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Neubeginn XXXI

Hello, Freunde des Neubeginns XXXI,

die Deutschen besitzen kein Atom-U-Boot, auf das sich ihre sportliche Kanzlerin vom Hubschrauber abseilen könnte. Keinen Eiffelturm, in dem sie einem Tycoon aus der Neuen Welt ein Dreisterne-Menü bei grandiosem Blick über Paris böte, der ihr das Kompliment ausspräche: Sie sind noch gut in Form. Kein Versailles, wo ein junger, strahlender Held, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die Grandeur seiner Nation wiederfände.

Während England darniederliegt, seine Modernitäts-Verlierer in himmelhochragenden Feuerfallen zum Tode verurteilt werden, reichen die taumelnden Nachkommen der Amerikanischen Revolution den desorientierten Nachfahren der Französischen Revolution die Hände, um ihre Wundmale zu betäuben. Die Franzosen waren die ersten Freunde jener Uramerikaner, die den Briten zeigten, dass der Neue Kontinent sich nicht länger von alten Mächten herumkommandieren lässt.

Den ewigen Konflikt zwischen Frankreich und der Insel nutzt der schlaue Wolkenkratzerbesitzer aus Amerika, um auf Kosten der insularen Herzensbeziehungen seine beschädigte Reputation auf Hochglanz zu polieren. ER hat es geschafft. Er ist im Kreise der Weltenherrscher angekommen. Der Kandidat wird nicht gefeuert. Er hat seine Gegner erledigt, wie sein heldenhafter Sohn das unberechenbarste Raubtier der Welt – den friedfertigen Elefanten: mit dem Patronengürtel um den Leib, Messer und blutendem Schwanz in seinen Schlachterhänden.

Bei so viel Ruhm und Ehre: was blieb da der Kanzlerin anderes übrig, als das Kontrastprogramm einer Pilgerreise an den heimatlichen Ostseestrand zu absolvieren, um sich im Kreise ihrer biederen Untertanen von den Anstrengungen der Weltpolitik zu erholen? Deutsche können mit westlicher Schaumschlägerei nicht mithalten. Immer kommen sie zu spät – doch wenn, dann mit Macht. Dann überspringen sie alle und

setzen sich an die Spitze der Welt:

„Reculer, pour mieux sauter“, um besser zu springen, müsse man Anlauf nehmen. Nach dieser Devise betrachtete Schlegel die Deutschen als zukünftige Spitzenreiter der europäischen Entwicklung: „Wenn wir dies bedenken, so müssen wir uns Glück wünschen, Deutsche zu sein oder an deutscher Bildung Anteil zu nehmen, weil uns nur dadurch, im Gegensatz mit der einseitigen Befangenheit anderer Nationen, zugleich mit dem freien Überblick der Vergangenheit eine erfreuliche Aussicht in die Zukunft gegönnt ist.“

Deutsche, seid getrost, Angela lässt sich weder von Franzen noch Yankees die Butter vom Brot nehmen. Wer aus eigener Kraft nie eine Demokratie oder Revolution zustande brachte, dem bleibt noch immer das Wuchern mit anvertrauten Pfunden – und das klassische Schlachtfeld der Ehre. Berlin, so heißt es, will sich irgendwie am atomaren Programm Frankreichs beteiligen. Merkel & Macron wollen ein neues Kampfflugzeug entwickeln, um allen potentiellen Feinden den Star zu stechen.

Gorbatschow hatte das sowjetische Riesenreich liquidiert, um der Welt die Hand zum Frieden zu reichen. Doch der Westen degradierte die Friedfertigen zu Verlierern der Geschichte und setzte seinen Siegeszug fort bis zum Endsieg der Wirtschaft über Mensch und Natur.

Als ein amerikanischer Professor das Ende der Geschichte konstatierte, spotteten deutsche Edelschreiber über den demokratischen Traumtänzer. Nachdem sie nun selbst Weltmeister in Ökonomie wurden, schwimmen sie in paradiesischer Selbstbewunderung. Haben sie nicht alles erreicht, was sie erreichen wollten? Sind sie nicht Zwingmeister Europas und Weltmeister im Bergpredigen? Haben sie nicht die potenteste und gutherzigste mütterliche Führerin der Welt?

