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Neubeginns XCVII

Hello, Freunde des Neubeginns XCVII,

„Müsst ihr immer so schlechte Stimmung machen mit diesen Menschenrechten?“

Zitat der gesamten neoliberalen Gegenaufklärungs-Epoche. Formuliert von einem flotten geschäftsführenden SPD-Außenminister, der den Gerechtigkeits-Wahlkampf seines Genossen Schulz nachträglich in Stücke schlägt. Nachträglich, um seinen Genossen, der übers Wasser gegangen war, eben dort zu versenken. Prophylaktisch, um sich seine Lieblingsposition zur Rechten der Mutter frühzeitig zu sichern. Wetten, es wird ihm gelingen?

Gabriel war gefragt worden, warum Deutschland keinen härteren Kurs mit Ländern fährt, in denen Menschenrechte verletzt werden? Das Zitat in voller Länge:

«Weil wir nicht nur Werte, sondern auch Interessen haben», auch wirtschaftliche, blafft Gabriel in seltener Klarheit zurück – fügt aber hinzu, „andere Länder“ würden hinter verschlossenen Türen bereits klagen: «Müsst ihr unbedingt immer so schlechte Stimmung machen mit diesen Menschenrechten?»“ (SPIEGEL.de)

Die BILD-Version des Zitates:

Was mich total nervt an der deutschen Debatte, ist, dass wir immer mit dem hohen Ton der moralischen Werte kommen und verschweigen, dass wir Interessen haben. Und das Interesse lautet: Wir wollen zu manchen Ländern Wirtschaftsbeziehungen haben.Was sind wir für ein glückliches Land! Relativ geringe Arbeitslosigkeit, steigende Renten, steigende Löhne, Haushaltsüberschüsse, und unsere größte Sorge ist, ob die Kabarettisten genügend Stoff haben für das nächste Jahr.“ (BILD.de)

Deutschland, so Gabriel rückblickend, habe nicht über Gerechtigkeit nachgedacht, sondern über Stabilität. Demnach müsste Gerechtigkeit so viel wie

Instabilität sein?

Wer Gerechtigkeit will, will die Zerstörung der „Staatsordnung“, wie Edmund, Sigmars Freund, in Dampfsprech beisteuerte? Die GroKo hatte wieder zueinander gefunden. Die schreckliche, die kaiserlose Zeit, war vorüber. Das Land atmete erleichtert auf. Deutsche ertragen es nicht, nicht regiert zu werden. Besser, falsch regiert zu werden, als gar nicht – lautet das Motto einer 500 Jahre lang lutherisch dressierten Untertanen-Herde.

Noch vor einer Woche war es nur eine Minderheit, die die Fortsetzung der alten Verhältnisse gewünscht hatte. Doch kurz vor dem Weihnachtsfest, dem liebsten aller heidnischen Feste, die vom Christentum gekapert wurden, ertragen sie es nicht länger, ohne Segen von Oben zu singen:

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Alles schläft. Einsam wacht
Nur das traute GroKo- Paar.

Moral nervt. Alles nervt. Damit ist die Linke endgültig begraben. Schlafet ein, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Elend zwingt. Zwingt? Nein, zwang. Potzblitz, es gibt keine Verdammten mehr. Sind wir denn nicht ein glückliches Land? Ein glückliches Land braucht keine Veränderung – außer der Digitalisierung, der Vernichtung aller traditionellen Arbeitsplätze und dem Begräbnis aller nervenden Moral.

Bei den Edelschreibern, den Wächtern der Amoral, macht sich ein neuer Ton bemerkbar. Alles nervt sie. All dieses Herummäkeln, diese Undankbarkeit, dieses ewige Besserwissen und Herumdoktern – es reicht ihnen. Sie wollen nicht mehr, sie können es nicht mehr hören. Schluss mit allem, was sich dem Glück der Deutschen entgegenstellt. Schluss mit dem Moralgedöns. Schluss mit der sozialen Hypertrophie. Schluss mit Gerechtigkeit und Wahrheit. Es gibt nichts zu verändern.

Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Und siehe, sie sind sehr gut. Nein, wir müssen nicht perfektionieren, was wirklich ist. Jede Verbesserung wäre eine Verschlimmbesserung. Das Wirkliche ist gut. Schluss mit Moral, die sich einbildet, besser zu sein, indem sie das Wirkliche schlecht macht.

Wir gehen glänzenden Zeiten, wir gehen – Trump‘schen Verhältnissen entgegen. Richtig gehört. Trump verschwendet keine Zeit mit moralischen Verrenkungen, mit Höflichkeitsfloskeln und politisch korrekten Phrasen. Was immer ist, es darf nicht mies gemacht werden, indem man alles besser machen will. Was immer ist, es könnte nicht sein, wenn es keinem höheren Willen entspräche. Und also ist es gut. Muss es gut sein.

Die Debatten, die ohnehin nur noch dahin gedümpelt waren, machen sich kenntlich: es reicht. Wer sich nicht anpasst, wer sich weigert, glücklich zu sein: zum Teufel mit diesen Neidhämmeln und Nervensägen.

Das neue Glück paart sich mit neuer Ehrlichkeit. Wer Erfolg hat, muss keinen Bückling mehr machen, als sei er ein moralischer Versager, weil er ein wirtschaftlicher Tycoon ist. Hört genau zu, ihr Nervensägen: Leistung ist Moral, Erfolg ist Moral, Glück ist Moral. Noch Fragen, ihr Missgeburten der Evolution? Ab jetzt sprechen wir Klartext. Wir lassen uns von moralinsauren Gouvernanten nicht mehr die Stimmung vermiesen.

Zeiten des Niedergangs sind Zeiten der Ehrlichkeit. Man hat keine Energie mehr übrig für den schönen Schein. Wenn Ellenbogen ausgefahren werden, kommt die Exhibition.

Für Ibsens Baumeister Solneß – aus den Zeiten des europäischen Nihilismus – ist das robuste Gewissen die „Befreiung von jeder moralischen Bedenklichkeit“. Hätte man ein von Gesundheit strotzendes Gewissen, würde man sich trauen, was man am liebsten möchte. „Ja, sehen Sie,“ sagte Solneß, „die Kerle (die Wikinger) hatten ein robustes Gewissen, wenn die wieder heimkamen, konnten sie fressen und saufen, als wenn nichts geschehen wäre, und lustig wie Kinder waren sie auch noch.“ Nannten sie Trump nicht vor kurzem noch ein Kind?

„Ein Abscheu vor allem Entsagen und Verzichten, vor jeder Verkrüppelung der Persönlichkeit, ein Protest gegen jede Moralknechtschaft, die aus lauter Rücksicht auf andere nie zu einem eigenen Willen kommt, aber auch eine schrankenlose Brunst nach Ausleben der eigenen Persönlichkeit, ein Schrei nach Sinnenglück klingt hemmungslos hindurch“, urteilt ein Ibsenkenner.

Der wirtschaftliche Aufschwung des späten 19. Jahrhunderts, verkoppelt mit nihilistischer Verdüsterung und Abwerfen aller Moral: das ist die historische Vorlage, die wir ein gutes Jahrhundert später wiederholen.

Nietzsche erklärte den moralischen Verfall zur siegreichen Signatur seines Zeitalters. Der Wille zur Macht war seine neue amoralische Moral.

„Es gibt keine moralischen Phänomene, es gibt nur moralische Erklärungen für Phänomene. Ein Tier, das sprechen könnte, würde sagen: Die Menschlichkeit ist ein Vorurteil, worunter wir Tiere nicht leiden. Die „Humanisierung“ der Welt bedeutet, dass wir uns darin immer mehr wie Herren fühlen. Wir müssen sowohl grausam wie mitleidig sein. Lass uns niemals ärmer als die Natur werden.“

Trump befindet sich jenseits aller moralischen Bewertungen. Er ist ein freier Christenmensch und keiner irdischen Moral untertan. Karl Lagerfeld rühmte sich, schon immer jenseits von Gut und Böse gewesen zu sein. Ob er Nietzsche verstanden hat, darf bezweifelt werden. Dass dessen Formel aber eine solche Faszination ausübt, kann nur bedeuten: weg mit Gut und Böse. Wir sind immer gut, ob gut oder böse.

„Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.“ Für die Dämonen Dostojewskis ist der Unterschied von Gut und Böse eine Illusion. Der Niedergang lässt alles zusammenstürzen, das Politische wie das Moralische.

Was war geschehen? Der Einfluss des Christentums war zurückgegangen. Die Philosophien des Idealismus, die als Ausdruck christlichen Denkens galten, versanken in Bedeutungslosigkeit. Der aufkommende Materialismus bekämpfte die Moral.

Marx betete das Naturgesetz der Geschichte an, das durch keine Moral verändert werden könne. „Auch die revolutionäre Bewegung kann sich kein willkürlich-moralisches Ziel setzen, sondern entsteht mit Notwendigkeit aus den gegebenen Zuständen und wird zu einem unvermeidlichen Ziel getrieben. Dieses Ziel der Geschichte wird durch keinen bewussten Willen erreicht, sondern nur in Gehorsam gegen die Notwendigkeit der Natur.“ Das Bewusstsein, die Moral, wird vom amoralischen Sein determiniert. „Die Gesetze, die Moral, die Religion sind ebenso viele Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.“ (Marx)

Gabriel hat den urmarxistischen Kern seines „Linksseins“ freigelegt, wenn er offiziell der Moral den Laufpass gibt und das Hohelied der Interessen anstimmt. Seine Interessen aber sind urkapitalistisch und das Gegenteil des revolutionären Proletenkampfes. Womit der Kern des SPD-Elends freigelegt wäre.

Der Kern ist ein Komplex aus Widersprüchen. Einerseits eine Aversion gegen eine durchgreifende politische Moral, bei gleichzeitigem Predigen moralischer Standardziele. Dennoch kein Interesse an wirklicher Gerechtigkeit, sondern an knallharten Profitinteressen. Die Ablehnung jeglicher Veränderung durch Moral ist identisch mit einer unbewussten Ablehnung der Demokratie. Denn demokratisches Handeln ist Übersetzung der Moral in Politik.

Der ideologische Kern der SPD ist polymorph pervers. Sie tun, was sie nicht richtig finden, sie finden richtig, was sie bislang nicht auszusprechen wagten. Jetzt erst – ermuntert von Trumps Bosheiten – wagen sie es, mit ihrer versteckten Wahrheit rauszurücken. Und die lautet: zum Teufel mit eurer Spießermoral. Auch wir sind Deutsche, und als solche gehören wir zu den Herren der Welt. Weltherren aber haben Interessen.

Gabriel formulierte dies vorläufig nur für den Export, für den Handel mit anderen Nationen. Innenpolitisch wird Gabriel sich hüten, die Ladenhüter ihrer sozialen Talmipolitik – Rente, Mindestlohn etc. – über Bord zu werfen mit den Worten: Schluss mit der Sozialheuchelei. Wer dem Staat auf der Tasche liegt, der ist selbst schuld.

Moment mal. Hatte Gabriel nicht einen hannoveranischen Herrn und Meister, der eben dies in Gesetzesform goss, das bis heute das soziale Klima der Nation vergiftet? Schröder war es, der alle Schuld am kranken Mann aus Deutschland den „Schmarotzern“ in die Schuhe schob. Die SPD machte sich „ehrlich“, indem sie sich auf die Seite der Interessen schlug. Nicht auf die Interessen der Gerechtigkeit und Moral, sondern des siegreichen Kampfes gegen die weltweite Konkurrenz. Die einfältige Basis glaubt noch immer, ihre Partei müsse die Gerechtigkeitsvorstellungen von Lieschen Müller realisieren, während die Parteieliten längst zum ökonomischen Machiavellismus übergelaufen sind.

