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Samstag, 12. Januar 2013 – Sicherheit oder Freiheit

Hello, Freunde der kleinen Hexe,

Neger wird gestrichen, Wichsen wird gestrichen – von Schuhen. Deutsche Kinderbücher werden runderneuert. In Amerika wurde Nigger gestrichen. Ganze Schulbibliotheken wurden von Klassikern gesäubert, weil Erotisches, Gottloses oder Erotisch-Klingendes und Gottlos-Scheinendes in edler Prosa formuliert war.

Das sei doch keine Zensur, kein neuer Fall 1984, beschwichtigt Daniel Bax in der TAZ. Das sei nur eine „behutsame Modernisierung“.

Auch Luthers Bibel sei von antisemitischen Formulierungen bereinigt worden. „Selbst die Luther-Bibel wurde mehrfach sprachlich überarbeitet und von antisemitischen Ausfällen ihres Autors bereinigt, damit man ihre Botschaft auch heute noch versteht. Warum Kinderbücher da per se „heiliger“ sein sollen, leuchtet nicht so recht ein.

Es gehe um das Recht eines Autors und seines Verlags, „seine Bücher an den Sprachgebrauch der heutigen Zeit anzupassen, damit sie künftig noch von vielen Menschen gelesen werden können, ohne dass diese das in den falschen Hals bekommen zum Beispiel, weil sie schwarz sind.“

Wenn Profi-Schreiber gegen einen Shitstorm ankämpfen müssen, wissen sie, dass sie richtig liegen. Da fühlt sich jeder wie der Mönch aus Wittenberg, der allein gegen die Drachen der Welt ankämpft.

Doch leise Zweifel an der Reinigungsmethode überkommen Bax dennoch. Natürlich will er Voltaire, Kant und Adorno nicht nachträglich von wichsenden Negern befreien. „Das alles kann man nicht nachträglich einfach umschreiben, ohne

plumpe Geschichtsfälschung zu betreiben. Aber es ist doch etwas anderes, wenn es um Kinderbücher geht, die heute noch gelesen und vorgelesen werden. Von Dreijährigen kann man schlecht erwarten, dass sie bestimmte Begriffe und Bilder kritisch reflektieren und historisch einordnen können von Studenten der Philosophie schon.“

Hier weiß man nicht mehr, ob man weinen oder bitter heulen soll. Ungelesene Bücher dürfen nicht plump gefälscht werden, gelesene aber schon? Ist es nun eine Geschichtsfälschung oder ist es keine? Wenn es eine ist, ist es auch eine bei gelesenen Büchern.

Interessant, dass Bax die Bibel zu jenen Kinderbüchern zählt, die gelesen werden und von antisemitischen Spuren eines der schlimmsten abendländischen Judenhassers gereinigt werden dürfen. Die Kirche erhält von Bax die Lizenz, ihre Vergangenheit porentief zu reinigen. Bax rechtfertigt die schlimmsten Bibelverfälschungen der letzten 200 Jahre, die den schrecklichen Text einem modernen Publikum schmackhaft machen wollen.

Die Bibel, das gehäutetste Buch der Weltgeschichte, immer topfit dem jeweiligen Zeitgeist angepasst, erneuert sich alle 10 Jahre unter dem Wirken des Heiligen Geistes. Dieses Buch altert nicht, es ist ewig jung. Alle Falten, hässlichen Flecken und Brutalismen werden mit postmodernen Botoxspritzen in ewiger Schönheit erhalten. Kein Text, den man mit dem Skalpell des Schönheitschirurgen nicht auf Vordermann bringen kann.

Man könne von Kindern keine historischen Einordnungen erwarten? Man kann Dreijährigen nicht sagen: früher sagte man Neger, doch das waren Beleidigungen für Afrikaner, die man heute unterlässt, um schwarze Menschen nicht zu beleidigen? Oder wollt ihr etwa von anderen Kindern als weiße Angeber beschimpft werden?

Muss man Philosophie studieren, um Vergangenheit und Gegenwart, Beleidigung und Freundlichkeit zu unterscheiden?

Hat der Autor nicht das Recht, sein Buch dem heutigen Sprachgebrauch anzupassen? Hat er nicht. Sonst macht er sich einer plumpen Geschichtsfälschung schuldig. Er kann eine Neuauflage herausgeben, in der steht, was im Original stand und er nun verändert hat. Warum kann er im Vorwort nicht das Problem beschreiben, mit der Bemerkung, heute würde er diesen diskriminierenden Begriff nicht mehr verwenden? Nie hätte er die Absicht gehabt, Minderheiten und Fremde anzugreifen?

