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Neubeginn XXV

Hello, Freunde des Neubeginns XXV,

„gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam“: da capo al fine.

Das, hoch verehrte Damen und Herren, war die Zusammenfassung einer wegweisenden Kanzlerinnenrede. Danach ein PHOENIX-Reporter, der in rasendem Tempo die Rede ebenfalls zusammenfasst, indem er die phrasenhaftesten Phrasen der Rede rekapituliert – um die drohende Stille bis zum Beginn des nächsten Redners zu überbrücken.

Das Publikum des Senders für Chefredakteure muss als unfähig angesehen werden, die Rede ohne Beaufsichtigung durch einen öffentlich-rechtlichen Sender auf sich wirken zu lassen und autonom zu verarbeiten. Wenn man eine Rede in zwei Leerformeln charakterisieren kann, wundere sich niemand, dass die Kanzlerin als Leerformel-Phraseurin betrachtet wird.

Die Medien, unter zunehmendem Druck des live-streams, bringen die hohlsten aller hohlen Standardsätze als Schlagzeilen. Justament Neuigkeits-Süchtige nehmen am liebsten alte, abgedroschene Floskeln zur Kenntnis. Weshalb genaue Analysen des Gehörten und Gesehenen fast immer unterbleiben.

Nicht nur Talkshows werden unter dem Aspekt des Originellen, Verblüffenden und Neuen bewertet. Eine Idee mag „volkspädagogisch wertvoll, humanistisch grundiert“ sein, dann ist sie aber auch „wenig originell“. (SPIEGEL.de)

Lieber originelle Barbarei als anödende Humanität. Richtig und falsch, wahr oder unwahr, sind Kategorien von Hinterwäldlern. Ströbele, einer der aufrechtesten Politiker dieses Landes, wird vom SPIEGEL wegen seiner Treue zu sich und

seinem Lebensstil als Spießer charakterisiert:

„In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurde er als APO-Anwalt berühmt, gemeinsam mit Horst Mahler und Otto Schily. Doch während sich der eine zum Rechtsradikalen wandelte und der andere als Law-and-Order-Minister Karriere machte, blieb der grüne Bundestagsabgeordnete seinen frühen Überzeugungen treu, genau wie seinem eher bürgerlichen Lebenswandel. Als die Kommune 2 die freie Liebe testete, heiratete er kirchlich in Paris. Und die bevorzugte Droge in seinem Büro war eine Flasche Eierlikör. Heute tritt Ströbele zum letzten Mal im Bundestag auf, und vielleicht werden ihm einige seiner Fraktionskollegen die alte linke Weisheit nachrufen: Manchmal ist der Spießer der konsequenteste Rebell.“ (SPIEGEL.de)

In grauer Vorzeit waren Spießer griesgrämige Traditionalisten – die sich heute Konservative nennen.

Heute sind Spießer zu Dandys des blinden Fortschritts und eines galoppierenden Zeitgeistes geworden, die sich täglich neu erfinden müssen – um mit wechselnden Maskierungen zu kaschieren, dass sie uralte Geschichtsmythen in Wiederholungsschleifen exekutieren.

Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, war das Motto eines deutsch-europäischen Glücksfalls der Geschichte und das seiner überaus wendigen Nachfolgerin – die ihr Geschwätz allerdings nicht Geschwätz, sondern Gewissensentscheidung in Würde und Tiefe nennt.

In einem System beschleunigter Misologie – Verachtung der Vernunft – ist ein berechenbarer Menschenfreund nicht nur manchmal der konsequenteste Rebell, sondern ein Widerständler in Permanenz.

Wenn Wahnsinn epidemisch wird, spricht man von Hass auf die Gegenwart. Unseren Lebensstil zukunftstauglich machen, bedeutet, die Gegenwart unter sich vernichten, um mit einem Sprung ins Futurische zu hüpfen, das man sofort liquidieren muss, um erneut abzuheben und endgültig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Auf Erden haben wir keine bleibende Polis.

Jener Satz heißt im Original: Wenn Wahnsinn epidemisch wird, spricht man von Vernunft. Da bleibt nichts anderes übrig, als Vernunft psychiatrisch zu kasernieren und unter digitale Drogen zu setzen.

