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Neubeginn XXXIV

Hello, Freunde des Neubeginns XXXIV,

„Ihr nervt!“ Die Streitunfähigkeit eingeborener Demokraten kann nur noch durch die Strategie der Bedrohung überboten werden: „Wenn ihr weiterhin nervt, gibt’s eins aufs Maul (luth.), auf die Goschn (schwäb.), auf die Waffl (fränk.). Die WELT ist zum Organ von Ästheten geworden, denen das Gelabere (von „Lippe“) moralisierender Linker (von „linken“ = betrügen“) „tierisch auf die Eier geht“ (Eier = Hoden). Hodenlose Schreiberinnen müssen sich mit Geschlechtsgenossinnen plagen, die vor allem schlecht angezogen sind.

Ulf Poschardt hat den hohen Dandy-Ton vorgegeben und ordinäre Soll-Vernunft in deutsche Ist-Ästhetik erhoben. Dandys sind Lebewesen meist männlichen Geschlechts, die ihre Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit direkt bei Stürmern, Drängern und Romantikern abgeschaut haben. Mit Macaronis oder Stutzern darf man sie nicht verwechseln:

„Im Gegensatz zum Macaroni, der die Mode der südlichen Länder nachzuahmen versucht, zum Beau oder zum deutschen Pendant, dem Stutzer, verabscheut der britische Dandy alles Grelle, Laute, Parfümierte. Er ist gelegentlich ein Snob. Er kultiviert seine Kleidung, sein Auftreten, auch Witz und Bonmot. Die originelle, aber jederzeit passende, elegante Kleidung zum Sport (Zeitvertreib), kombiniert mit den formvollendeten Manieren eines Gentlemans, wird zum einzigen Lebenszweck erhoben. Die Niederungen anstrengender Erwerbsarbeit passen hingegen nicht zum großstädtischen, blasierten, echten Dandy“. (Wiki)

Wählbar sind für ihn nur ganze Kerle mit offenem Hemdkragen und freiem Blick auf eine braungebrannte Männerbrust – welcher Partei auch immer sie angehören. Selbst Grüne, wenn sie Habeck oder Liberale, wenn sie Lindner heißen und direkt von einem Männermagazin herabgestiegen sein könnten. Die Niederungen anstrengender Erwerbsarbeit werden in der WELT durch formvollendete Gentleman-Manieren

aufgefangen. Das Wort ist nicht übersetzbar. „Gentle“ heißt „liebenswürdig, gütig“, „man“ ist nach Heidegger die „Diktatur des Unauffälligen und Nichtfeststellbaren“. Können Diktatoren gütig sein? Doch halt, sind Widersprüche nicht das Lebenselixier aufstiegsorientierter Kraftlackl?

Hannah Lühmann muss eine Gentle-Woman sein, die einen ästhetischen Upper-cut gegen eine Stefanie Sargnagel („eigentlich Stefanie Sprengnagel“) aus dem Land des weltbesten Schmähs landet:

„Auf dem „Missy“-Foto schaut sie ausdruckslos in die Kamera, sie trägt eine Anzugjacke aus glänzendem, schwarzem Stoff und eine Krawatte aus demselben Material, ein weißes Hemd. Zwischen ihren Händen hält sie eine verspiegelte Sonnenbrille, als hätte sie sie nur kurz fürs Foto abgenommen. Mit ihrem Anzug, der aussieht, wie bei C&A geklaut, karikiert sie eine Al-Capone-hafte Art von Männlichkeit.“

Was hat Lühmann gegen Caroline Emcke, Margarete Stokowski und Stefanie Sargnagel? Sie gehen ihr auf die Nerven. Ja, warum denn nur, vertreten die Genannten nicht durchaus „vernünftige Positionen“?

„Man freut sich ja eigentlich, dass Leute „vernünftige“ Positionen vertreten und dass diese Positionen endlich im Mainstream angekommen sind. Darüber vergisst man, dass gerade linkes Denken, das sich selbst als progressiv und aufklärerisch begreift, eine intellektuelle Pflicht hat: sich jenseits eines Baukastens vordefinierter Begriffe infrage zu stellen, in Gefahr zu begeben.“ (WELT.de)

Um das Spitzenprodukt der deutschen Edelschreibekunst zu verstehen, müssen wir es machen wie die Pfennigfuchser: jeden Cent müssen wir zweimal umdrehen.