Als Schulz die Gerechtigkeit zum Fetisch seiner Wahlkampagne wählte, strömten viele Jugendliche in seine Partei. Naiv glaubten sie: endlich kommt ein Genosse, der es ehrlich mit der Gerechtigkeit meint. Denkste. Die Bevölkerung spürte die Unaufrichtigkeit der Parolen, die als bloße Wahlverführer missbraucht wurden.

Das doofe Volk spürt, wann es geködert werden soll. Dies hasst es wie die Pest, auch wenn die Köder jenen ähneln, die sie verführen könnten. Das Volk will nicht geködert werden, auch nicht mit seinen eigenen Herzenswünschen. Es will hören, was die Parteien für wahr und richtig halten, unabhängig von jeder Chance, mit diesem Wahren und Richtigen Punkte zu machen. Oder anders: das Volk glaubt noch an Wahrheiten. Es will hören und selbst beurteilen, was die Parteien auf dem Marktplatz anzubieten haben.

Was geschieht stattdessen? Die Parteien und ihre demoskopischen Gurus vertrauen Umfragen, die die angeblichen Wünsche des Volkes ans Licht bringen. Bei den Grünen nicht anders, die nicht mehr mit erhobenem Zeigefinger den Menschen etwas abverlangen wollen, sondern nur das versprechen, was das Volk für richtig und angemessen hält.

Sagt uns, so die Parteien, was ihr begehrt – und wir versprechen, dass wir es zu unserem Regierungsprogramm machen. Was das Wohlbefinden ihrer Klientel beeinträchtigen könnte, wird gestrichen. Und wäre es noch so notwendig, um das Klima zu retten. Maßloses Herumfliegen in alle Länder dieser Welt wird nicht besteuert, Kohlekraftwerke werden nicht still gelegt. Die Grünen waren die ersten, die beim Kompromisse schließen solche Forderungen ad acta legten, um ihre staatsmännische Kompromissfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Die CDU fällt nicht unter die Kategorie der Volksbetrüger durch scheinbares Eingehen auf die Wünsche des Volkes. Sie will nichts, als was ohnehin geschieht. Sie will nichts verändern. Also muss sie dem Volk nicht ins Herz kriechen, um dessen Bedürfnisse zu erforschen. Was die CDU will, kann jeder wissen, der die Verhältnisse genau beobachtet.

Was aber Reformparteien wollen, muss von diesen begründet werden, damit die Wähler es verstehen und bewerten könnten. Genau dies geschieht nicht. Die SPD verleiht sich einen jungfräulichen Status und verspricht nur, was sie glaubt, versprechen zu müssen, weil das Volk es im Innersten so wollte. So betrügt sie das Volk. Sie spielt nicht mit offenen Karten, sagt nicht unmissverständlich, was sie durch eigenes Nachdenken für richtig hält. Entweder hält sie nichts mehr für richtig, weil auch sie sich von der postmodernen Wahrheitsleugnung anstecken ließ. Oder sie hält etwas für richtig, traut sich aber nicht, sich mit dem Richtigen in den Clinch zu begeben.

Ja, früher, als wir jung und naiv waren, glaubten wir alle noch an Gerechtigkeit. Jetzt aber sind wir ins Straucheln gekommen. Mit unseren Ladenhütern von gestern wollen wir euch nicht mehr auf den Wecker fallen. Teilt uns mit, welche Interessen ihr habt und wir werden alles unternehmen, um sie zu erfüllen.