Und doch stehen sie abrupt vor einem emotionalen Nirwana: vor der Tristesse der Vollendung. Ausgerechnet sie, die sich mit Händen und Füßen gegen jedwede Utopie zur Wehr setzen? Welchen Produktions-Rekord haben sie noch nicht geknackt? Welche Konjunkturspitze nicht überrundet? Nun gibt es nichts mehr, was sie motiviert und was sie anpeilen könnten. Höchstens die Verfolger auf Abstand halten, um auch das Rennen um die Zukunft nicht zu verlieren.

Deutschland ist so langweilig geworden, dass man Gewalt hierzulande nicht mal denken dürfe, schreibt Henryk M. Broder. Quel malheur: auch er will Gewalt nur denken, um Gewalt zu verhindern. Es ist trostlos geworden in Deutschland, wo peacig zur Steigerung von spießig wurde.

Nebenbei: auch ihre Sprache lieben die Deutschen nicht mehr. Wie ihre Gelehrten sich einst mit antiken Begriffen behängten, so brillieren sie heute mit der Sprache ihres amerikanischen Vorbildes. Ein Phänomen ist erst ausgewiesen, wenn es im Idiom der Besieger und Befreier formuliert ist. In zwei Generationen wird Deutschland das erste Land der Geschichte sein, das sich per Sprachwandlung spurlos aufgelöst haben wird. Sie fühlen sich so wohl in ihrer illustren Tradition, dass sie am liebsten aus der Haut springen würden.

Gottlob, dass es noch einige Linke gibt, die für Remmidemmi sorgen und nicht einsehen wollen, dass Gewalt ihren Beglückungsphantasien inhärent ist. So ist dafür gesorgt, dass die Wiederholungstaste der Gewalt intakt bleibt.

Nun dreschen sie alle auf die störrischen Linken ein, während die Gewalt der Mächtigen – als Gesetze des Fortschritts und Imperative der Grenzenlosigkeit – ungestört weiter wüten darf. In Form einer dominanten Wirtschaft und eines militanten Potentials, das in der Lage wäre, die Erde vielfach zu atomisieren.

Gottlob, dass es Mercron gibt, das neue Traumpaar Europas, welches seine erste kooperative Meisterleistung in der Herstellung eines neuen Superbombers sieht.

Gottlob, dass die NATO dem bösen Russland immer mehr auf die Pelle rückt, dass Putin hoffentlich bald nervös wird und aggressiv reagiert, damit der Westen guten Gewissens zuschlagen kann.

Der globale Freihandel tut ein Übriges, um die Nationen wieder eigensüchtig und chauvinistisch zu machen. Es gibt Ökonomen, die den Freihandel preisen, aber den nationalen Eigendünkel für unabdingbar halten.

Wenn Freihandel alle Staaten gerecht behandelte, wozu bräuchten wir binationale Heimlichkeiten? Wie könnte es Millionen Menschen geben, die ihre Flucht planen, wenn die internationale Wirtschaft allen Menschen Wohlstand und ein gutes Leben bringen würde? Warum muss die EU mit jedem Land einen separaten Handelsvertrag abschließen, wenn es funktionierende Weltgesetze der Ökonomie gäbe? Dabei vertrauen sie ihren eigenen Gerichten nicht, sondern wollen internationale Scheingerichte für aalglatte Lobbyisten-Advokaten.

Der beste Welthandel wäre der, der sich in hohem Maße überflüssig machte und die einzelnen Länder befähigte, sich in wichtigsten Dingen selbst zu versorgen.

Wirtschaftliche Abhängigkeit würde die ständige Kriegsgefahr zwischen Einzelstaaten verhindern – dachte man einst, um die eigene Wirtschaftsmacht über schwache Völker zu legitimieren. Dabei vergaß man, dass Wirtschaft selbst ein Krieg ist – wenn auch ohne Schießgewehre und Kanonen.