Und also lesen wir, vernünftige Positionen vertreten, hieße, im mainstream angekommen zu sein. Welch herrliche Botschaft. Die Mitte der Gesellschaft ist zur Vernunft gekommen. Endlich hat das Land der Reformation die Hure Vernunft zur ehrbaren Frau erhoben. Sind ehrbare Frauen noch erotisch, erotische Frauen unvernünftig? Wo bleibt Vernunft als Eros, als Inbegriff sinnlich-intellektueller Leidenschaft?

Wäre Deutschland vernünftig, was könnte linkes Denken dann noch wollen, welches „sich selbst als progressiv und aufklärerisch begreift“?

Progressiv kann technisch oder moralisch sein. Der gegenwärtige Progress setzt nur auf Fortschritt der Maschinen und hasst Gutmenschen, die sich einbilden, moralischer zu sein als hochintelligente Maschinen.

Es gäbe, so Lühmann, sehr wohl auch Fortschritte im Denken: weg vom Baukasten vordefinierter Begriffe und hin zum Revier der Gefahr.

Früher war Denken ein Mittel, um Wahrheit zu erkennen – ob sie gefährlich war oder nicht. Für Sokrates wurde sie gefährlich, aber nicht, weil sie selbst gefährlich war, sondern weil die Gesellschaft sie für gefährlich hielt. Wahrheit ist nie gefährlich, nur die Gewalt, mit der man sie verwirklichen will. Selbst für Platon war sie nicht ungefährlich. Denn der Diktator, mit dessen Hilfe er seinen idealen Staat realisieren wollte, verkaufte ihn pardauz an diverse Sklavenhändler. Hegels Wahrheit hingegen brachte ihn an die Spitze Berlins. Keine Besetzung eines Lehrstuhls in Preußen ohne sein Plazet.

Wahrheit ist nicht wahr, weil sie gefährlich, nicht falsch, weil sie ungefährlich ist. Wer in Revieren der Unwahrheit lebt – in Despotien, totalitären Systemen –, für den ist es stets eine Frage des Muts, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben. Wahrheit und Tyrannei vertragen sich nicht. Fragt euren Kollegen Deniz Yücel, was wirkliche Gefahr bedeutet, ihr Mainstream-Denker der WELT. In einem Rechtsstaat könnt ihr gefahrlos behaupten, was ihr wollt. So gefahrlos, dass ihr bereits mit virtuellen Gefahren spielen müsst, um euch nicht zu Tode zu langweilen.

Was hingegen ist ein Baukasten vorgefertigter Begriffe? Da könnte etwas Wahres dran sein, wenn an die Erziehung der Kinder gedacht wird. Kinder können sich ihre Begriffe nicht raussuchen, sie werden von vorgefertigten Begriffen ihrer Umgebung geprägt. Allerdings werden sie nicht umhin können, diese Begriffe sorgfältig zu untersuchen – wenn sie ihre erkenntnisgeleitete Vernunft benutzen wollen. Denken ohne Prüfung der Tradition ist Nachplappern dessen, was andere für vernünftig halten. Aufgeklärtes Denken ist immer autonomes Denken.

Die Philosophin Beate Rössler verwirft die kantische Form der Autonomie – weil sie die Menschen überfordere:

„Diese Vorstellung von Autonomie ist so hoch gegriffen, weil sie fordert, dass Menschen sich unabhängig machen sollen von individuellen, sozialen und kulturellen Umständen. Wer könnte dem schon genügen? An so einem hohen Anspruch würden doch sehr viele Menschen scheitern, nicht nur Burkaträgerinnen. Ich plädiere deshalb für eine Idee von Autonomie, die gerade nicht nur eine große allgemeine, ideale Regel aufstellt, die für jeden Einzelfall gelten soll. Stattdessen halte ich es für sinnvoller, Bedingungen und Einschränkungen gelebter Autonomie mitzudenken. Die Idee der Autonomie geht ursprünglich zurück auf Kant. Doch ist sein Autonomiebegriff, der Autonomie mit vernünftigem und moralischem Handeln gleichsetzt, nicht mehr überzeugend.“ (SPIEGEL.de)

Mit Verlaub, der Gedanke der Autonomie geht zurück auf die griechische Aufklärung, die von der modernen Aufklärung wiederbelebt wurde. Dass etwas zu hoch sei oder zu viel fordere, ist kein Argument gegen seine Wahrheit. Der Lernprozess der Menschheit ist lang und beschwerlich. Niemand weiß, wie weit sie es bringen wird. Ist die Forderung nach einer humanen Weltgesellschaft falsch, weil sie in Kürze nicht verwirklicht werden kann?