Die Nationalsozialisten reinigten das Volk von den Schlacken der Lebensunwerten. Die „Reinigung des Deutschen Volkes“ gehörte zum Kernbestand der NS-Ideologie. Man muss Begriffe nicht auf ewig meiden, die von Nationalsozialisten verunreinigt wurden. Wörter sind unschuldig. Man sollte aber wissen, was die belasteten Begriffen meinen – um sich klar von ihnen distanzieren zu können.

Es geht nicht um Sehnsucht nach einer guten alten Zeit, in der alles in Ordnung war. Im Gegenteil: die Übel der Vergangenheit dürfen nicht wegretouchiert werden, damit wir uns mit ihnen auseinandersetzen können. Was Bax will, ist eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Er will den Müll seiner Väter und Mütter aus dem Weg räumen – durch Geschichtsfälschung und Verbiegung der Wahrheit.

Wahr ist, dass die Vergangenheit der Deutschen nicht reputabel ist. Das müssen Kinder wissen, damit sie ihre Gegenwart besser verstehen. Verlage wollen Kinder und Eltern entmündigen, indem sie ihnen eine salonfähige facon de parler vorschreiben. Das ist Imitation des inquisitorischen Biblizismus der Amerikaner bis aufs I-Tüpfelchen. Auch Ajatollastaaten kennen keine Probleme, den Geist von Büchern und Zeitschriften so lange zurechtzubiegen, bis er mit dem Koran vereinbar ist.

Die deutschen Intellektuellen sind außer Rand und Band. Ein Verlag, der gegen das Gesetz verstößt, wird mit dem unvergleichlichen „Geist“ dieses Verlags verteidigt. Als ob irgendein exquisiter Geist den Geist des Rechts beschädigen darf. Sie fordern nichts weniger als einen deutschen Sonderweg für einen genialen deutschen Sonderverlag.

Wer sich ans Recht hält, wird von Handke zum Teufel gemacht. Hier geht’s nicht um kleine Hexen, hier geht’s um Hexen als Verlegerinnen. Womit wir wissen, wer die Hexenjäger und Exorzisten der Gegenwart sind, die die Kaste der Priester und Popen abgelöst haben. Sammeln sie bereits die Holzscheite für ein lustiges kleines Feuerchen, um einen harmlosen Mann zu rösten, der nichts als sein Recht will?

Wenn die Edelliteraten der Meinung sind, dem Verlag sei juristisch Unrecht getan, sollen sie ihr Recht vor Gericht einklagen. Wenn internationale Literatur herhalten muss, um die Verachtung von unterschriebenen Verträgen, die Verhöhnung des Rechts zu legitimieren, dann sollten wir alle Geist-Erzeugnisse in der Tiefe des Meeres versenken.

Literatur muss alles schreiben können, was sie für richtig und wichtig hält. Ihre Protagonisten müssen sich an keinen einzigen Paragraphen dieser Welt halten, sie können die ganze Menschheit lustvoll pfählen und häuten in der Fiktion, auf dem Papier ihrer Imagination. In der Realität aber sind Schriftsteller normale Bürger und nichts außerdem. Sie haben Demokraten zu sein und kritische Verehrer des Gesetzes. Wenn nicht, muss man sie als Gegner des Rechtsstaates, als Faschisten und totalitäre Platoniker attackieren.

Den luziden Geistproduzenten sind die geringsten Grundlagen der Demokratie nicht mehr vertraut. Der sich wiederholende Ungeist der Deutschen Bewegung kommt nicht von verwirrten gewalttätigen Jugendlichen. Er stammt aus der Idylle der Dichter und Denker – die schon 1933 auf der Seite der Täter waren, die sie um ihre Energie und bedenkenlose Konsequenzmacherei beneideten.

Die tolle Suhrkamp-Kultur schert sich nicht um Quisquilien, von denen nur die Existenz der Demokratie abhängt. Schon wieder steht der Geist – rechts. Früher nannte man das Revolution von oben. Stets beginnt sie mit der Generalreinigung der Vergangenheit. Die strahlende Zukunft muss auf einer tabula rasa, einer unbefleckten Leinwand begonnen werden.

