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Neubeginn XXVII

Hello, Freunde des Neubeginns XXVII,

G20 ist ein Klub selbsternannter Weltführer, von niemandem gewählt, von niemandem kontrolliert. Niemand überprüft, ob ihre Entschlüsse von den Teilnehmern eingehalten werden. Sanktionen gibt es keine. Politische Macht und ökonomischer Einfluss allein entscheiden über ihre Führungskompetenz.

Die UNO, das Parlament der Völker, wird von ihnen bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehebelt. Gleichzeitig reduzieren sie ihre finanziellen Beiträge zu UN-Hilfsprogrammen, um hungernde Völker ihrem Elend zu überlassen. Dem Elend der Klimaverschärfung, die zum großen Teil von ihnen verursacht wurde und dem Elend der Armut, einer Konsequenz ihrer erbarmungslosen wirtschaftlichen Überlegenheit.  

Dem herrschenden EINPROZENT der Superreichen entspricht das EINPROZENT reicher Regierungen, die sich anmaßen, das Schicksal der Erde in ihre gierigen und verantwortungslosen Hände zu nehmen. Winzige Minderheiten, berauscht von ihrer militärischen, technischen und ökonomischen Superiorität, haben den Planeten vereinnahmt und bestimmen in einer abenteuernden, von Größenwahn und Selbstzerstörung vibrierenden Dauererregung, die Sicherheit des menschlichen Lebens und die Garantie der Natur gefährdenden Gesamtpolitik, das Geschick der Menschheit.

Je demokratischer, offener und vernetzter die globalen Verhältnisse erscheinen, umso machtloser werden die Milliarden Menschen, die es satt haben, nach Jahrtausenden schmählicher Unterwerfung sich von männlichen Minderheiten das Vernichtungsurteil auferlegen zu lassen.

Sollte es der Menschheit nicht gelingen, ihren Untergang zu verhindern, wird er vor aller Augen einer wissenden Weltöffentlichkeit exekutiert werden. Milliarden Menschen scheinen keine Chance zu haben, einer winzigen Clique von Übermenschen die

Macht aus den Händen zu reißen und die Hasardeure in die Bedeutungslosigkeit zu entlassen.

Sie wollen in die Geschichte eingehen, die die Geschicke des Erdballs als erregendes Risiko-Spiel betrachten. In eine Geschichte, die es gar nicht geben kann, weil He-Männer sie zuvor zu Grabe getragen haben. Geschichte ist ihr Pantheon, in das sie mit Pauken und Trompeten einziehen wollen.

Geschichte ist für sie nicht das Werk ihrer Hände und Verstandeskräfte, sondern ein Geschehen, das außerhalb ihrer Macht über ihre Köpfe hinweg rollt. Dankbar sei er, sprach ein amerikanischer Übermensch beim Begräbnis eines europäischen Titans, dass er an einem weltpolitischen Prozess mitwirken durfte, der größer sei als sie alle.

Im 21. Jahrhundert ist der Mensch, der sich schon als unsterbliches Wesen durch Technik und als Bewohner ferner Sterne sieht, noch immer die ferngelenkte Figur eines höheren Geschicks. In die Geschichtsbücher eingehen, heißt, in die Bücher ihres allmächtigen Gottes einzuwandern.

Sie leben nicht mit beiden Beinen auf dem Boden der Natur, die sie ernährt und getreulich erhält – sie schweben oberhalb der Erde in fiebrigen Überwelten. Wenn in weit entfernter Zukunft außerirdische Aliens den von Menschen befreiten Planeten per Zufall entdecken sollten, werden sie erstaunt sein über ein Wesen, das sich für intelligent gehalten und seinen genialen Intellekt benutzt hatte, um sich selbst aus dem Weg zu räumen.