Autarkie der Völker gilt heute als Sünde wider den Geist – obgleich Selbstbestimmung das oberste Gebot des Liberalismus sein soll. Kein Volk darf leben, wie es will. Es hat sich den Gesetzen des Westens zu unterwerfen. Während der Westen tödliche Bollwerke gegen Flüchtlinge errichtet, gelten eingeborene Völker als rohe Kannibalen, wenn sie ihre Insel gegen Fremde verteidigen, die die ganze Welt ihrem touristischen Diktat unterwerfen wollen:

„Auf einer kleinen Insel im Indischen Ozean lebt ein Volk, dem niemand zu nahe kommen sollte – denn die Sentinelesen begegnen jedem Eindringling mit Pfeil und Bogen im Anschlag. Wer es wagt, einen Fuß auf North Sentinel Island zu setzen, riskiert sein Leben. Die Insulaner haben einen guten Grund, derart rabiat gegen Fremde vorzugehen. Denn ihre Isolation rettete dem Stamm das Überleben.“ (Travelbook.de)

Dabei nennen sie sich offene Gesellschaften, weil sie ihrem Bereicherungszwang keine Grenzen setzen. Geschlossene Gesellschaften sollen jene sein, die sich den Despotien des freien Westens verweigern und nach eigenen Vorstellungen glücklich werden wollen. Wie Glück auszusehen hat, wird auf dem Planeten von Erlösungskulturen vorgeschrieben, die ihre technifizierten und militarisierten Glaubensgesetze allen Völkern als Weltgesetze auferlegen.

Mit Gewalt kann man Völker vernichten. Mit Macht hingegen kann man Völker so zum Glück der eigenen Überlegenheit zwingen, dass viele unterdrückte Völker es vorziehen würden, nicht mehr zu existieren, anstatt unter der Knute von Fremden dahinzuvegetieren.

Die offenen Gesellschaften des Westens sind diejenigen, die den Planeten in das geschlossene Revier ihrer Gewalt verwandelt haben. Ihre Gesetze wurden Weltgesetze, ihr Heil zum tyrannischen Heil der Welt, ihr Glück zur Zwangsbeglückung der Menschheit.

Der Westen hat sich Zeit als Geschichte, Erde als Raum seiner Geschichte, als Heilsweg seines Gottes unter den Nagel gerissen. Raum und Zeit haben sie sich untertan gemacht: das waren die Urtatsachen ihrer terrestrischen Gewalt. Wer sich ihren Heilsgesetzen nicht beugt, sich ihrem Fortschritt, ihrem technischen und wirtschaftlichen Größenwahn verweigert, dessen Lebensrecht wird von ihnen mit allen Mitteln der Gewalt verneint. Völker haben keine Daseinsberechtigung, wenn sie eigenen Glücks- und Heilvorstellungen folgen.

Wir müssen von Popper reden. Fraglos ist Popper der bedeutendste und humanste Philosoph des letzten Jahrhunderts. Dennoch hat er sich in gewaltige Irrtümer verstrickt. Einer davon ist seine Definition der geschlossenen und offenen Gesellschaft.

Geschlossene Gesellschaften sind für ihn jene Stämme der Wilden, die keinen Fortschritt kennen, den Stillstand und die ewige Wiederholung des Gleichen leben. Offene Gesellschaften sind die des Westens mit ständiger Veränderung, kritischer Öffentlichkeit und der Chance für jeden, in der Hierarchie der Gesellschaft aufzusteigen. Nicht, dass moderne Gesellschaften vollkommen wären. Deren Fehler und Nachteile aber seien die Kosten, die man für die Erhaltung der offenen Gesellschaft bezahlen müsse.

Obgleich Popper ein glühender Bewunderer des Sokrates und Perikles, der athenischen Demokratie und fast der gesamten griechischen Philosophie war – mit Ausnahme Platons, den er für den Erfinder des Urfaschismus und Verräter seines Lehrers hielt –, ist ihm entgangen, dass die griechischen Aufklärer Anhänger der zirkulären Zeit waren. Natur war Kosmos, der sich unaufhörlich erneuerte – als ewige Wiederholung des Gleichen.