Das ästhetische Großreinemachen hat Popper als Grundbestandteil jeder faschistischen Diktatur kenntlich gemach. Als Versuch, „eine Welt zu bauen, die nicht nur ein wenig besser und vernünftiger ist als die unsrige, sondern die von all ihrer Hässlichkeit befreit ist: Nicht einen aus alten Flecken zusammengesetzten Läufer will er, sondern einen großen, ganz neuen Teppich, eine wirklich schöne neue Welt.“ Das Reinigen von allen Schlacken der Vergangenheit, um eine jungfräulichen Neuanfang zu beginnen, ist das, was Popper „das Reinigen der Leinwand“ nennt.

Der ästhetische Faschist, der mit befleckten Regimes nicht ins Bett geht, muss die „bestehenden Institutionen und Traditionen ausrotten. Er muss reinigen, austreiben, deportieren und töten. (Liquidieren ist die abscheuliche moderne Bezeichnung dafür)“. Der Politiker als totalitärer Künstler braucht das berauschende Gefühl, Creator ex nihilo zu sein.

Deshalb benötigt der Schöpfer eine Maria, die von keinem Mann wusste. Deshalb brauchte Hitler ein Volk, das von keinem Führer wusste. Die weiße Leinwand ist das unbefleckte Leinentuch, das die Schwaben zum Fenster raushängen, damit das ganze Dorf die nächtliche Enthaltsamkeit des Ehepaars überprüfen kann, das sich lediglich zum Kinderzeugen, aber nicht aus heidnischer Lust begattet.

Schon werden Bücher bereinigt, indem die befleckte Vergangenheit entsorgt wird. Demnächst könnten sie brennen, dass sie noch sauberer werden. Schon reinigt sich der Edelverlag von juristischen Schlacken und schwebt mit Hilfe des Geistes über allen trivialen Wassern des Irdischen. Seit längerem hat der Neoliberalismus den Westen von seiner Vergangenheit gereinigt. Die Anbetung der Zukunft ist Gesamtreinigung der Vergangenheit.

Sieger und Befreier haben keine blutigen Vergangenheiten mehr, die sie durch Erinnerungsarbeit bewältigen müssten. Wäre Deutschland nicht besiegt worden, hätte hier nie eine nationale Reue und Buße stattgefunden. Nein, Amerika hat nie die gesamte Urbevölkerung dezimiert, unterjocht und ausgerottet. Dafür haben sie viele Holocaustmuseen, wo sie der Schreckenstaten der Anderen gedenken.

Wer nach vorne schaut, muss sich mit seinen Fehlern und Untaten nicht beschäftigen. Reinigung ist der Vorgang der Wiedergeburt zum Glauben. „Selig sind, die reinen Herzens sind. Wenn wir unsere Sünden bekennen, vergibt er unsere Sünden und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“

Die ganze Welt ist eingeteilt in rein und unrein. Rein ist das Territorium Gottes, unrein das des Satans. Wo gereinigt wurde, betritt man heiligen Boden. „Ich werde ihnen heraushelfen aus all ihrem Abfall, mit dem sie sich versündigt haben und sie reinigen. Dann werden sie mein Volk sein und ich werde ihr Gott sein.“ ( Altes Testament > Hesekiel 37,23 / http://www.way2god.org/de/bibel/hesekiel/37/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hesekiel/37/“>Hes. 37,23)

Den Reinen ist alles rein. Wessen Herz durch Glauben gereinigt ist, der kann keine unreinen Werke mehr tun. Denn der ist immer rein – und wenn er in Blute watet. Die Juden mussten ihre Reinheit durch Erfüllung der Gebote beweisen. Christen müssen nur fromm sein, dann sind sie rein, auch wenn man an diese Reinheit glauben muss.

Deutschlands Geistesriesen begeben sich an vorderster Front auf den Pfad der Erneuerung und bereiten die Wiedergeburt der Nation vor. Schon ist die ganze Vergangenheit, schon sind die Neger, schon ist der Rechtsstaat entschwunden. Die Journalisten kennen den Begriff der Vergangenheit gar nicht mehr. Sie leben unlustig in den jeweiligen Tag, der unbefleckt stets von vorne beginnt. Sie halten sich an das Gebot des Herrn: „Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt, ist tauglich für das Reich Gottes.“ Als Lots Weib zurückschaute, wurde sie zur Salzsäule.

