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Samstag, 05. Januar 2013 – Gefühle und Antisemitismus

Hello, Freunde Avnerys,

Uri Avnery ist Zionist der ersten Stunde, einer der furchtlosesten Kritiker seines Staates – von deutsch-jüdischen Netanjahu-Apologeten als Selbsthasser verfemt –, der in hohem Alter sein Lebenswerk, eine tüchtige israelische Nation in friedlichen Beziehungen zu ihren arabischen Nachbarn, gefährdet sieht. Dennoch überschreibt er seinen letzten Kommentar mit dem Satz: „Der Frieden zwischen Palästina und Israel ist möglich!!“ Das klingt wie Hoffen wider alle Hoffnung.

Avnery sieht gravierende Probleme in seinem Land, doch keine Partei spricht es an. Die Gesellschaft leidet an Mutismus. Wahlen stehen bevor und die wichtigsten Themen bleiben unter Verschluss. Das nennt man Tabuisieren oder blinde Kuh spielen.

Das erste Grundproblem ist die Wirtschaft, die Netanjahu über die Maßen lobt, obgleich der Staat über alle Ohren verschuldet ist. Die Steuern müssten erhöht, die Sozialausgaben reduziert werden. Doch wie überall in reichen westlichen Demokratien: wessen Steuern sollen erhöht, welche Ausgaben gekürzt werden? Niemand fragt, niemand antwortet.

Wie England hat Israel keine geschriebene Verfassung, aber die ist bedroht. Der Oberste Gerichtshof wird immer mehr daran gehindert, verfassungswidrige Gesetze zu verhindern. Der rechte Star Bennett hat angekündigt, dem Gericht die Zähne zu ziehen. Dem „juristischen Aktivismus“ will er ein Ende bereiten und dem Gerichtshof die Macht entziehen, antidemokratische Gesetze aufzuheben und administrative Beschlüsse zu blockieren, wie zum Beispiel Siedlungen

auf privatem palästinensischem Land zu errichten.

Die Medien sind schon ziemlich gedrosselt, Avnery benutzt gar das Wort „Gleichschaltung“. Die TV-Kanäle hängen von staatlichen Gnaden ab, nur ein Massenblatt des amerikanischen Milliardärs und Netanjahu-Freundes Adelson wird kostenlos verteilt. Als ein auswärtiger Diplomat wagte, eine kritische Frage zum Siedlungsbau zu stellen, riet der Regierungssprecher den Diplomaten zurückzutreten, wenn ihnen die Politik der Regierung nicht passe.

Allen NGOs, die in den besetzten Gebieten nach dem Rechten schauen, wird von der Likud angedroht, man werde ihre internationale Finanzierung unterbinden. Das ist wie bei Putin, über den es hierzulande einen Aufschrei gibt, doch die Begebenheiten bei unseren Freunden werden eisern ignoriert.

Demnächst droht die komplette Landnahme, die Besetzten werden in vielen Mauern eingeschlossen, eine neue Intifada wird ausbrechen. Israel wäre in der Welt isoliert, sogar die lebenswichtige amerikanische Unterstützung könnte ins Wanken geraten. Wenn die Regierung ihren derzeitigen Kurs fortsetzt, wird das zu einem sicheren Desaster führen – das gesamte Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss wird zu einer Einheit unter israelischer Herrschaft werden.

Dieses Groß-Israel wird aus einer arabischen Mehrheit und einer schwindenden jüdischen Minderheit bestehen und unvermeidbar zu einem Apartsheidsstaat werden, der von einem ständigen Bürgerkrieg geplagt wird und den die Welt meidet.

Wird Israel unter auswärtigem Druck gezwungen, die Araber als gleichberechtigte Bürger zu akzeptieren, wird durch die Mehrheit der Araber das Land zu einem arabischen Staat. 134 Jahre zionistischer Bemühungen wären zunichte gemacht.

Zwei unabhängige Umfragen haben die Gespaltenheit des Landes offenbart. Eine große Mehrheit ist nach wie vor für eine Zweistaatenlösung. Dieselbe Mehrheit aber glaubt nicht, dass es zu einer solchen Lösung kommen wird.

Avnerys Erklärung: „In Dutzenden von Jahren wurden die Israelis einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie sollten glauben, dass „die Araber“ keinen Frieden wollen. Selbst wenn diese sagen, dass sie ihn wollen, sei dies eine Lüge.“

In der Analyse fehlt, welche Kräfte diese Gehirnwäsche durchgeführt haben. Es ist der Ungeist der Ultras, der das Land immer mehr im Griff hat.