Das Alte und das Neue waren für die Anhänger des Kosmos keine Widersprüche. Das Neue vernichtete nicht das Alte, sondern hauchte ihm neues Leben ein. Der Kosmos war vollkommen. Das Vollkommene kann nicht verbessert werden. Wer das Vollkommene verändern will, kann es nur verschlimmern. Eine Veränderung wäre höchstens zu rechtfertigen, wenn sie einen Defekt reparieren, einen Fehler korrigieren würde. Doch woher sollten Fehler im Perfekten kommen?

Beim Menschen kamen die Vollkommenheitsdenker ins Straucheln. Nein, der Mensch war nicht vollkommen. Gleichwohl war er ein Geschöpf der Natur. Wie kann Vollkommenes ein Unvollkommenes zur Welt bringen?

Hier stehen wir am Ursprung der platonischen Ideenlehre: die Welt besteht aus zwei Welten, einer vollkommenen in den Sternen, einer unvollkommenen auf Erden, in der der Mensch zuhause ist. Aristoteles lehnte die Verdopplung des Seins ab. Doch auch er konnte sich nicht anders behelfen, als oberhalb des Mondes (supralunar) die vollkommene Welt und unterhalb (sublunar) die unvollkommene anzusiedeln.

In der goldenen alten Zeit, in welcher der Mensch noch nicht als Fehlkonstruktion empfunden wurde, gab es keine Nötigung, die Welt in eine menschlich-unvollkommene und eine übermenschlich-vollkommene aufzuspalten. Im Gegenteil: die Makel der Welt wurden dem Getümmel einer anarchischen Götterwelt in die Schuhe geschoben. Erst, als die Probleme der Menschen immer gewaltiger, ja unlösbarer empfunden wurden, nahmen die Menschen das Misslungene auf die eigene Kappe und idealisierten das Gelungene als himmlisches Geschehen.

Hesiod, der Bauerndichter, war der erste, der eine Verfallsgeschichte aus verschiedenen Epochen mit abnehmender Qualität ersann – die aber nach einem finalen Tiefpunkt wieder an den vollkommenen Ausgangspunkt zurückkehren würden. Hier beginnen die Vorläufer der linearen Heilsgeschichte – die aber immer noch dem Kreis der Wiederholung gehorchten.

Auch die Stoiker glaubten an ein finales Feuer, aus dem sich aber wie Phönix aus der Asche der Kosmos in vollkommener Gestalt erheben würde. Das stoische Feuer wurde zum Vorbild des höllischen Feuers der Christen, die aber den Zirkel des Seins durchbrachen und das bipolare Ende – Seligkeit im Himmel und Pein in der Hölle – in linearer Unendlichkeit sahen.

Christlicher Glaube war der kontradiktorische Gegensatz zur griechischen Philosophie. Nietzsche spricht von der Umwertung aller Werte. Der Kreis der vollkommenen Wiederholung zerbricht und gebiert – die Linie, die lineare Heilsgeschichte, in der sich nichts mehr wiederholt.

Die Natur ist das Sündige, das Sündige das Alte, das ständig zerstört werden muss vom Neuen, welches das Heil verspricht – am Ende aller Tage. Solange die Weltgeschichte die Wiederholung des Bösen ist, muss zwar das Alte ständig vernichtet, das Neue verkündet werden. Dennoch verbleibt dies alles im Modus des Nochnicht oder der Verheißung. Wie Uroboros, die Urschlange, sich ständig im Kreis verschlingt und wieder erneuert, verschlingen sich das Alte und das Neue, allerdings in linearer Eschatologie, bis der Herr wiederkommt und der lang ersehnte Stillstand des Perfekten eintritt. Aber nicht als zirkuläre Geschichte, sondern als Linie ins Unendliche.

Die Moderne, weit davon entfernt, diesen Mythen entkommen zu sein, ist vielmehr die technische Konkretisierung christlicher Mythen. Alles Vorhandene, ob vertraut oder nicht, ob lieb geworden oder nicht, ob erwünscht oder nicht, ist das Alte, das gnadenlos geschreddert werden muss – vom Neuen, das das Alte vernichten und Neues erfinden muss.