Die zunehmende Coolness unter den Menschen ist nicht nur Rivalität und kapitalistische Eiseskälte, sondern Zurückweisen menschlicher Beziehungen, um Gott die Treue zu halten. Alles, was Menschen teuer ist, muss um des Reiches Gottes willen geopfert werden, damit der Herr nicht eifersüchtig wird. Je wärmer man die Welt liebt, um so mehr entzieht man dem Himmel die notwendige Hitze und Leidenschaft.

Die Toten begraben und betrauern? Lasset die Toten die Toten begraben. Abschied nehmen von seinen Lieben, wenn man dem Herrn folgt, ist verboten. Auf Erden hat der Christ keine Heimstatt. Er muss alles verlassen um seiner Seligkeit willen.

Die schroffe Ablehnung menschlicher Gefühle wurde zur Coolness der Moderne, deren Herz an nichts hängt. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels haben Nester; der Sohn des Menschen dagegen hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.“

Die Trostlosigkeit in Natur und menschlicher Gesellschaft macht es leichter, zu allem Ade zu sagen. Die atomisierte Unverbindlichkeit der Menschen macht sie fähig, aus dem Stand alles aufzugeben, um ein Neues und Unbekanntes zu erproben. Auf Erden haben sie keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen sie.

Flexibilität und Mobilität sind Bestätigungen, dass man nirgendwo zu Hause sein kann. Bindet euch nicht an Leib und Blut, bindet euch an etwas, was es auf Erden nicht gibt. Das Leben ist eine Wanderschaft mitten durchs blühende Leben, an dem man keinen Anteil nehmen darf. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, nähme aber Schaden an seiner Seele?

Die Menschen sollen keine Heimat in der Natur finden. Wie Unberührbare sollen sie nebeneinander herlaufen. In der schönen Neuen Welt von Huxley sind stabile Gefühle zu bestimmten Menschen verboten. Liebe und emotionale Leidenschaft gefährden nach Meinung der Weltregierung die Stabilität. Kein Mensch darf einen Anker werfen, um zu sagen, hier bin ich, hier bleibe ich. Das System soll eine Megamaschine sein, in der jeder an jedem vorübergleitet, ohne Spuren zu hinterlassen.

Auch Popper ist der Mär seines Freundes Hayek erlegen, dass eine Gesellschaft mit Nestcharakter in der Moderne nicht möglich sei. Wo jeder mit jedem Handel treibt, könne es keine warmen und stabilen Gefühle geben. Der Geldvorteil treibe uns unerbittlich zum nächsten Konkurrenten, der uns ein besseres Angebot unterbreitet. Wer aus Sentimentalität einem Freund Vorteile einräume, die ihn selbst benachteiligen könnten, wäre nicht lebenstauglich.

Die Wärme des Nestes ist auf die gesellschaftliche Maschine nicht übertragbar. Wer seine Kindheit hinter sich hat, muss Abschied nehmen von der Illusion, er könne familiäre Gefühle ins raue Klima der Wettbewerbsarena übertragen. Fortschritte in Wohlstand müssten durch Kälte und Unpersönlichkeit bezahlt werden.

Jeder Fortschritt hat einen Preis. Umsonst kriegen wir nichts. Der Preis der offenen Gesellschaft ist menschliche Bindungslosigkeit. Es wäre eine Illusion, zu glauben, die Menschheit könnte zurück ins Dampfbad der Nestfamilien, Urclans und geschlossenen Gesellschaften. Ein Zurück gibt es nicht.

Jede Gruppe, die nicht an Fortschritt und Wirtschaftswachstum teilnimmt, stellt Popper unter Totalitarismusverdacht. Alle matriarchalen Clans wären damit finstere und freiheitsberaubende Horden. Poppers Offenheit zielt auf ein ewiges Werden, auf die lineare messianische Zeit, die im Nichts endet. Seine offene Gesellschaft mit Zwang zu immer mehr Macht über die Natur enthält mehr faschistische Zwänge, als alle „geschlossenen“ Gesellschaften zusammen. Poppers Wunschgesellschaft ist die Horde rivalisierender Männer, die nicht eher ruht, bis sie die Welt beherrscht und die Natur ruiniert hat.