Niemand kommt als weiße Leinwand ins Denken. Jeder muss beginnen, wo das Geschick ihn hingeworfen hat. Will er zum Aufklärer werden, muss er seinen mitgebrachten Baukasten sichten und durch einsames Sinnen und dialogisches Streiten seine eigene Position suchen.

Wenn wir Hans Albert, dem Schüler Poppers, folgen wollen – oh, wir wollen –, müssen wir uns zugestehen, dass es nicht mal Urbegriffe gibt – jene, auf die wir alle Begriffe zurückführen können –, die sich selbst begründen könnten. Irgendwann strandet jeder an letzten Begriffen, die er für wahr hält und dennoch nicht weiter begründen kann.

Albert benutzt das Gleichnis von Münchhausen, der sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf zieht. Eben das ist Autonomie: wir ziehen uns selbst aus dem Dreck. Kein Gott, keine Geschichte, keine Evolution wird uns retten, wenn wir es selbst nicht tun.

Das unscheinbare Wörtchen „selbst“ ist das Geheimnis aller Autonomie (autos = selbst). Betrachtet man den Sprachgebrauch der Gegenwart, ist „selbst“ zum roten Tuch geworden. Selbst-zufrieden wurde zu „träge und unmotiviert“, selbst-gerecht zu „unfehlbar und intolerant“, selbst-gefällig muss auf eigenes Urteil verzichten und sich von fremden Autoritäten bewerten lassen, damit es sich fremd-gesteuert gefallen darf. Selbst-ernannt wurde zum Inbegriff der Hybris. Im deutschen Untertanenstaat ernennt man sich nicht selbst, man wird von Oben berufen.

Die Unhintergehbarkeit unserer basalen Begriffe kann man als Glauben bezeichnen, wenn wir ihn vom Glauben an einen unfehlbaren Gott streng unterscheiden, der uns vorschreibt, was wir zu tun und zu denken haben.

In diesem Sinn hat jeder seine „vorgefertigten“ Begriffe. Der Denker allerdings hat – wie das Kind beim Spiel – seine übernommenen Begriffe auseinandergenommen und in eigener Regie wieder zusammengesetzt. Seine Prägung hat er mit eigener Vernunft überprüft. Kam er zum Ergebnis, seine Prägung war im Kern richtig, wird er seine Erziehung rechtfertigen. Wenn nicht, muss er Revoluzzer, Reformer oder Gesellschaftskritiker werden.

Lühmann attackiert die politische Korrektheit der linken Feministinnen, ein Begriff, der zur inflationären Seuche geworden ist. Jeder, der sein Mütchen kühlen will, benutzt ihn als Allzweckwaffe. Politically correctness kam aus dem Amerikanischen:

„Mitte der 1980er Jahre wandten sich Studenten vor allem der University of California gegen Pflichtkurse zur westlichen Zivilisation (Western Civilization), in denen nach ihrer Auffassung die Werke „toter, weißer europäischer Männer“ („dead white European males“, gemeint waren vor allem Philosophen der Aufklärung) zu sehr im Vordergrund standen. Sie verlangten eine Ausweitung des Lehrstoffs auf weibliche und außereuropäische Autoren und schufen Sprachkodizes (Speech codes), die auf die Einbeziehung von Minderheiten abzielten. Mit der Ausweitung dieser Sprachregelungen gewann der ironisch verwendete Begriff politically correct an Bedeutung. Politikwissenschaftler beschreiben den abwertenden Gebrauch des Ausdruckes Political Correctness als eine der „Strategien“ der konservativen Verteidigung traditioneller Werte. „Political Correctness“ äußert sich hierbei als „vehement betriebene Diffamierungskampagne gegen die Liberals“. Die Konservativen „setzten damit eine Strategie der politischen Diffamierung aus den 80er Jahren direkt fort.“ (Wiki)

