischen Tahltan-Indianer in Kanada)

Damit schoben wir dem Gleichstellungsgetue der Frauen einen transzendenten Riegel vor – und die Frauen haben es bis heute nicht bemerkt. Noch immer beten sie einen Mann als höchsten Gott an und wundern sich, dass sie den irdischen Mann nie einholen werden. Wer die Religion nicht ändert, ändert nichts in der Welt der Menschen.

Was fehlt noch? Das moralische – pardon, ethische – Geschwätz eines Vertreters des Abendlandes:

„Ethisch ist der Mensch nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend umgibt.“ (Albert Schweitzer)

Gottlob ist dieser Menschheitsbeglücker und Vervollkommner des menschlichen Mängelwesens in den Tiefen der Geschichte verschwunden.

Alles in allem, vergebt mir, Deutsche. Inzwischen habe ich verstanden: wer die Welt verbessern will, macht sie nur schlechter. Ab jetzt wandle ich in bleicher Demut auf den Spuren meiner Kanzlerin, die die Welt noch nie humanisieren wollte. Mit guten Taten sammelt sie Punkte für ihre Seligkeit. Und will die Welt nur so lange funktionsfähig halten, bis ihr Herr und Bräutigam an die Hochzeitspforte klopfen wird.

Habeck kreuzigte sich freiwillig, weil er die Sünde beging, Moral zu predigen. Der SPIEGEL setzte ihm die Dornenkrone auf.

Habeck beteuert, dass ihm nichts ferner liege als das Weltbeglückungspathos, das seine Partei über viele Jahre gepflegt habe. Der Vorwurf, die Grünen neigten zur Gängelei im Dienst einer höheren Erkenntnis, ist so alt wie die Partei selbst. Im ersten Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1980 steht: „Die Zerstörung der Lebens- und Arbeitsgrundlagen und der Abbau demokratischer Rechte haben ein so bedrohliches Ausmaß erreicht, dass es einer grundlegenden Alternative für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bedarf.“ Die Grünen wollten nicht einfach eine neue Partei sein, sie wollten die „Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ bilden, das war der Anspruch. Darunter ging’s nicht.“ (SPIEGEL.de)

Wie kann man als Politiker die Frechheit besitzen, die Wahrheit über den Zustand der Welt auszusprechen, verbunden mit der Forderung, das menschliche Fehlverhalten zu korrigieren? Das alles sind Sünden wider den Geist des unendlichen Fortschritts und des Profits der Reichen. In der Moderne gibt es nur eine einzige Moral – das Festhalten der bestehenden amoralischen Verhältnisse mit den Deutschen an der Spitze der Bewegung.

Streng genommen gibt es kein Verhalten ohne Moral. Jede Tat ist, im übergeordneten Sinn, moralisch. Dann erst trennen sich die Geister und humane Moral muss von inhumaner geschieden werden.  

Auf dem Höhepunkt der ökologischen Bewegung vor 40 bis 60 Jahren hätte man den warnenden Satz von Habeck in jedem Öko-Buch lesen können. Da wäre er nur aufgefallen, wenn er gefehlt hätte. Seit dieser Zeit gab es einen beispiellosen Verfall des ökologischen Bewusstseins.

„Technologie wird nicht die Krankheit heilen, die Technologie geschafft hat. Nur eine fundamentale Änderung unserer gesamten Haltung gegenüber der Welt, dem Leben, der Arbeit und dem Konsum kann das bewirken.“ (John Seymour, So helft ihr doch)

„Der Weg aus dem ökologischen Dilemma ist ohne höhere Werte nicht zu finden. Die Wachstumsfetischisten sind die schlimmsten Unheilsbringer der heutigen Welt. Alle Wachstumsfanatiker sind per Definition „Kriegstreiber“. Wie ist es möglich, dass der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstrieb, heute nicht mehr zu funktionieren scheint?“ (Gruhl, Ein Planet wird geplündert)

„Sogar das Klima könnte sich drastisch ändern und das Gleichgewicht in der Natur sich derart verschieben, dass nicht einmal mehr für die gegenwärtige Bevölkerungszahl Lebenschancen gegeben wären. Uns alle erfüllt jetzt die Furcht, ob wir die Verhältnisse noch in den Griff bekommen oder ob Ursache und Wirkung sich schon so verselbständigt haben, dass wir nicht mehr eingreifen können.“ (Taylor, Das Selbstmordprogramm)

„Die Wirtschaft ist ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich. Lebensziele und Wertvorstellungen privilegieren nicht die Anhäufung materieller Güter. Alle Kommunikation ist nutzlos, wenn sie nicht zu Handlungen führt. Aurelio Peccei, der Gründer des Club of Rome, vergass niemals den Hinweis, dass die Lösung der globalen Probleme mit einem neuen Humanismus zu beginnen habe. In einer Gesellschaft, deren Vorzeichen in die andere Richtung deuten, ist es sehr schwierig, von Werten wie Liebe, Freundschaft, Großzügigkeit, Verständnis und Solidarität zu reden.“ (Meadows, Die neuen Grenzen des Wachstums)

So könnte man endlos fortfahren. Heute ist Moral ins exakte Gegenteil verkehrt worden, um uns vorzugaukeln, wir könnten unbeirrt amoralisch weitermachen. Auf den Begriff Moral kommt es dabei nicht an. Ob man von Werten, Tugenden, Ethik oder verantwortlicher Politik spricht, ist belanglos. Jede politische Entscheidung entspringt einer moralischen Motivation, einer bewussten oder nicht bewussten. Moral als privates Verhalten mag man Tugend oder Sittlichkeit nennen, Moral als überprivates Verhalten aber ist immer Politik.