Augstein wird angegriffen, weil er die „Haredim“ mit fundamentalistischen Muslimen verglichen hat. In der Tat, ein Riesenunterschied. Selbstmordattentäter begnügen sich mit wenigen Opfern, die Frommen wollen das ganze Land in die Hände kriegen, inklusive den roten Knopf über die Atombombe – die es noch immer nicht gibt.

Alle Länder mit Atombomben sind gefährlich, Atombomben in der Gewalt von Religionsfanatikern sind brandgefährlich. Das weiß die ganze Welt, doch wenn es in Deutschland angedeutet wird, kracht‘s im Karton.

(Website Uri Avnery: „Eigenartige Wahlen“)

Es ist fünf vor zwölf mit einem demokratischen Israel. Wenn in der nächsten Wahl Faschisten wie Liebermann und Bennet ans Ruder kommen, hat die einstige Musterdemokratie alle Chancen, zu einem jüdischen Ajatollastaat zu verkommen. Die Friedenschancen zwischen einem faktischen und einem potentiellen Atomstaat werden dadurch nicht größer.

Während die Gefahren in Nahost rasant steigen: was tut sich zeitgleich bei Israels zweitbesten Freunden? Sie sorgen sich, informieren sich aufs Genaueste, debattieren, beraten und kritisieren in freundschaftlichem Geiste, versuchen, Auswege und Lösungen zu finden – gemeinsam mit der Nation, in deren historischer Schuld sie stehen?? Eben nicht.

Das Gegenteil ist der Fall. Hier wird von allen Problemen abgelenkt. Sie werden vertuscht und verdrängt, man inszeniert Ersatz-Debatten mit dem hiesigen Lieblingsthema Antisemitismus. Der Bote wird geschlagen, die Botschaft mundtot gemacht.

Die Juden außerhalb Israels haben noch mehr Probleme mit dem Staat, den sie „im Stich lassen“, weil sie dort nicht wohnen und ihr schlechtes Gewissen nur mit Finanztranfers beruhigen können. Also lenken sie von den Schwierigkeiten der Heimatnation ab und suchen Ersatzschuldige. Am liebsten im ehemaligen Täterland, dem auf der einen Seite bescheinigt wird, das am wenigsten antisemitische Land weit und breit zu sein, auf der anderen Seite, dass hier Wiedergänger von Streicher die mediale Landschaft verseuchen.

Die meisten israelischen Auswanderer gehen nach Berlin, vermutlich deshalb, weil die antisemitische Gefahr hier am höchsten ist.

Kann Antisemitismus quantitativ und objektiv gemessen werden? Natürlich nicht. Ist Antisemitismus ein Phänomen, auf das die Wissenschaft sich geeinigt hat? Natürlich nicht. Über Antisemitismus gibt es so viele Definitionen wie Opfer und Täter zusammen. Das wäre weiter nicht schlimm, wenn man mit dem Phantombegriff keine Politik betriebe.

Ist die Kontrolle des Antisemitismus überhaupt noch notwendig? Sind die Deutschen über ihre NS-Krankheit nicht längst hinaus? Haben sie ihre Vergangenheit nicht vorbildlich aufgearbeitet, wie selbst Juden immer wieder betonen? Diese Juden täuschen sich oder sie sagen aus pragmatischen Gründen nicht, was sie denken.

Es geht nicht um offenkundige Neonazis, es geht um die regressive Gesamtatmosphäre der Gesellschaft, die sich immer mehr der Deutschen Bewegung der Vorkriegszeit annähert. Deren Bestandteile waren: antidemokratischer Amoralismus, Sonderrechte für Herrenrassen, Ablehnung universeller Menschenrechte, Verachtung der Vernunft und Wiederkehr jener Religion, aus deren Schoß das Scheusal kroch.

Das ist die ideologische Gefühlsmischung mit eingebautem Gefahrenpotential, die niemand sehen will, weil Freuds Erkenntnis: „unbearbeitete Probleme stehen unter Wiederholungsgefahr“ durch ökonomische Zukunftsguckerei entsorgt wurde.

Die Historie dient nur noch als Dekoration für die jährlich-rituellen Nationalreden. Ansonsten schaut niemand mehr zurück. Sie blicken alle nach vorne, von wannen ihnen Hilfe kommen wird, wenn ihr Herr und Erlöser in den Wolken erscheint. Mit Sicherheit wird er am Sankt Nimmerleinstag erscheinen.