Auf Deutsch: der Begriff wurde von „hinterwäldlerischen“ gläubigen Studenten aufgebracht, um die gesamte Moderne zu bekämpfen, die sie für einen sittenlos aufgeklärten Sumpf, einen internationalen Antiamerikanismus und einen gottlosen Demokratismus hielten. Es war geschickt, von toten weißen Männern zu sprechen, um den Anschein der Rassenemanzipation in einem Land zu erwecken, in dem die schwarze Bevölkerung bis heute diskriminiert wird. Es war geschickt, den Schutz von Minderheiten zu fordern, um weibliche und rassische Minderheiten für sich zu gewinnen. Die Autoritäten der anderen mussten tot sein, weil sie den Erlöser, ihre eigene Autorität, als ewig jungen Gott verehrten.

Hier begann der Aufstand der dominanten weißen Mehrheit, die durch Zuwanderer selbst zur Minderheit zu werden drohte. Der Aufstand schwelte jahrzehntelang vor sich hin, bis er in der Wahl Trumps zum Ausbruch kam. Trump ist nur Nutznießer einer langen Bewegung: von der Herrschaft des weißen Mannes bis zu seiner Angst, zur bedeutungslosen Minderheit zu werden.

In seinem weltberühmten Buch vom Kampf der Kulturen hatte Huntington die Furcht des weißen Puritaners vor Überfremdung zum wichtigsten Faktor seiner Analyse gemacht. Immer mehr fühlten sich die weißen Christen vom Zustrom fremder Elemente in ihrer Identität bedroht. Also mussten sie sich von allen bedrohlichen Elementen abschließen, um ihre eigene Identität zu bewahren: „Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar.“ (Huntington)

Hier erkennt man den Kern der neuen Redewendung vom täglichen Sich-selbst-neu-erfinden. Das Neue ist das Uralte, das den Weißen als religiöse Machtgarantie dienen musste. Trump sagt nicht nur: Amerika zuerst, sondern: der puritanische weiße reiche Mann zuerst. Dann kommt lang lang nichts. Betrachtet man die Grundprinzipien des PNAC, einer erfolgreichen Denkfabrik der Neokonservativen, erkennt man schnell, dass Trump kein origineller Denker ist. Deren Leitideen sind:

  • „US-amerikanische Führerschaft ist sowohl gut für die Vereinigten Staaten von Amerika als auch für die ganze Welt.
  • Eine solche Führerschaft erfordert militärische Stärke, diplomatische Energie und Hingabe an moralische Prinzipien.
  • Eine multipolare Welt hat den Frieden nicht gesichert, sondern stets zu Kriegen geführt.
  • Die Regierung der Vereinigten Staaten soll Kapital schlagen aus ihrer technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit, um durch Einsatz aller Mittel einschließlich militärischer unangefochtene Überlegenheit zu erreichen.

Wenn Diplomatie scheitere, seien Militäraktionen ein akzeptables und nötiges Mittel. Das PNAC befürwortet die weltweite Errichtung dauerhafter eigener Militärstützpunkte, um die USA weitestgehend unangreifbar zu machen. Als „Weltpolizist“ (bzw. „Welt-Ordnungs-Hüter“) hätten die Vereinigten Staaten die Macht, in einer chaotischen hobbesianischen Welt für die Einhaltung von Recht und Gesetz gemäß den von den USA gesetzten Maßstäben zu sorgen wenn es sein muss, auch ohne Absprache mit oder Rücksichtnahme auf Verbündete und andere supranationale Organisationen, Verträge und sonstige Rechtsverbindlichkeiten (Unilateralismus). Darin sehen alle Kritiker einen klaren geschichtlichen Rückfall hinter die mühselig errungenen Fortschritte im Völkerrecht seit dem Westfälischen Frieden. Das PNAC und seine Mitglieder haben schon frühzeitig unter anderem die Kündigung des mit der Sowjetunion geschlossenen ABM-Vertrages gefordert.“ (Wiki)

Trump ist ein aufmerksamer und williger Schüler der Neokonservativen, die die Vormachtstellung Amerikas mit allen legalen und illegalen Methoden garantieren oder wieder herstellen wollen. Hier zeigt sich die Quelle der Diskriminierung der Sowjetunion, die Gorbatschows Friedenswerk als Niederlage schmähte und die Vision einer friedlichen Menschheit in Trümmer schlug. Obamas Degradierung Russlands zu einer bedeutungslosen Regionalmacht war eine Forderung des PNAC.