Er steht auch in der Tradition von Lots Frau und den Pflügern, die nicht zurückblicken können. Obgleich er ein glühender Verehrer des Sokrates war, wechselte er die Spur und landete in christlich-jüdischen Animositäten gegenüber der Heimat Erde. Hienieden muss es kalt bleiben. Wir können uns nur warm anziehen, um in Eiltempo das Revier des Permafrosts hinter uns zu bringen. Wir müssen „unser Kreuz“ tragen, das Kreuz, dass wir in solidarischer Gemeinschaft unser Tagwerk nie vollbringen können. Zwar könnten wir zurück, doch nur, wenn wir Bestien werden wollten. Wollten wir Menschen bleiben, müssten wir den Weg in die offene Gesellschaft gehen.

Woran ist dieser Weg erkennbar? „Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten. Nicht nur für Sicherheit, sondern auch für die Freiheit.“ Hier landet Popper im Netz Hayeks. Der einzige Unterschied ist der, dass bei Popper die Sicherheit kein absolutes Gegenteil der Freiheit ist. Bei Hayek und der FDP wird Sicherheit als Vollkaskomentalität verpönt, als niederes Bedürfnis, sich den Bauch vollzuschlagen, auch wenn man seine Freiheit aufs Spiel setzt.

Dahinter steht die biblische Legende von den Fleischtöpfen Ägyptens, die von den Kindern Israels verschmäht werden mussten, um im riskanten Exodus durch die Wüste die Freiheit zu gewinnen. Die Magie des modernen Risikos steht vom Ursprung her unter der Verheißung des Gottes, die Seinen nie im Stiche zu lassen.

Die wankelmütigen Kinder Israels murrten gegen Mose bei den geringsten Schwierigkeiten, die sie auf der Flucht ertragen mussten: „Da murrte die ganze Gemeinde Israels wider Mose und Aaron. Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasset.“

Hier ist der Ursprung des „Freiheit oder Sicherheit.“ Es ist eine religiöse Verfügung, keine empirische Erfahrung auf Erden. Freiheit ohne Sicherheit zerfällt in Getümmel und Bürgerkrieg. Sicherheit ohne Freiheit ist das Unsicherste in der Welt. Jeder kleine Despot kann Sicherheit zerstören und das unfreie Volk verderben.

Poppers Ziel: das Unsichere, das Unbekannte und Ungewisse sind Synonyma für das Ziel religiöser Wanderschaft ins Reich der Himmel. Kein Mensch darf sich sicher sein, ob er das Ziel erreichen wird. Kein Mensch weiß, was ihn wirklich erwartet. Kein Mensch weiß, wo das Reich der Himmel ist.

Popper will, dass wir unsere Vernunft benutzen. Doch am Ende stellt sich heraus: an das Unbekannte und Ungewisse muss geglaubt werden. Mit Vernunft haben diese Ziele nichts zu tun. „Wir können niemals zur angeblichen Unschuld und Schönheit der geschlossenen Gesellschaft zurückkehren. Unser Traum vom Himmel lässt sich auf Erden nicht verwirklichen. Für die, die vom Baume der Erkenntnis gekostet haben, ist das Paradies verloren.“

Hier hat Popper seinen Lehrer Sokrates verlassen und ist biblischen Denkmustern verfallen. Erkenntnis ist bei ihm, wie bei Paulus, ernüchternd und hoffnungslos. Wer auf Erkennen setzt, muss auf menschliche Verhältnisse verzichten. Erkennen ist eine kalte Angelegenheit. Wer Nestwärme will, muss seinen Verstand opfern. Dieses Entweder-Oder ist das Kreuz, das wir auf uns nehmen müssen. Die Erkenntnis der Welt ist vor Gott eine Trostlosigkeit.

Bei den Griechen diente Erkennen der Glückssuche des Menschen, die nicht per se zum Scheitern verurteilt ist. Bei Sokrates führten Erkennen und Denken zum Glück: „Denn Philosophie sagt immer dasselbe, nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln – und nur ein wirkliches Glück, gut oder gerecht zu handeln.“

An diesem Glück kann jeder Mensch mitarbeiten. Wie weit wir es damit bringen werden, weiß kein Mensch. Keine Vernunft wird uns sagen: schafft menschliche Verhältnisse, doch weit werdet ihr es damit nicht bringen.

Das Glück durch Rechttun schafft jene Wärme, die wir Menschen uns gegenseitig geben können, damit wir in der Kälte des Fortschritts und Überflusses nicht zu Eiszapfen werden.