In Hamburg treffen sie sich, um wieder einmal ihrer Verantwortung Hohn zu sprechen. Was die Völker wollen, ist für sie ohne Bedeutung. Der Menschheit tun sie Gewalt an und wundern sich, wenn Verzweifelte es wagen, sich mit ihren geringen Kräften zu wehren – die von Lakaien der Mächtigen als terroristische Aktionen geschmäht werden. Medien, die Prätorianergarden der masters of universe, halten das Steineschleudern der Ohnmächtigen für verwerflicher als die natur- und menschenverwüstenden Generalstabspläne der Allgewaltigen.

BILD drischt auf die Demonstranten ein. Die friedlichen unter ihnen würden die unfriedlichen mit ihren Aktionen decken. Henrik Müller sieht im SPIEGEL eine symmetrische Intoleranz bei „Gipfelteilnehmern und Gegnern“.

Gipfelteilnehmer: welch harmlos Wörtchen für Weltgiganten. Eigenartig: trotz Symmetrie sieht er nur das „hasserfüllte Geschrei“ der Straße. Vornehme Gipfelteilnehmer pflegen selten hasserfüllt zu brüllen. Selbst ein Wrestler aus dem Weißen Haus kann schon mit Messer und Gabel essen. Der Hass der Oberen ist system-immanent, mit Darstellungen eines ungezügelten Es muss er sich nicht abgeben. Das ist der Fortschritt der Fassadenzivilisation, dass sie die echten Gefühle des Menschen hinter Aktionen der Technik und Politik verbergen kann.

„Hasserfülltes Geschrei übertönt zusehends produktive Auseinandersetzungen. Es geht nicht mehr unbedingt darum, die gesellschaftliche Lage in der Gegenwart und in der Zukunft zu verbessern. Häufig scheint es schlicht darum zu gehen, Wut und Verachtung auszudrücken, Feindbilder zu pflegen, andere Meinungen zu diskreditieren, gesicherte Fakten zu verhöhnen.“ (SPIEGEL.de)

In Hamburg geht es nicht um Barbareien ordinärer Diktatoren. Es geht um menschheitsvernichtende Globalpolitik aller Regierungen, selbst jener, die unfallfrei die Würde des Menschen buchstabieren können. Müller erwähnt das Augenscheinliche, das ohnehin nicht zur Debatte steht. Dass das Schicksal der Menschheit auf der Agenda steht – stehen sollte –, diese Kleinigkeit scheint ihm entgangen. Eine Installation des Künstlers Zevallos nennt er einen vordergründig rohen Antikapitalismus, dessen Hintergrund eine „brutale Intoleranz“ ist, „eine Haltung, die sich gegenwärtig durch den Zeitgeist zieht, rund um den Globus.“

Dass der Kapitalismus seit 100en von Jahren in brutaler Intoleranz gegen Mensch und Natur wütet: das ist einem Zeitbeobachter entgangen? Müller schwimmt im Wohlstand gottgesegneter Evolutionssieger, die endlosen Missbildungen und Schattenseiten einer in Freiheit geborenen tauschgerechten Solidarität dringen bei den Satten und Habenden nicht mehr durch.

Es ist nicht zu fassen: auf beiden Seiten sieht er einen symmetrischen „Absolutismus der eigenen Position, gepaart mit dem Willen, sich in aller Brutalität durchzusetzen. Wer sich unzweifelhaft auf der richtigen Seite wähnt, braucht keine Rücksicht zu nehmen.“

Wer sich links und rechts eingekesselt fühlt von deckungsgleichen Absolutisten, muss schuldlos in der Mitte sitzen. Und was sind die Ursachen des globalen Verhängnisses?