Politische Korrektheit wurde zum Inbegriff einer Welt, die in heidnischer Dreistigkeit vorbildlich sein wollte und die man deshalb vom Tisch wischen musste, um zur Vorherrschaft des gläubigen weißen Mannes zurückzukehren.

Lühmann greift Stokowski an, weil sie den Fehler beging, einen vagabundierenden Begriff zu klären. Die Beliebigkeit der deutschen Presse ist allergisch gegen Klarheit und scharfe Definitionen. An-archie heißt: ohne Gesetz. Das kann zweierlei Bedeutungen haben. Autonome Menschen, die Moral und Gesetz verinnerlicht haben, sind auf äußerliche Vorschriften nicht mehr angewiesen – das ist friedlicher Anarchismus. Neoliberalismus hingegen, der sich gegen gesetzlich-moralische „Fesseln“ des Staates wehrt, ist Gesetzlosigkeit der Starken, die der Welt ihre unkontrollierbare Macht auferlegen wollen. Bei solchen Begriffserklärungen sieht Lühmann rot und wettert gegen unerträgliche Besserwisserei:

„Es muss hier einmal ein Verdacht geäußert werden: Es geht eigentlich gar nicht darum, tatsächlich „Argumente gegen den Hass“ zu finden oder die G-20-Krawalle zu verstehen, sondern nur um eine freudige Selbstbespiegelung und die immer wieder begeistert signalisierte Tatsache, dass man Hannah Arendt, Bakunin und Judith Butler (je nach Anlass) so gut verstanden hat, dass man sie in allgemein verständlicher Erklärbärsprache wiedergeben kann: „Hier Leute, guckt mal, so weit sind wir doch eigentlich schon alle.“ Dieses Denken interessiert sich nicht für die Welt, es interessiert sich im Grunde genommen noch nicht einmal wirklich für sich selbst. Die mainstreamgewordene Avantgarde-Linke steht gleichsam am Gartengrill ihres eigenen Denkens. Und niemand bemerkt die Spießigkeit dieses Denkens, das sich selbst behindert, wo es sich doch dringend befreien müsste. Es geht nicht mehr ums Aushandeln von Positionen, sondern nur noch ums Besserwissen.“

Wir leben in einer Wissensgesellschaft? In einem durch gleiche Bildungschancen gerechten Staat?

Paradoxe Intervention ist der zynische Kern der deutschen Ideologie. Wisset alles besser als eure Konkurrenten, doch wehe, ihr wisset alles besser. Bildet euch, um alle Faulenzer und Ungebildeten zu überflügeln, doch wehe, ihr bildet euch ein, gebildeter zu sein als andere.

Die eigene Ignoranz und Verbohrtheit wird zum Kriterium immunisierter Führungsklassen, die sich alle Kritik verbeten, gegen die sie keine Argumente mehr finden können. Also wird der Streit um das bessere Argument auf den Kopf gestellt. Sieger im öffentlichen Streit der Meinungen ist der – Verlierer. Der Dumme ist der Kluge, der Nichtwissende der Wissende, der Doofe der Gescheite. Hat man nichts mehr zu sagen, kann man wenigstens noch kläffen: ihr nervt, ihr Rechthaber und Besserwisser.

Soll Lühmanns Philippika keine Widerlegung sein? Will sie nicht Recht haben gegen die Rechthaberinnen? In ihrer Wut gegen linke Denkerinnen, die sie nicht besiegen kann, merkt Lühmann nicht, dass sie selbst tut, was sie anderen vorwirft.

Aufklärer haben den verwunderlichen Ehrgeiz, möglichst verständlich zu schreiben und zu reden. Um dem Volk, das man in seiner Unwissenheit schmoren lässt, jenes Wissen zu vermitteln, das es zur Kritik an der Obrigkeit qualifiziert.

Lühmann nennt die klare Sprache der Aufklärerinnen „Erklärbärsprache“, als ob sie unbelehrbaren Bären das Denken beibringen wollte. Das Volk gehört ins Reich lernunfähiger Tiere. Dieser Hochmut – den Lühmann so nebenbei offenbart – ist die Grundlage der deutschen Elitokratie, die von ihren medialen Bodyguards gegen alle Seiten abgeschirmt wird.