Futurische Korrektheit ist die politische Korrektheit von heute. Zukunftstauglichkeit ist zum Hass auf die Gegenwart geworden. Die systematisch erzeugte und immer weiter um sich greifende Abstiegsangst ist die Angst, aus dem sicher scheinenden Jetzt in eine ungesicherte Zukunft abzustürzen.

Nun sollen auch die Frauen in den Arbeitsmarkt integriert werden, als sei er der sichere Hort des Lebens. Von der Integrierung des Mannes ins freudige Leben spricht niemand. Da dem sicheren Arbeitsmarkt der Boden unter den Füßen weggezogen wird, damit jeder frei über dem Abgrund schwebt, müsste jedem klar sein, dass auch die Frauen der Gegenwart entzogen und über dem Abgrund der Zukunft schweben sollen.

Merkels Rede über das Gemeinsame kommt ohne den kleinsten Hinweis auf Wettbewerb, in-den-Schatten-Stellen der Konkurrenten und ökonomische Eigensucht aus. Das zeichnet nüchterne Pragmatikerinnen aus, dass sie sich mit der Beschreibung der ernüchternden Realität nicht aufhalten. Es ist wie im europäischen Vertrag, wo abendländische Werte jede reale Solidarität verbieten.

Gemeinsamkeit hieße Gespräche führen, um das Gemeinsame zu erkunden und das Trennende zu überwinden. Dieses allgemein Verbindliche zu suchen, hieß von alters her, sich der Vernunft hingeben. Glaube ich an die gemeinsame Vernunft, gehe ich zwar von mir aus, mache aber zum Maßstab des Verbindlichen nicht mich, sondern das Gesuchte, das alle Beteiligten für richtig halten können.

Der individuelle Partikularismus muss überwunden werden durch den Universalismus der Menschheit, in der jeder Einzelne sich wiederfinden kann. Man muss nicht nur Abstriche und lähmende Kompromisse schließen, wenn man das Gemeinsame sucht. Das Universelle ist die künftige Heimat der Menschheit.

Was Merkel unter Gemeinsamkeit versteht, hat sie in ihrer Reaktion auf die von der SPD „erzwungene“ Abstimmung über die Ehe für alle zu erkennen gegeben:

»Mir ist es fremd, wie eine solche Entscheidung genau in dem Moment, als sich die realistische Aussicht auf ein fraktionsübergreifendes Vorgehen ergab, in eine parteipolitische Auseinandersetzung gezogen wurde«, sagte Merkel der Wirtschaftswoche. »Das ist traurig und es ist vor allem auch völlig unnötig.« Die CDU-Vorsitzende bekräftigte erneut, dass jeder Abgeordnete seinem Gewissen folgen können soll. »Ich wünsche mir, dass wir das gerade auch in Zukunft in großem Respekt voreinander und vor den unterschiedlichen Sichtweisen tun«, sagte Merkel. Dabei zeigte Merkel Verständnis für all diejenigen, die für ihre Haltung zur Ehe für alle kritisiert werden. »Wir sprechen nicht über eine gesetzliche Fußnote, sondern über Artikel 6 unseres Grundgesetzes.« Dort heißt es: »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.«“ (ZEIT.de)

Wie bestraft eine deutsche Mutter ihre ungezogenen Bälger am wirksamsten? Mit Traurigkeit. Nichts Schlimmeres für Kinder als ihre Mutter traurig gemacht zu haben. Gegen Argumente kann man sich verteidigen, emotionale Angriffe mit Gegenangriffen parieren – gegen leidende und duldende Traurigkeit aber ist im Land der Bergprediger kein Kraut gewachsen. Das Verworfenste, was ein Kind tun kann, ist, ein wehrloses anderes Geschöpf zum Leiden zu bringen.

Es gibt objektive Gründe, warum Frauen im Kulturkreis des heiligen Leidens nicht aggressiv und wehrhaft werden durften. Die Umwertung aller Werte mussten sie am dringlichsten verinnerlichen, da sie der körperlichen und geistigen Übermacht der Männer nichts entgegenzusetzen hatten.

Die Dominanz der heidnischen Welt durch militärische Gewalt und gedankliche Überlegenheit konnte man nur überlisten, indem man sich wehrlos gab – aber seine Unterlegenheit auf Erden durch Sieg im Jenseits ins triumphale Gegenteil verkehrte. Die leidende Kirche war der Status der Gläubigen im Diesseits, die triumphierende Kirche der Schlusschor der Seligen im Himmelreich.