„Die Welt ist unübersichtlich geworden. Ursachen, Wirkungen und Lösungen sind mit erheblichen Unwägbarkeiten belastet. Zum Beispiel: Über die Gründe für die weltweit abflauende wirtschaftliche Dynamik und die damit einhergehende Bedrohung der Lebensstandards liegen ebenso wenig gesicherte Erkenntnisse vor wie über wirksame politische Gegenmaßnahmen. Oder: Ob und inwieweit sich der Klimawandel bremsen lässt, ist unklar, ebenso wie sich Risiken und Kosten verteilen. Oder: Woher der grenzüberschreitende Terror rührt, ist nicht so leicht zu beantworten, geschweige denn, wie er sich eindämmen lässt.“

Je unleugbarer die Folgen der modernen Kultur, je „unübersichtlicher“ müssen sie werden. Es ist wie bei Kindern, die die Augen schließen, um Gespenster zu leugnen, die sie eben noch in grusliger Nähe sahen. Nichts Genaues weiß man nicht: damit ist allen Kritikern der Wind aus den Segeln genommen. Von diesen werden hieb- und stichfeste, ja metaphysisch verlässliche Letztbegründungen erwartet – während die Vollstrecker des globalen Elends ohne Wenn und Aber zur Sache gehen dürfen. Das ist pervertierter Popper.

Die Verteidiger der Verwüstungen erklären ihren Gegnern in süffisantem Ton: solange ihr nicht astrein beweisen könnt, dass wir die Malaise der Welt verursachen – und glaubt uns, das werdet ihr nie –, solange fluten wir die Welt weiterhin mit überflüssigem Tand und drehen der launischen Natur die Gurgel zu.

In einem Nebensätzchen gibt sich Müller als „Klimaskeptiker“ zu erkennen. Skepsis ist in diesem Kontext die Schändung eines altgriechischen Begriffs zum Zwecke einer gehirnlos-fortschreitenden Naturverwüstung. Auf Deutsch heißt die selbstmörderische Devise Müllers: solange wir nicht exakt wissen, ob wir den „Klimawandel bremsen“ können, machen wir putzmunter weiter. Erst wenn wir tot sind, werden wir uns überzeugt geben, dass wir uns getötet haben.

Um das Wort hyperkomplex nicht überzustrapazieren, wählt Müller das Wörtchen unübersichtlich, das der deutsche Weltphilosoph Habermas bereits vor Dekaden einführte, um alle Europäer von der Verantwortung fürs Weltgeschehen zu exkulpieren. Wenn Ursachen und Wirkungen, Risiken und Kosten unergründlich sind, können die Eliten ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen: ihre Hände in Unschuld waschen.

Asymmetrische Kriegsführung, asymmetrische Demobilisierung: das Wörtchen asymmetrisch ist zur Lieblingsvokabel jener geworden, die die Gleichheit (Symmetrie) der Menschen aus der Leistungsgerechtigkeit heraushalten wollen. Je ungleicher die Vermögens- und Machtverhältnisse, umso dringlicher ist es für die Verteidiger der Kluftbildungen, die klaffenden Ungleichheiten zu leugnen. Also muss das Wort Asymmetrie her. Das klingt nach objektiver Mathematik und kann mit schnöden Machenschaften des Subjekts nicht erklärt werden.

Nein, Gewalt ist kein Mittel, um politische Probleme zu lösen. Verglichen aber mit all den Natur- und Menschenverwüstungen einer todkranken Wirtschaft ist renitentes Zelten, zudem von Gerichtsbeschlüssen abgesegnet, nicht mal ein Mückenstich. Dabei ist noch gar nichts passiert.

Doch die Hüter der Ordnung können ihre martialischen Maßnahmen nur legitimieren, wenn sie die Demonstranten zur fünften Kolonne des Gottseibeiuns machen. Gewaltbereit ist bereits gewalttätig. Die Dämonisierung der Gegner macht es den Verteidigern abendländischer Werte leicht, ihr – nicht selten gesetzloses – Tun prophylaktisch zu rechtfertigen. In Hamburg wurde der „härteste Hund“ zum Einsatzleiter der Polizei:

„Ausgerechnet dem Polizeiführer Hartmut Dudde ist vom rot-grünen Hamburger Senat die Gesamteinsatzleitung für den G-20-Gipfel übertragen worden. Zu oft wurden im vergangenen Jahrzehnt seine Polizeieinsätze im Nachhinein von Gerichten für rechtswidrig erklärt.“ (TAZ.de)

Noch nicht lange her, dass in München Demonstranten stundenlang ohne Verpflegung, ohne Toiletten, eingekesselt wurden, um sie für widerborstiges Verhalten gegen die Kapitalisten-Obrigkeit zu bestrafen.