Wer die Welt aufklären will, interessiert sich nicht für die Welt? Wogegen kämpft Lühmann, wenn ihre Gegnerinnen nur Nabelschau betreiben würden? Dann hätten sie nicht die geringste Chance, das Volk gegen die Macht der Bonzen aufzuwiegeln! Wie kann man Leute aus allen Kanonen beschießen, wenn jene nur ihr eigenes Spiegelbild mit Platzpatronen beschießen?

Lühmann formuliert wie in einem Delirium der Widersprüche:

„Es ist nun aber leider eine Eigenschaft der menschlichen Existenz im Allgemeinen und der offenen Gesellschaft im Besonderen, dass die meisten Dinge von den meisten Menschen nicht für selbstverständlich gehalten werden, und diese Menschen überzeugt man sicherlich nicht, indem man ihnen r-u-h-i-g u-n-d s-a-c-h-l-i-c-h die Gendertoilette erklärt.“

Poppers offene Gesellschaft, eine – dem Ideal nach – lernende, streitende und vernünftigen Argumenten zugängliche Gesellschaft, wird von Lühmann ins blanke Gegenteil verkehrt. Weil die Meisten bestimmte Dinge nicht für selbstverständlich halten, seien sie nicht daran interessiert, ihre problematischen, ja lebensgefährlichen Konflikte zu klären? Schon gar nicht mit ruhigen und sachlichen Gründen?

Wenn jemand die Verwegenheit besitzt, etwas besser zu wissen und seine Meinung auf der Agora verkündet: das soll, nach Lühmann, gehässige und bissige Minderwertigkeitsgefühle bei anderen erzeugen?

Kann es sein, dass viele nach gediegenen und durchdachten Standpunkten hungern und dürsten? Populisten werden angegriffen, weil sie die Unverschämtheit besitzen, für das Volk zu reden. Nicht-Populisten wie Schulz und Merkel wollen nicht im Interesse des Volkes sprechen? Nicht das Volk verstehen? Aufklärer sprechen nicht für das Volk, sondern mit ihm – damit es selber denken und sprechen lernt. Aufklärung weckt die Mündigkeit jedes Einzelnen.

Demokratie ist eine Gesellschaft der Besserwisser oder sie ist keine.

Jeder muss, nach reiflicher Selbst-Prüfung seiner Argumente, den Mut aufbringen, seinen Mitmenschen zu sagen: prüft meine Meinung, ich halte sie für die beste und begründetste. Dann hat er abzuwarten, ob seine Selbsteinschätzung von der Fremdeinschätzung des Volkes geteilt wird. Wird sie zurückgewiesen, verwandelt der Demokrat die empfundene Kränkung in leidenschaftliches Bemühen, seine Gedanken im Streit der Meinungen noch besser zu durchdenken und noch einleuchtender der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Fortschritt in der Wahrheitsfindung und in erstrittener Verständigung wäre der einzige, der diesen Namen verdiente.

Heute hingegen herrscht eine anarchische Absurdität: in allen Dingen gibt es Rankings, bei denen die Besten siegen sollen. Merkwürdigerweise scheint es hier keine Probleme mit Unterlegenheitsgefühlen zu geben. Nur in den wichtigsten und elementarsten Fragen der Polis: wie lösen wir am besten und humansten unsere gemeinsamen Probleme? darf sich niemand hervortun, darf niemand der Beste sein wollen. Rigoros seine Meinung sagen, offen sein für andere Gedanken, kontrovers und einfühlsam streiten: das wäre demokratische Leidenschaft.

Immer der Erste zu sein und voranzustreben den Anderen, war das Motto der athletischen Griechen Homers, das sich später in die Devise der Aufklärer verwandelte: immer das beste Argument auf den Marktplatz bringen, um seine Zeitgenossen zu überzeugen – nicht mit rhetorischen Tricks zu überreden oder zu manipulieren. Nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern zum Vorteil aller.

In jeder Nichtigkeit wollen neugermanische Bärenhäuter auf dem Treppchen stehen. Nur nicht auf dem Treppchen der Demokratie.

 

Fortsetzung folgt.