Selig sind die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden. Selig die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Endreich der Himmel. Gott ist mächtig in den Schwachen. Freuet und frohlocket, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln. Siehe, wir preisen die selig, die ausgeharret haben.

Die Bergpredigt ist keine Botschaft der Sanftmütigen, sondern der unerbittlich sich rächen Wollenden. Das effektivste Mittel der Rache war scheinbare Sanftmut auf Erden. Umso erbarmungsloser das Siegesgeheul der Frommen über ihre am Boden zerstörten irdischen Feinde und Gegner im Reich der Himmel.

Der Kapitalismus der hellenistischen Diadochenreiche war so unangreifbar, dass den unterlegenen Frommen nichts übrig blieb als futurische Kompensation im Himmelreich. Doch das galt primär für die besiegten Männer. Was blieb den gänzlich rechtlosen Frauen dieser besiegten Männer anderes übrig, als ihre totale Unterlegenheit durch die religiösen Jenseits-Illusionen zu besiegen?

Und diese Mittel waren: die Ersten – die mächtigen Heiden – werden die Letzten im Himmelreich sein. Also mussten die Frauen die Allerletzten sein, um die Allerersten zu werden. Sie mussten sich sowohl der Macht der männlichen Besatzer als auch der Macht ihrer häuslichen Tyrannen unterwerfen, um beide Männerklassen durch Dulden und Leiden irreversibel zu besiegen.

Die Lage der besiegten Völker in der hellenischen Epoche, erst recht im Reich der gnadenlos harten Römer, war so ausssichtslos, dass es nur einer duldenden Religion gelingen konnte, die Machthaber eines jenseitigen Tages vor Gottes Gericht zu ziehen, um sie fürchterlich zu bestrafen. Der christliche Glaube wurde zur letzten Hoffnung (wider alles irdische Hoffen) der durch die Dominanz mehrerer Männerklassen unterdrückten Frauen.

Frauen gehörten zu den ersten Gläubigen. Schon der Leidensgang des am Marterkreuz getöteten Christus wurde vor allem von Frauen begleitet. Männer waren zu dieser Solidarität mit einem Gekreuzigten und Geschändeten kaum in der Lage. Selbst unter den privilegierten zwölf Jüngern gab es offensive Verräter. Judas war der eine und Petrus – der Stein, auf dem der Herr seine Kirche errichten wollte – der andere, der beim dritten Krähen des Hahnes seinen Herrn verriet. (Weshalb auf protestantischen Kirchen oft ein Hahn und kein golden glänzendes Kreuz zu sehen ist.)

Die Frauen sahen keine andere Möglichkeit, sich der Suprematie der Männer zu erwehren, als sich in die Hände eines omnipotenten Mannes zu begeben, der ihnen Seligkeit in einer illusionären Zukunft versprach. Bis zum heutigen Tage haben sie sich der Männer im Privaten und Politischen zu erwehren. Das ist der Grund ihrer so mühsamen Befreiung in der Geschichte des Abendlands.

Wie die Grünen von ihren naturphilosophischen Anfängen ins Biblische regredierten, so hat auch der Feminismus es bis heute nicht gewagt, den offiziellen Kampf gegen seine eigentlichen Unterdrücker aufzunehmen – und das sind nicht nur die Kleriker der Kirche mit ihren Offenbarungs-Schriften, sondern auch die Herrschaft der kapitalistischen Männer.

Ihre endgültige Befreiung sehen sie ausgerechnet in der Flucht – ins Reich der herrschenden Wirtschaftsmänner. Noch lassen sie sich einreden, außerhalb des „Arbeitsmarktes“ – die moderne Vokabel für Sklavenmarkt – könne es keine Freiheit und Selbstbestimmung geben. Durch Gleichsetzung der christlichen Familie mit dem „Heimchen-am-Herd“ wird ihnen eingebleut, alles außerhalb des Männerbetriebes sei Unfreiheit, Kitsch und Kinderterror.