Müller und seine systemkonformen Schreiberkollegen betreiben asymmetrische Mobilisierung gegen planetenrettende Widerstandsaktionen. Solange actio von reactio unterschieden wird, solange müssen kritische Aktionen als Nadelstiche betrachtet werden, wenn man sie vergleicht mit Planierungen jener Politiker, die nicht nur ihre Nationen ins Unglück stürzen können.

Müller nicht unähnlich verteilt Alexander Görlach in der ZEIT symmetrisch schlechte Noten an links und rechts – wenn er an den G20-Gipfel denkt:

„Radikale Populisten von rechts und von links hingegen arbeiten an der Überwindung der Ordnung, die sie vorfinden, ihrer Zerstörung. Populisten von rechts und links erklären denen, die ihnen zuhören, dass die gegenwärtigen Probleme zu lösen sind, wenn man zu den Rezepten der Vergangenheit greift. Damit nutzen sie die Angst der Gesellschaft vor der Zukunft aus. Warum verfangen Populisten dieser Tage wieder? In seinem Buch The Future Shock schrieb Alvin Toffler bereits vor rund 50 Jahren, dass es Momente in der Geschichte von Gesellschaften gibt, in denen der technologische Fortschritt so an Geschwindigkeit gewinnt, dass er weder von den Eliten noch den Durchschnittsbürgern eines Staates verstanden und mit vollzogen werden kann. Die Konsequenz seien Unsicherheit, Furcht und Instabilität. Die letzten 25 Jahre waren bestimmt von der Globalisierung und der Digitalisierung, der Fortschritt hat eine bis dato unbekannte Rasanz entwickelt. Nun bricht, mit der künstlichen Intelligenz, der Lernfähigkeit von Maschinen und dem, was gemeinhin als Industrie 4.0 beschrieben wird, eine neue Welle von Innovation los. Veränderungen stehen an, deren Auswirkungen noch unbekannt sind.“ (ZEIT.de)

Früher waren es Tyrannen, die willkürliche Veränderungen anordneten, deren Auswirkungen ihnen gleichgültig waren. Heute ist es die unwiderstehliche Geschichte, deren Anordnungen der Mensch sich wortlos zu unterwerfen hat.

Wer die Menschheit tyrannisieren will, ohne Tyrann genannt zu werden, bemächtige sich der Zukunft – und er hat alle Chancen, zum selbsterfüllenden Propheten zu werden. Wenn Zukunft Veränderungen bringt, die niemand kennen und einschätzen kann, ergo die Menschen sich vor dieser Zukunft fürchten, gelten sie bei Zukunfts-Fundis als neurotische Angsthasen.

Noch besser: wer vor der unbekannt-gefährlichen Entwicklung warnt, ist ein populistischer Rattenfänger, der sich die Ängste der Bevölkerung zunutze macht. Warner vor der Hitler-Gefahr müssen demnach Populisten gewesen sein. Weshalb man sich wundern muss, dass sie heute als Widerständler geehrt werden.

Die im Fortschrittsrausch liegenden Zeitgenossen sind außer Rand und Band. Ob du etwas verstehst oder nicht: du hast zuzustimmen. Ob du Risiken überblicken kannst oder nicht: du hast zu nicken. Würden sie solche Vollidiotien ihren Kindern einbläuen, müsste man das Jugendamt einschalten.