Die Geschichte der Moderne ist ein unaufhörlicher Gewaltakt, ein erbarmungslos rasendes Vernichten und Verändern, Zerstören und Neuerfinden, Zertrümmern und neu Gestalten, Organisieren und Kreieren. Das ist der Ablauf der creatio continua aus Nichts und ins Nichts.

Der griechische Kosmos war vollkommen, die biblische Natur ist, zusammen mit dem Menschen, in Sünde gefallen und muss vom erlösten Menschen erlöst werden. Der technische Fortschritt ist der Versuch des Menschen, die minderwertige Natur zu vernichten, um eine vollkommene zweite Natur aus dem Geist des erlösten Menschen hervorzubringen: „denn das Erste ist vergangen.“

Dieser Prozess der Erlösung der sündigen Natur durch den erleuchteten Christen geschieht seit dem hohen Mittelalter, als die germanischen Christen immer mehr mit dem Geist der Griechen vertraut wurden, deren Erkenntnisse zweck-entfremdeten und in die Dienste eines unvereinbaren Glaubens stellten.

Die Griechen hatten das logische und methodische Rüstzeug wissenschaftlichen Denkens entwickelt. Eine Naturwissenschaft zur Gängelung, Eroberung und Zerstörung der Natur war ihnen unbekannt. Außer einigen kleineren Maschinen, die ihnen als Spielzeuge dienten, wollten sie keine Maschinen entwickeln. Hier gibt es eine vollständige Übereinstimmung mit der ältesten chinesischen Philosophie, die jeden Maschinengeist ablehnte.

Geschlossene Gesellschaften sind jene, die im Einklang mit der Natur leben. Im Gegensatz zu den offenen und fortschrittlichen, die ihre natürlichen Grundlagen liquidieren und das Leben der Gattung zerstören.

Im Gegensatz zu Popper müsste man sagen: wenn es vollkommenere Gesellschaften gibt, dann sind es die „geschlossenen“, die im Einklang mit der Natur leben. Sie haben das Geheimnis des ewigen Lebens der Gattung auf Erden gefunden. Solange es der Natur gefällt, kein Meteorit auf die Erde fällt, kein Urvulkan ausbricht, wird es keinen Grund geben, dass diese Gesellschaften vom Erdboden verschwinden.

Im schreienden Kontrast zu diesen stabilen und unveränderlichen Gesellschaften unternehmen die rasend sich verändernden Gesellschaften alles, um Mensch und Natur in Gefahr zu bringen. Ihr linearer Triumph ist das Lockmittel, das sie benötigen, um ihren Weg in die Selbstzerstörung bis ans bittere Ende zu exekutieren.

Für Popper sind geschlossene Gesellschaften totalitäre. Bei ihnen gibt es keine individuelle Kritik, die sich von den ewig gleichen Ritualen lösen dürfte, um ihr Lebensglück selbstbestimmt zu gestalten. Individuelles und kollektives Glück sind für Popper unvereinbar.

Doch an einer Stelle verrät sich Popper, wo er einräumt, dass es sehr wohl Gruppen gebe, in denen der Einzelne und die Gemeinschaft nicht gegeneinander wüten müssten, sondern miteinander harmonieren könnten. Der Satz heißt: „Aber die meisten konkreten sozialen Gruppen einer modernen, offenen Gesellschaftsordnung (mit Ausnahme einiger glücklicher Familien) sind armselige Ersatzmittel, denn sie schaffen nicht den Rahmen für ein gemeinsames Leben. (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd 1)

Das ist nicht der einzige Selbstverrat. Den Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft vergleicht Popper mit einem „Schock der Geburt“. Gebären kann nur die Frau. Womit klar ist, dass der Schock der Geburt das Weibliche und Familiäre verraten und verlassen muss, um zur männlich offenen Gesellschaft überzugehen, die auf soziale Harmonie und Eintracht verzichtet, um in hartem männlichen Wettbewerb das unaufhörlich Neue aus dem Kopf zu erfinden.

Der Schock der Geburt ist ein Pendant zur Schwangerschaft der Eva nach dem Sündenfall, die nur unter Schmerzen Kinder gebären darf. Das Privileg der Frauen, Kinder zu gebären – auf das die Männer mit unheilbarer Wut, Neid und Eifersucht reagieren – muss von diesen überboten und zerstört werden, indem sie eine naturfeindliche Fortschrittswelt erfinden müssen.