Das Urteilsvermögen des Volkes wird betrogen, seine rationale Bewertungskompetenz ignoriert. Es wird manipuliert, motiviert, konditioniert oder – um das neue Modewort zu benutzen – es wird genudgt. Die Parteien appellieren nicht an die Ratio des Volkes, sondern an seine subkutanen Bedürfnisse, die mit dem Begriff „Interessen“ salonfähig gemacht werden sollen. Der unterschwellige Dialog zwischen Partei und Volk verläuft etwa so:

Partei: wir wissen, dass ihr Gerechtigkeit wollt. Gerechtigkeit aber ist für alle Menschen da, auch für Flüchtlinge, Parasiten und Faulpelze. Gerechtigkeit für viele bedeutet, euer Anteil am Gesamttopf schrumpft. Also Hand aufs Herz: wollt ihr noch immer Gerechtigkeit – oder wollt ihr nicht lieber höhere Tariflöhne, Renten und alles, was nur Euch zugute kommt?

Das Volk (wenn es sprechen könnte, was in seinem Innern vorgeht): Ihr dummen Hinterlistigen. Für wie schlau haltet ihr euch eigentlich? Ihr tut, als ob ihr unser Bestes wolltet. Doch dieses Beste legt ihr nicht unserem Verstand zur Beurteilung vor, sondern unserem emotionalen, egoistischen Interesse. Unsere moralische Vernunft will Gerechtigkeit für alle. Ihr aber spielt mit unserer Schwäche, unserer allzu menschlichen Eigensucht.

Das Volk will, dass sein erwachsenes Ich angesprochen wird. Stattdessen wird sein infantiles Es gereizt. Mit welchem Ergebnis? Hängt von seiner schwankenden psychischen Verfassung ab, die wiederum von vielen Faktoren abhängt. Wirtschaftliche Verhältnisse allein sind es nicht, die das Innenleben der Menschen prägen.

Die überzeugtesten Kapitalisten entpuppen sich als bewusstseinslose Marxisten. Auch für sie gilt: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Woher die AfD, die Shitstorms, der Rechtsruck, die Zunahme der Verbrechen, der wachsende Hass in der Gesellschaft? Weil es ökonomische Verlierer gibt. Selten kommen Zweifel an diesem Vulgärmarxismus hoch. Warum wurde X ein Verbrecher? Gewiss, er kommt aus einem wirtschaftlich heruntergekommenen Milieu. Kann das aber eine sinnvolle Erklärung sein, wenn es doch andere gibt, die demselben Milieu entstammen – und nicht kriminell wurden?

Solche Reflexionen dienen nur dazu, den Angeklagten – der sich mit schwerer Kindheit „herausredet“ – erst recht zu demontieren. Der Trend der Wohlstandsapologeten geht immer mehr in die Richtung: wer sich daneben benimmt, auffällig wird, von der Norm abweicht, wer die Gesellschaft der Guten und Erfolgreichen angreift, der hat keine Entschuldigung. Jeder Versuch, ein Fehlverhalten zu erklären, ist ein mieser Versuch, seine Schuld an andere weiterzugeben. An eine unglückliche Kindheit, an schlechte Eltern, an fehlendes Taschengeld oder an sonstige Lappalien.

Nein, das Böse ist unerklärbar – sonst wäre es ja nicht böse, sondern das Produkt einer Gesellschaft, die ihre Schattenseiten verleugnet. Die Guten und Erfolgreichen wollen auch die moralisch Besten sein – obgleich sie von der Moral nichts wissen wollen. Jeder Böse darf nicht aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Sonst wäre ja die Gesellschaft am Bösen schuld, das wäre pervers.

Während Eliten mit gigantischen Finanzspekulationen die Welt betrügen, gibt es so gut wie keine Erforschung der Ursachen. Oben walten Naturgesetze, aber keine Menschen, die man schuldig sprechen könnte. Merkel kann ihre Meinung zweimal in der Woche ändern – alles bestens. Kein Grund, sie der Inkompetenz anzuklagen oder für das Elend der Griechen verantwortlich zu halten.