Vor Jahren hieß es noch, wir müssen aus der Geschichte lernen, um ein zweites Verhängnis zu verhüten. Heute heißt es, aus der Geschichte kann man nicht lernen. Lernen kann der Mensch ohnehin nicht. Zur Demonstration der Lernunfähigkeit wurde rechtzeitig ein uralter theologischer Begriff aus dem Hut gezaubert, der die Lernunfähigkeit des Menschen in einem Wort zusammenfasst: das Böse.

Die Ursachen der NS-Herrschaft können weder ergründet, verstanden, noch erklärt werden. Unserem aufgeklärten Verstand sind solche Phänomene nicht zugänglich, wir stehen vor dem Geheimnis des radikalen Bösen. Jederzeit und überall kann das Böse auftreten. Selbst, wenn es keine Juden gäbe, gäbe es noch immer Antisemitismus, schrieb der exzellenteste Antisemitismus-Experte dieses Landes mit weitreichendem Einfluss bis nach Amerika in das SWC.

Deutschland erzeugt immer mehr ein Gesamtklima, das jenem am Ende des 19. Jahrhunderts ähnelt, als der moderne Antisemitismus, runderneuert durch rassistische Gedanken, die Köpfe der Deutschen benebelte. Die Deutschen fühlten sich als das wahre auserwählte Volk, welches das ursprünglich auserwählte Volk beiseite schieben und vernichten musste.

In allen christlichen Nationen gibt es die Vorstellung, das wahre auserwählte Volk zu sein. Bei den gedemütigten, überehrgeizigen Deutschen wuchs die Rivalität bis zum Vernichtungswahn. Die Vernichtungspolitik des Jüngsten Gerichts wollten sie als getreue Jünger der Vorsehung vorweg nehmen.

Die Reeducation der Deutschen, die Bearbeitung ihrer Völkerverbrechen war von Anfang an auf zeitliche Reduktion möglicher Ursachen aus. Nicht die gesamte Geschichte der ach so moralischen, gebildeten Nation sollte vom Virus verseucht gewesen sein.

Die Entwicklung des Antisemitismus quer durch die abendländische Geschichte wurde vom Hauptstrom der deutschen Historiker ausgeblendet. Nur eine kleine Clique zynischer Eliten unter der Regie eines österreichischen Dämons sollte die arglosen Deutschen durch geniale Goebbelswerbung zum Unheil verführt haben.

Als Daniel Goldhagen an die lange Tradition des Judenhasses erinnerte, wurde er hier von der gesamten intellektuellen Schicht abgelehnt. Ähnliche Thesen von Friedrich Heer aus früheren Jahren („Der Glaube des Adolf Hitler“) waren von Rudolf Augstein längst entsorgt worden. Man hatte etwas von dem „Judenproblem“ verstanden, wenn man die Anzahl der KZs aufzählen konnte.

Das Christentum als Ursache des Antisemitismus wurde so schnell wie möglich vom Tisch geräumt. Protestanten und Katholiken deuteten die schlimmsten Stellen des Neuen Testaments um, man formulierte einige Stellungnahmen mit Mea culpa, besuchte als Papst eine Synagoge und schon war der Frieden hergestellt. In den Schulen, an den Unis wurde der christliche Bildungsgang der NS-Deutschen verleugnet.

Die verhängnisvolle Rolle beider Konfessionen wurde – nicht zuletzt mit Hilfe der christlichen Amerikaner, die auf ihren Glauben keinen Schatten fallen lassen wollten – rigide ausgeblendet. Schon in der 68er-Bewegung spielte das Credo zur Vergangenheitserforschung kaum noch eine Rolle.

In einer Meisterleistung zelebrierter Weißwaschung hatte sich der Klerus in eine Widerstandsbewegung gegen die Schergen transsubstantiiert. Dass Hitler, Goebbels & Co exekutierende Eschatologen und Apokalyptiker waren, weiß heute niemand.

Ähnlich wie Uri Avnery von einer Gehirnwäsche in Israel spricht, gab es auch bei uns eine grandiose Gehirnwäsche, was die verhängnisvolle Rolle der hiesigen Lieblingsreligion betrifft. Noch nie hatten die Kirchen Probleme, mit Blut an ihren Händen umzugehen: Beichte, Buße und Gott vergibt alles. Sündige tapfer, nur glaube. Durch regelmäßige himmlische Intervention bleibt an den Kirchen kein Stäubchen Schuld hängen. An ihnen tropft alles ab.