Nun wird klar, warum die Moderne noch immer gespalten ist: in die Welt der Familie und Kinder – und die Welt der Männer, die mit harten Bandagen um die Vorherrschaft in der Welt kämpfen müssen. Die Moral der Kinderwelt muss das absolute Gegenteil zur Moral der Erwachsenen sein. Ihren Kindern predigen sie Mitgefühl, Fairness und Wohlwollen mit den Menschen, doch kaum haben diese den Fuß in die Welt der Erwachsenen gesetzt, muss alles Kindliche abgelegt werden. Die Moral der Kinderwelt wird verächtlich gemacht zugunsten einer „Moral“ der Amoral. Das ist für Popper ein großer Verlust. Doch der Preis, den eine erwachsene offene Gesellschaft zu bezahlen hat:

„Wir müssen, glaube ich, die Last auf uns nehmen, als einen Preis, den wir zahlen müssen für jede neue Erkenntnis, für jeden neuen weiteren Schritt zur Vernunft, zur Zusammenarbeit, zur gegenseitigen Hilfe; für jede Verlängerung des durchschnittlichen Lebensalters; und für jeden Bevölkerungszuwachs. Es ist der Preis der Humanität.“

In diesem Satz geht alles wirr durcheinander. Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe, Humanität sind Merkmale des familiären oder sippenhaften Matriarchats. In der Welt unerbittlicher Konkurrenz gibt es keine Humanität solidarischen Kooperierens. Hier vermischt sich Popper I, der Bewunderer „der großen Gesellschaft“ der sokratischen Demokratie und ihrer humanen Moral, mit Popper II, dem Vertreter der modernen Haudrauf-Gesellschaft, die nichts Humanes und Natürliches zulassen kann, um ihren Jenseits-Zielen zu folgen, die er verklärend Geschichte des kritischen Erkenntnisfortschritts nennt. Womit wir bei der Funktion der Kritik angekommen wären.

Kritik und Erlenntniszuwachs gibt es für Popper nur in der offenen Gesellschaft. Die geschlossene bestünde aus dem Regiment allmächtiger Tabus. Hier darf nichts der Kritik unterworfen werden, weil die Gefahr bestünde, dass die Totalität der Horde in sich zusammenbräche. Auf den ersten Blick klingt das plausibel – solange geschlossene Völker mit andersdenkenden nicht in Berührung kamen.

Inzwischen sind die meisten „Wilden“ von der Zivilisation eingekesselt und imprägniert worden. Fast alle wurden zwangsmissioniert, seufzen und leiden bis zum heutigen Tag unter der Last ihrer Fremdbestimmung. Wenn die offene Gesellschaft der geschlossenen Gesellschaft in allen Dingen überlegen wäre: warum sind die meisten Eingeborenen nicht sofort dem Regiment der Tabus entflohen und in die Arme der offenen Gesellschaften geflüchtet?

Wie konnte es geschehen, dass heute Mitglieder gewisser Indianervölker fähig sind, als ökologische Interessenvertreter ihrer Stämme an Konferenzen in aller Welt teilzunehmen, um anschließend keineswegs den Verlockungen der „Freiheit und Offenheit“ zu verfallen, sondern sehnsüchtig in den Hort ihrer Stämme zurückzukehren? Nun sind sie auch äußerlich offen und haben alle Möglichkeit, sich den Vorzügen der Moderne zu ergeben – und nichts dergleichen geschieht.

Jeder Indio, der in der offenen Welt der Fremden zurechtkommt und dennoch im Kreis seiner Sippe leben will, ist eine vollständige Widerlegung Poppers und der Überheblichkeit der Moderne, die einzigartige Welt der Offenheit und Selbstbestimmung zu sein.

Was Popper vollständig übersieht: Kritik ist unerlässlich, wenn sie – notwendig ist, weil die Verhältnisse kritikwürdig sind. Erst, wenn die Menschheit sich in so viele Probleme gestürzt hat, dass sie ihr liebloses Leben nicht mehr erträgt, kommen vage Erinnerungen an ein liebendes Sippenleben auf: das war der Beginn der griechischen Philosophie.