Verantwortung übernehmen heißt inzwischen: Ja, ich war dabei, aber ich bin mir keiner Schuld bewusst. Hochkomplexe Vorgänge können mit moralischer Kannegießerei nicht erfasst werden. Ich übernehme die Verantwortung – und mache weiter wie bisher. Soll ich mich etwa zum Täter machen, wo ich selbst ein Opfer war?

Der Dialog zwischen dem Es des Volkes und dem Möchtegern-Ich der Parteien verläuft unterhalb der Schwelle des Bewusstseins. Dies ist der Grund, warum die Veränderungs-Parteien im Dunkeln tappen und das Volk nicht artikulieren kann, von welchen Gedanken und Gefühlen es bewegt wird. Die Wahl des Volkes schwankt zwischen Ärger, weil es sich nicht ernstgenommen fühlt – und Mitleid mit neunmalklugen Parteienschwätzern, die töricht im Regen stehen.

Als im 19. Jahrhundert die Macht der christlichen Dogmen schwand, verloren die Menschen zugleich ihren Glauben an die Moral. Eine neue Moral aber fanden sie nicht. Der neue Materialismus verhöhnte die Moral. Die Moral der Aufklärer hatte das Volk nie erreicht, war zudem durch die romantische Gegenaufklärung zerschlagen worden. Die wenigen Neukantianer waren Gelehrte, die keine Verbindung zum Volk hatten.

Die Kenntnis der autonomen griechischen Ethik hatte es selbst bei graecomanen Gebildeten nicht gegeben. Die Verklärung des Griechischen blieb eine ästhetische Bewunderung des Schönen. Selbst Goethe und Schiller nahmen von der Athener Demokratie keine Notiz. Die Gewässer des Christentums flossen ab und hinterließen nichts als stinkenden Schlick. Die von allen frommen Geistern verlassenen Deutschen hatten die moralische Orientierung verloren.

Es kam, wie es kommen musste. Wer seine Moral verliert und kein Lichtlein am Horizont erblickt, dem bleibt nichts übrig als überzulaufen zu radikalen Antimoralisten wie Stirner und Nietzsche. Gab es denn je eine echte Moral? Leiden wir unter Entzugserscheinungen, weil wir an den Schein einer Moral glaubten, die in Wirklichkeit nie existierte? Schon möglich, dass Christus eine vollkommene Moral forderte. Welcher Mensch aber kann vollkommen sein? Was nützt eine Moral, die alle Menschen überfordert?

Sinnvoller ist es, uns von aller Moral zu verabschieden und uns zur realistischen Meinung durchzuringen: es gibt nur eine Moral auf der Welt, und das ist die Amoral. Darwin, Marx, Nietzsche, Biologen, Völkerkundler und Mediziner: stimmen sie nicht alle überein, dass nicht Moral die Welt beherrscht, sondern der ewige Kampf, die Konkurrenz, die unerbittliche Auslese, in der nicht die Gutmütigen, sondern die Bedenkenlosen und Brutalen das Überlebensspiel gewinnen? Nehmen wir Abschied von der Moral und huldigen der skrupellosen Amoral.

An dieser Stelle schlug die Stunde der Rassisten, Chauvinisten und zukünftigen Faschisten. Macht statt Recht, Gewalt statt Moral, Imperialismus statt Verständigung, Krieg statt Toleranz. Der Erste Weltkrieg verschärfte den desolaten Pessimismus, der sich nach der Niederlage national berauschte und dem Dritten Reich den Weg bereitete.

Wenn man nicht mehr miteinander reden kann, muss man zuschlagen. Wenn man sich nur noch genervt fühlt, muss man die NATO stärken, die Waffenexporte erhöhen, die Gesetze verschärfen. Je weniger man argumentieren kann, desto wütender muss man werden.

Die Vollendung des deutschen Pessimismus war das Eingeständnis, „dass alle Moral etwas Unmögliches war.“ Das war die deutsche Tragödie: der Vernichtungskampf gegen die Moral erst machte die Amoral möglich.

Beim nationalen Genervt sein sind wir bereits angekommen.

 

Fortsetzung folgt.