Auch Michael Sauga weiß es besser als alle „hypermoralischen Besserwisser“:

„Wenn sich die grüne Parteiführung heute in Berlin trifft, wäre sie deshalb gut beraten, sich an den einschlägigen Wünschen der Bürger zu diesem Thema zu orientieren: Politiker sollten Moral haben, nicht predigen.“ (SPIEGEL.de)

Eine Meinung haben, für sie einzutreten und zu werben, scheint heute dasselbe zu sein wie Predigen. Doch wer predigt, offenbart unfehlbare Wahrheiten; wer politische Reden hält, unterbreitet hingegen der Gesellschaft seine Meinung, um sie beurteilen zu lassen.

Moral kann man durch vorbildliches Verhalten oder durch überzeugende Argumente vermitteln. Wer sich nicht als Priester fühlt, wird sich kaum für unfehlbar halten. Dass Politik moralisches Verhalten im Überprivaten ist, scheint im SPIEGEL noch nicht angekommen.

Habecks Reden nennt der SPIEGEL „eine neue Form der Hybris und Populismus des Guten“. Gehirnloser und skandalöser geht’s nicht. Wie will man eine AfD bekämpfen, deren Thesen man in hohem Maße für unmoralisch hält, wenn nicht mit moralischen Gegenthesen?

Wenn ein grünes Parteimitglied behauptet: „Die Leute wissen, was sie erwarten können: Wir sind sozial, ökologisch und weltoffen“: ist das nicht eine moralische Trias? Wie kann man sozial und weltoffen gegen alle Menschen sein, wenn nicht mit einer solidarischen, fremden- und naturfreundlichen Moral?

Wie oft kritisieren deutsche Medien Trump wegen amoralischen Verhaltens; in Deutschland aber soll Moral eine hybride Anmaßung sein?

In einem Kommentar zu Trump wirft Roland Nelles dem Präsidenten vor, er spiele ein zynisches Spiel. Es gehe ihm nur um sein „Ich, Ich, Ich“. Er betreibe eine „skrupellose, demagogische Politik“.

„Kurz gesagt, eine Politik, die einfach so ist wie Trump selbst: veraltet, verlogen und schlecht. Trumps Lügen, seinem egomanischen Populismus muss der Garaus gemacht werden. Dieser Präsident hat auf seinem Ego-Trip schon zu viel Schaden angerichtet.“ (SPIEGEL.de)

Lügen, Ego-Trip, zynisches, skrupelloses, demagogisches Spiel, egomanisch: was davon ist nicht amoralisch? Was werfen die Deutschen Erdogan, Orban, Putin, Assad vor, wenn nicht skrupellose Amoralität? Wie konnte es im SPIEGEL zu einem Fälscherskandal kommen, wenn nicht durch Ignorieren empirischer Wahrheitsgarantien? Wollte der SPIEGEL diese Affäre nicht zu einem Akt moralischer Selbstreinigung nutzen? Stattdessen misten sie jetzt die Moral aus!

Es ist gespaltenes Irresein: anderen Völkern und Machthabern werfen die Deutschen amoralisches Verhalten vor, sie selbst aber verabscheuen Moral als Spießbürgertugend.

Jede Verletzung demokratischer Gesetze und Völkerrechte ist ein Vergehen an der Moral der Menschen. Mit göttlichen Gesetzen und Predigten hat all dies nichts zu tun.

Während moralische Visionen an die Wand geknallt werden, sind technische Visionen das Gelbe vom Ei. Hier können die Silicon-Valley-Genies nie übertreiben, wenn sie ihre Creationen der Menschheit zwangsbeglückend aufs Haupt drücken.

Wird irgendein Mensch, ein Volk, eine Gesellschaft danach gefragt, ob sie Fortschritt wollen? Ob sie diesen Fortschritt wollen, der gerade in ist? Dabei sind sie stolz auf ihren Liberalismus, der jedem Individuum das Recht garantiert, nach eigenen Vorstellungen glücklich zu werden. Das sollen Kleinigkeiten sein? In allen Grundfragen der Weltkultur gilt dies mitnichten. Wer sich den angeblichen Gesetzen der Evolution entzieht, der wird überrollt. Die Eingeborenen, die die westliche Welt ablehnen, werden unbarmherzig aus ihren Territorien vertrieben und ausgelöscht.