„Beide, der linke und der rechte Populismus, nutzen die Ängste der Menschen aus. Beide, rechter und linker Populismus, spielen bewusst mit der Bereitschaft der Menschen, in einer als extrem erlebten Situation zu Gewalt zu greifen. Hass-Kriminalität ist in den USA und England nach der Trump-Wahl und dem Brexit angestiegen.“

Damit hätten wir auch die Gründe, warum Menschen sich für Trump und den Brexit entschieden haben. Als ob Trump und May den Fortschritt leugnen würden. Auch sie wollen volle Fahrt voraus – wenn auch mit dem „Rezept der glorreichen Vergangenheit“: das eigene Land zuerst. Verglichen mit der Vergangenheit der Vergangenheit waren diese imperialen Rezepte auch einmal neu.

Generell: ist denn alles automatisch schlecht, weil es in der Vergangenheit erfunden wurde? Dann wäre es an der Zeit, auch den Fortschritt zu räumen. Er ist beileibe keine Frucht der Gegenwart.

Müller und Görlach sind altbackene Vertreter jenes Gehorsams unter die Geschichte, die von Popper Historizismus genannt und als Heteronomie bekämpft wurde. Mit seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ wollte er zeigen, dass „wir vielleicht einmal die Mitschöpfer unseres Geschicks werden können, wenn wir es erst aufgegeben haben, als seine Propheten zu posieren.“

Popper ist heute mausetot. Die deutschen Futuranbeter haben ihn nie zur Kenntnis genommen.

Eine frische Prise weht aus dem Silicon-Valley-kritischen Artikel von Andrian Kreye in der SZ: Globales Netzwerk – das Imponierprojekt der Gegenwart – ist in Wirklichkeit ein Monopolkapitalismus. Kreye nimmt die Freiheitsutopien der amerikanischen Hippies und späteren Zukunftsdigitalisten unter die Lupe. Was in Deutschland unbekannt ist: hinter Silicon Valley stecken ehemalige Revolutionäre, die die Welt verändern wollten.

Was ist aus ihnen geworden? Wie kamen die urdemokratisch denkenden Bourgeoisgegner dazu, die heutigen Eliten in den Bann ihrer postdemokratischen, ja totalitären Robotergesellschaften zu ziehen?

„Spricht man mit ihnen, dann begegnet man Männern (eher selten auch Frauen), die aus tiefstem Herzen glauben, dass sie auserwählt sind, um diese Welt zu einer besseren zu machen. Immerhin haben sie es mit ihren Technologien und Unternehmen aus eigener Kraft zu globaler Bedeutung und zu Macht gebracht. Vor allem aber haben sie geholfen, jenes Instrument zu entwickeln, das wie kaum eines zuvor dafür geschaffen ist, die Welt zu vereinen – das Internet. Effektive Weltverbesserung ist nur der logische nächste Schritt. In dieser Auffassung vom Internet als Katalysator einer positiven Globalisierung stecken die gesellschaftlichen Utopien und Eine-Welt-Visionen der Hippie-Bewegung. Konzernchefs wie Peter Thiel war der ideale Mann fürs Silicon Valley. Er vertrat die Denkschule der Libertarier, einer politischen Richtung, die den Freiheitsbegriff der amerikanischen Verfassung radikal und wirtschaftlich auslegt. In einigen Punkten berührte diese Haltung sogar den Aussteigergeist der Hippies. Absolute Selbständigkeit, ein Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen sowie ein Hang zu extremen Utopien wie dem Transhumanismus oder der kolonialistischen Weltraumfahrt finden sich bei beiden.“ (Sueddeutsche.de)

Was sind Libertarier? Die Vertreter eines kompromisslosen Liberalismus, der es strikt ablehnt, mit einer sozialen Marktwirtschaft faule Kompromisse zu schließen. Freiheit ist für sie die unbegrenzte Freiheit der Kreativen und Fortschrittsgläubigen – auf Kosten der Freiheit aller anderen. Was hier Freiheit genannt wird, wurde in ehrlicheren Zeiten die Despotie der Starken genannt:

„Robuste Eigentumsrechte und wirtschaftliche Freiheit sind stets zentral, woraus sich eine aus der freien Entwicklung getragene soziale Ordnung ergibt, die im Einklang mit ökonomischen Freiheitsrechten steht. Aktuelle Staatsaufgaben sollten so weit wie möglich ausgelagert und auf private Hände übertragen werden.“ (Wiki)

Transhumanismus ist kein Glaube an die moralische Lernfähigkeit des Menschen. Im Gegenteil. Technischer Fortschritt soll die humane Entwicklung des Menschen ersetzen. Blinder Glaube an den Fortschritt der Technik ist sein eisernes Dogma.

Die Hippie-Utopie einer allseitigen Freiheit verwandelt sich in technischen Fortschritt, der dem Menschen subjektive Bemühungen um Verbesserung des menschlichen Loses ersparen will. Erfinde intelligente Roboter, die für dich realisieren, wovon du einstmals träumtest – und woran du gescheitert bist.

Das Scheitern der politischen Freiheit führt in die Knechtschaft einer neuen Maschinengeneration, die alles erfüllen und übererfüllen muss, was dem Menschen als utopisch und erstrebenswert galt. Kreye zeichnet detailliert den Übergang der Hippie-Freiheit in die totalitäre Freiheit der Silicon-Valley-Gründer nach:

„Der entscheidende Unterschied zu den utopischen Freiheitsbegriffen der Sechzigerjahre liegt dabei in einem einzigen Wort. Die Visionäre der Sechzigerjahre kämpften für die Freiheit zu leben, wie sie wollten. Die Libertären kämpfen für eine Freiheit von äußeren Einflüssen, und damit meinen sie in erster Linie Staatsorgane. Mit dem Wechsel vom positiven zum negativen Freiheitsbegriff veränderte sich allerdings auch die Wirkung des Internets. Aus der Maschine für gesellschaftlichen Wandel und Ideenaustausch wurde das geschlossene System eines Monopolkapitalismus, der längst keine Grenzen mehr kennt. Und weil das Internet eben ein amerikanisches System ist und die Monopole mit Facebook, Google, Amazon und Apple allesamt in den USA angesiedelt sind, ist aus dem Ideal vom globalen Netzwerk ein Instrument für eine Globalisierung geworden, in der Konkurrenz nicht vorgesehen ist.“

Nach langer Verklärung des Silicon Valley durch sekundäre Propheten, die, wie Frank Schirrmacher oder Kai Diekmann, mit leuchtenden Augen nach Kalifornien pilgerten, um hiesigen Hinterwäldlern das Evangelium der Zukunft zu predigen, beginnt endlich eine Überprüfung der sich selbst verratenden Hippie-Generation.

In Deutschland wurden 68er-Revoluzzer zu angepassten Gelehrten und Edelschreibern. In Amerika verwandelten sie ihr politisches Scheitern in totalitären Futurismus.

Es ist wie eine Wiederholung der Geschichte Platons. Als das Junggenie sah, dass sein geliebter Meister von der Heimatstadt Athen zum Tode verurteilt wurde, verwandelte er die sokratische Lehre von der Lernfähigkeit des Menschen durch Selbstbesinnung in eine totalitäre Zwangsbeglückung durch den idealen Staat.

Was für Platon die Politeia, wurde für Ex-Hippies die Zwangsbeglückung der Welt durch Internet und superintelligente Maschinen. Pedantisch wiederholt sich die Geschichte, solange sie nicht aufgehellt wird.

Der Mensch darf sich keine Zukunft verordnen lassen, die er nicht überprüft und gebilligt hätte. Jede unbekannte Zukunft, die er passieren lässt, wird zum faschistischen Monstrum. Welcher technische Fortschritt unwiderstehlich ansteht, hat eine mündige Menschheit selbst zu entscheiden.

 

Fortsetzung folgt.