Es ist nicht so, dass nicht viel guter Wille vorhanden gewesen wäre – besonders bei der revolutionären Jugend –, um die Geschichte der Deutschen von vorne zu beginnen und das Schreckliche durch Verstehen unwiederholbar zu machen. Doch gegen die Raffinesse der sich dauerhäutenden Gottesmänner kamen die 68er nicht an.

Als die Revolution gescheitert war – die sich im übrigen auch apokryph christlich verstand –, gab es kaum noch Widerstände gegen die neue Koalition zweier uralter Partner: von Thron und Altar, von Staat und halbstaatlicher Ökumene. Der strenge Laizismus wurde als französische Gottlosigkeit verdammt, die Kirchen waren im Allerheiligsten des Staatsbetriebes angekommen.

Heute gibt’s nur noch Pastoren als Bundespräsidenten-Kandidaten. Die Nachfolgerin von Gauck steht schon fest, sie ist Pastorin bei den Grünen. Dann kam der neoliberale Tsunami und schwemmte alle Vergangenheit endgültig in den Orkus. Das Alte war Schrott von gestern, alle schauten unisono in die neue Heilszeit: in die Zukunft.

Nicht die Deutschen waren es, die einen Schlussstrich zogen, es war die geballte Wirtschaftskraft des Neocalvinismus, der sich an das jesajanische Gebot hielt: „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues.“ ( Altes Testament > Jesaja 43,18 f / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“>43,18 f)

Historische Erlösungsreligionen haben‘s nicht so mit Wundertaten des Herrn in der Vergangenheit. Fast nichts von den herrlichen Taten hat sich tatsächlich ereignet. Beweise gibt es weder von Mose, noch vom Auszug aus Ägypten. Ob es einen Jesus gegeben hat, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Und wenn doch, bestimmt nicht als gestorbener und wiederauferstandener Christus. An die ganze Heilsgeschichte muss man glauben.

Die Frommen wollen nicht, dass es ihnen wie Lots Frau ergeht, die zurückschaute und zur Salzsäule erstarrte. Das Thema Vergangenheit ist unter dem radikalen Bösen und den Flutwellen der Ökonomen erstickt. Inzwischen glauben die Deutschen, dass sie die Vergangenheit im Griff hätten. Seitdem sie für alle Opfergruppen ihre Gedenkmonumente errichtet haben, ist das Thema durch.

Mit anderen Worten, die Vergangenheit dringt ihnen aus allen Poren, aber sie merken nichts. Die Gebildeten können sich durchmogeln, die „Dumpfbacken“ fühlen die Widersprüche und Lücken der Aufklärung am meisten und protestieren gegen die staatliche Heuchelei durch „krude“ und brutale Nachahmungstaten.

Müssen die Deutschen noch immer auf Antisemitismus achten? Wären sie heute nicht im Verbund der europäischen Nachbarn, sie wären vermutlich schon wieder auf einem Sonderweg ins Verderben. Den Deutschen kann man nicht übern Weg trauen. Schon gar nicht jenen, die – wie die gesamte Springerpresse – sich mit Philosemitismus hervortun. Wenn Moshe Zuckermann Recht hat, sind die meisten Philosemiten verkappte Antisemiten. Sie wissen nicht, was in ihnen lauert. Mit besten Absichten wollen sie den Opfern Gutes tun, indem sie ihren Nachbarn besonders eifrig als heimlichen Antisemiten zur Strecke bringen.

Während man jede Kritik am Staate Israel als Antisemitismus denunziert, werden die wahren Quellen des Antisemitismus verleugnet und verdrängt. Wenn Merkel das bevorstehende Lutherjahr einläutet, das mit Wucht und Pomp über die Bühne gehen wird, wird ihr von den Antisemitismus-Überprüfungszentralen ein Blankoscheck über den größten und verhängnisvollsten Vorläufer des NS-Verbrechens ausgestellt. Man seiht Mücken und schluckt Elefanten.

Während ein Gedicht verdammt wird, beginnen die Evangelen wieder mit der Judenmission, hat Papst Benedikt den Gebrauch der hasstriefenden Formeln von den perfiden Juden in der Kirche erneut erlaubt. Die Versöhnungsformeln werden heimlich, still und leise entsorgt.

Die vorbildlichen Zeiten der Annäherung sind lange vorbei, die Kirchen agitieren immer mehr gegeneinander, aber zusammen gegen die unerwünschten Gottesmörder. Je mächtiger die Kirchen werden – nicht an der Basis, sondern bei den Obrigkeiten –, je mehr verschärfen sich die Tendenzen zu partikularen Unfehlbarkeiten.