„Wir haben eine moralische Verantwortung gegenüber allen Kindern der nächsten Generation. Facebook wurde ursprünglich nicht als Unternehmen gegründet. Es wurde gemacht um eine soziale Mission zu erfüllen – die Welt offener und verbundener zu machen.“ (Zuckerberg)

„Es bedeutet mir nichts, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein… Abends ins Bett zu gehen und zu sagen: Wir haben etwas Wunderbares geschaffen… das bedeutet mir etwas.“ (Steve Jobs)

Ganz Silicon Valley ist erfüllt von technologischen Wundern, die die Welt zu einer besseren machen sollen. Krankheit und Tod sollen überwunden werden, um die Menschen unsterblich zu machen: alles per Technologie. Hier gibt es keinen Aufschrei der deutschen Medien. Hier übertreffen sie sich damit, die jeweils neuesten Beglückungsmaschinen in kostenloser Propaganda der Menschheit zu predigen. Das Ganze nennen sie Trans-Humanismus, obwohl er ein Anti-Humanismus ist:

„Transhumanismus (zusammengesetzt aus lateinisch trans ‚jenseits, über, hinaus‘ und humanus ‚menschlich‘) ist eine philosophische Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sei es intellektuell, physisch oder psychisch, durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern will. Die Interessen und Werte der Menschheit werden als „Verpflichtung zum Fortschritt“ angesehen.“ (Wiki)

Verpflichtung zum Fortschritt ohne Alternative ist totalitärer Fortschrittszwang. Der wird von keinem SPIEGEL attackiert. Der wird von allen angebetet.

Der SPIEGEL will ein neutraler Beobachter der Zeit sein und sich mit keiner Sache gemein machen. Auch nicht mit der guten. Das ist ein Aberwitz, denn er propagiert mit vollen Segeln alle technischen Vervollkommnungen des Menschen, moralische Selbstbesinnung und Humanisierung des Menschen aber überschüttet er mit Hohn. Sie machen sich gemein mit dem Gemeinen, das mit suizidaler Selbstgefährdung identisch geworden ist.

Seit dem Ende der Aufklärung versank Deutschland im ästhetischen und machiavellistischen Amoralismus, der in Nietzsches Willen zur Macht über die Welt ihren Höhepunkt fand.

In der Romantik entwickelte sich die heutige Form des amoralischen Zynismus:

„Die romantische Bildung in ihrem Kampf gegen die Scheinbildung verbündet sich mit dem Zynismus. Die romantische Ethik in ihrem Kampf gegen die Scheinsittlichkeit verirrt sich im Trotz gegen die Sitte, in welcher sie nichts als eine hohle Larve der Unsittlichkeit erblicken will.“ (R. Haym, Die Romantische Schule)

Sie wollten moralischer sein als die moralischen Heuchler ihrer Zeit – und wurden aus reaktionärer Blindheit Feinde der Moral. Das war bei Hegel nicht anders als bei Marx. Stets schütten die Deutschen das Kind mit dem Bade aus.

Um ihren mangelhaften revolutionären Radikalismus zu überdecken, werden sie in der Theorie schein-radikal, um ihre amoralischen Handlungen zu rechtfertigen. Sie verabscheuen die gesamte Moral, anstatt die mangelnde Fähigkeit, moralische Gesinnung in Taten zu verwandeln.

Aus Aversion gegen eine bigotte Moral entstand der Furor einer nicht-bigotten Amoral, die sich aller heuchelnden Anständigkeit der Gesellschaft überlegen fühlte. Da kann man im Blut seiner Opfer waten mit dem Gefühl einer moralischen Überlegenheit über die ganze Welt.

„Dennoch habe ich Rudolf über viele Jahrzehnte als Freund geschätzt. Ich genoss seine intellektuelle Gewandtheit, bewunderte sein außerordentliches historisches Wissen und respektierte sein moralisches Engagement. Was Rudolf wirklich interessierte, zumindest in den Unterhaltungen mit mir, war vor allem die Geschichte sowie der politische und moralische Wiederaufbau seines Vaterlands. Deswegen strebte Rudolf danach, seinen Glauben an die Demokratie und die Erneuerung der Gesellschaft dadurch zu verwirklichen, dass er ihre Unzulänglichkeiten bloßstellte. Und gerade weil er seine Ziele so hoch steckte, konnte seine Kritik zuweilen gnadenlos ausfallen. Seinen selbst gestellten Anspruch, einer der Wächter der deutschen Demokratie zu sein, nahm er sehr ernst. Ihm lag leidenschaftlich daran, das Land zu verändern, das er liebte, auch wenn er es geißelte. Das hat er erreicht.“ (SPIEGEL.de)

Schrieb Henry Kissinger im Gedenken an Rudolf Augstein, den Begründer des SPIEGEL. Würde Augstein heute noch leben, würde er sein Blatt nicht mehr wiedererkennen. Aus einem Sturmgeschütz der Demokratie verwandelte sich das Magazin in einen Fürsprecher des amoralischen Verfalls und eines ungehemmten, abschüssigen Laufs in den Untergang.


Fortsetzung folgt.