Denken ist Erinnern, heißt es bei Sokrates. Platon verfälschte die wirkliche Erinnerung in eine Erinnerung an ein ideales Jenseits. Das ideale Leben aber fand nicht im Sternenhimmel statt, sondern war eine dunkle Erinnerung an eine erlebte Realität: an die Realität im Mutterleib, in der matriarchalen Sippe, in einer glücklichen Familie.

Kritik ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um Konflikte und Probleme zu lösen. Was aber – für moderne Besessenheit am Bösen ein Unding –, wenn es gar keine überdimensionalen Probleme gibt?

Ein glücklich verliebtes Paar kennt noch keine Probleme. Erst wenn der Rausch vergangen ist und sie in der Realität angekommen sind, müssen sie kritisch werden, um die gemeinsamen Probleme zu lösen. In einer glücklichen Familie desgleichen: was soll kritisiert werden, wenn alle auf ihre Kosten kommen? Warum schrieb Marcel Proust viele Bände, um sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben? Weil die verlorene Zeit die glückliche seiner Kindheit war.

All diese Zeiten erlebten Glücks sind von harten Männern zu phantastischen Utopien erklärt worden, an die nur Kinder, Verliebte und Lebensuntüchtige glauben würden. Sie selbst aber glauben im selben Moment an die perfekten Utopien ihrer Maschinen – einem letzten, verstümmelten Reflex ihrer Erinnerung an eine glückliche Zeit. Dieses Glück wollen sie nicht Frauen, Kindern und Träumern überlassen, sondern mit Hilfe ihres kalten Kopfes erfinden.

Warum ist die Welt der Erwachsenen durchzogen vom Glauben an nützliche Laster und Übel? Weil sie verdrängen müssen, dass sie die Welt ihres Glücks verloren haben. Aus eigener Macht und Herrlichkeit wollen sie die verlorene Zeit durch technische Erfindungen wiederbeleben.

Das aber könnten sie nur durch denkende Selbstbesinnung, nicht durch bewusstseinslose Algorithmen. Denken ist nichts als der Versuch, kindliche Glücksfähigkeiten in sich wieder zu finden. Auch dies wurde von Erlösern übernommen und pervertiert: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder

Doch hier sollten Kinder nicht denken lernen, sondern an eine männlich-göttliche Autorität glauben. Das war der absolute Kontrast zum Entdecken des kindlichen Glücks durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Denken will an jene Zustände erinnern, in denen jeder Mensch sein einstiges Glück erlebt hat, um es wiederzubeleben.

Kritik besteht darin, sich überflüssig zu machen, indem sie jene Zustände politisch herstellen will, in denen sie nicht notwendig war. Eine humane Utopie ist der Versuch, die verlorene Zeit durch eine gemeinsame Bemühung wiederzugewinnen.

Platons Flucht ins Jenseits, die Blaupause für den christlichen Glauben, war die Frucht der Verzweiflung über scheinbar unlösbar gewordene Probleme der athenischen Demokratie.

Religionen entstehen erst, wenn der Mensch keine Chancen mehr sieht, seine Konflikte mit sich und der Welt zu lösen. Die Verzweiflung musste in einer freien Polis erlebt werden, um sich denkerisch äußern zu können. Im totalitären Sparta hätte Philosophie nie entstehen können.

Kein Wunder, dass heute eine allgemeine Sehnsucht zurück in die Religion stattfindet: die Probleme wachsen den Menschen über die Ohren.

Zuerst entwickelt sich eine schweifende Sehnsucht nach dem Heil, das sich illusionären Verheißungen blind und brünstig unterwerfen will. Wenn aber erst eisenharte Priester Macht über die Seelen errungen haben, verwandelt sich Sehnsucht in ein Mittel der Ungeduld, die Seligkeit mit allmächtiger Faust zu erzwingen. Der Sprung in den Glauben wird zum Sprung in die Gewalt.

 

Fortsetzung folgt.