Der Antisemitismus ist ein Gefühl. Jeder hat ein anderes Gefühl. Mit solch schwankenden Gestalten soll ein brisantes Problem gelöst werden. Das Gefühl variiert von Tag zu Tag, von Person zu Person und hängt von vielen zufälligen Imponderabilien ab. Je abschüssiger der Kurs Israels, je mehr Antisemitismus entdecken die selbsternannten Wächter, die schon im Vorfeld alle Kritik von Eretz Israel abhalten wollen.

Täter haben kein Gefühl für Antisemitismus. Und wenn doch, sagen sie es nicht. Nur Opfer haben das unfehlbare Feeling für potentielle Täter. Als seien sie nicht traumatisiert, als hätten sie keine verzerrten Wahrnehmungen. Es herrscht ein unüberbrückbares Wahrnehmungsgefälle. Deutsche Journalisten fragen immer nur Juden, ob Fall x ein antisemitischer Fall wäre.

Obgleich Deutsche ihre Lektion gelernt haben wollen, sind sie in dieser Frage völlig inkompetent. Mitten in einer Demokratie müssen sie vor jeder Kritik anfragen, ob sie Kritik an Israel üben dürfen. Natürlich dürfen sie – solange dieselbe nicht in Kritik ausartet und von zuständigen Kritik-Überprüfungs-Experten vorher abgesegnet wurde.

Gründe werden so gut wie nie angegeben, wenn ein Fachmann antisemitische Elemente erschnüffelt haben will. Es ist, wie‘s ist. Man muss dran glauben.

Die empirischen Fragen zur quantitativen Erhebung der jährlichen Antisemitismus-Quote – so gut wie immer 20 bis 25% – sind erbarmungswürdig. Dementsprechend das wissenschaftliche Niveau der Antisemitismus-Forschung. Jede Wetterprognose ist valider als die Sammlung von dämlichen Klischees, die dazu dienen sollen, jüdische Klischees zu erforschen.

Ob Israel zu mächtig sei, wird beispielsweise gefragt. Als ob man noch immer nicht wissen dürfe, wie stark die Judenlobby in Washington sei. Hat nicht Sharon persönlich gesagt: Wir regieren Amerika?

Wenn Juden dasselbe sagen wie Gojim, ist es nicht das Gleiche. Wenn Gojim von den Juden sprechen, ist es antisemitische Klischeebildung; wenn Juden von sich als Juden sprechen, ist alles im grünen Bereich. Es herrscht durchgängig das Gesetz der doppelten Rede und des doppelten Standards. Die Wahrheit der Rede hängt vor allem davon ab, ob man zur Täter- oder zur Opfergruppe gehört.

Es herrscht das Gesetz der unfehlbaren Fehlleistung. Eine Fehlleistung – und der Schreiber hat sein verborgenes höllisches Innenleben entlarvt. Da könnte ein Günter Grass sein ganzes Hab und Gut in Israel gestiftet haben: eine hitzige Bemerkung, ein unbedachtes Wort und er hat sich für immer in seinem besonders bösartigen, weil bislang so versteckten, Judenhass entlarvt.

Kinder, Besoffene und Fehlleistende sagen immer die Wahrheit. Einmal wütend die Juden beschimpft wie man seine Ehefrau beschimpft und du trägst das Kainszeichen auf der Stirn.

Wenn Antisemitismus daran zu erkennen ist, dass er die jüdische Gemeinschaft und das Volk Israel schädigt, müssten zuallererst die Netanjahu-Regierung und die Ultras als Antisemiten gelten – und jene, die die Machenschaften dieser Fanatiker verteidigen, indem sie die Kritiker derselben als Antisemiten diffamieren.

Wer hat das Image des Staates in der Welt am meisten ruiniert? Waren es die selbstkritischen „Selbsthasser“, die mit Leidenschaft um ihr Land kämpfen? Oder waren es jene wirklichen Selbsthasser, die nichts unterlassen, damit immer mehr Menschen auf der Welt ihren Staat verachten? Nicht der ist koscher, der zuerst und am lautesten ruft: Ich bin koscher. Sondern der, der koscher ist.

Antisemitismus ist ein Gefühl. So vage und nichtssagend, dass ohne handfeste Gründe keine praktikablen, politischen Aussagen darauf gegründet werden können. Schon gar nicht im penetranten Modus der Unfehlbarkeit. Gefühle hat jeder. Jeder könnte sich für irrtumslos erklären. Wohin bloße Gefühle im Modus der Unfehlbarkeit führen, hat Hegel mit präzisen Worten dargelegt:

„Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle – mit andern Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit andern zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtseine. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.“