Kinder seien die Ursachen des elterlichen Unglücks. Sie seien schlimmer als der Tod eines Partners. Jede sachliche Kosten-Nutzen-Rechnung spräche gegen Kinder:

„Rein vernünftig geht es aber bei der Kinderentscheidung auch nicht zu – wer wirklich ein rationales Kosten-Nutzen-Kalkül mit Blick auf sein persönliches Wohlbefinden anstellen würde (ganz zu schweigen von einem Blick auf die Überbevölkerung unseres Planeten), würde sich kaum für Kinder entscheiden. Denn dem instinktiven Gefühl, dass Kinder zum persönlichen Glück maßgeblich beitragen würden, stehen nicht mehr nur all die Erfahrungsberichte gestresster Eltern im persönlichen Umfeld entgegen, sondern mittlerweile auch etliche wissenschaftliche Studien. Was mit Kindern auf lange Zeit unvereinbar bleibt, ist alles andere im Leben, an das sich zunehmend ältere Erstgebärende und Erstzeugende über lange Jahre gewöhnt haben: Freiheit, „Zeit für mich“, Ausschlafen, kurzfristige Verabredungen mit Freunden, spontaner Sex am Sonntagmorgen, Tanzabende, Kinobesuche.“ (ZEIT.de)

Wäre eine Familie mit Kindern ein Dasein in Unfreiheit, gäbe es in einer Demokratie kein einziges Revier der selbständigen, politischen Betätigung. Wenn alle Erwachsenen, Männer und Frauen, gemeinsam unter der Knute des Malochens stünden: wer sollte da noch Zeit und Muße finden, sich um die Belange der res publica zu kümmern?

Inzwischen frisst der immer aufwendigere Kapitalismus seine Opfer mit Haut und Haaren. Bald werden sie rund um die Uhr erreichbar und verfügbar sein müssen. Unbezahlte Überstunden werden sang- und klanglos als Voraussetzungen eines Karrierejobs verlangt. Dann wundern sich Fachleute und Laien, wenn der Abstand der Reichen zu den Abgehängten immer größer wird.

Auf allen Ebenen wird legaler Raub zur Quelle der Habenden und zur Ursache der zunehmenden Instabilität und Armut der Nichtshaber. Das Matthäus-Prinzip ist Realität geworden: wer hat, dem wird gegeben und er wird Überfluss haben. Wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat. Und die unnützen Knechte werfet in die Finsternis.

Die intakte Familie als Hort solidarischer Geborgenheit ist das Gegenteil der christlichen Familie. Sie ist das letzte Überbleibsel der matriarchalischen Sippe, in der es keiner Über- und Unterordnung bedurfte. Hier begegneten sich die Geschlechter und Generationen als freie und fürsorgliche Menschen.

Die christliche Familie ist ein Schlachtfeld der unerbittlichen Konkurrenz von jedem mit jedem um die raren Plätze im Himmelreich:

„Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“

Um nicht in sündhafte Liebe zum eigenen Fleisch und Blut zu fallen, gaben amerikanische Puritaner ihre Söhne im pubertierenden Alter in fremde Familien. Das war der Ursprung des heutigen pädagogischen Dogmas, sich rechtzeitig voneinander zu lösen. Es soll keine liebende Solidarität zwischen den Familienmitgliedern geben. Jeder soll sich von jedem losreißen, um nicht die Strafe des eifersüchtigen Gottes auf sich zu ziehen.

Warum müssen Eltern in amerikanischen Filmen ihren Kindern ständig versichern: ich liebe dich? Weil Liebe zu Familienangehörigen mangelnde Liebe zu Gott bedeutete und somit eine Todsünde war. Die Liebe muss bezeugt werden, weil sie religiös verboten war.

Warum ist die katholische Ehe traditionell unauflösbar? Weil ehelosen Popen nicht der Versuchung durch familiäre Liebe ausgesetzt sind und sie also von anderen verlangen können, wovon sie selbst befreit sind.

Sich lösen im Sinne selbständigen Reifens wäre sinnvoll. Lösen, um solidarische Gefühle zu unterminieren, ist menschenfeindlich.

Inzwischen ist Lösen zum allmächtigen Herrschaftsmittel des Kapitals geworden. Menschen, die ohne jeden sicheren Rückhalt in der Luft schweben, sind leichte Beute des macht- und geldgierigen Molochs. Je mehr sie sich familiär voneinander lösen, umso familiärer sollen die Gefühlsbeziehungen in den Betrieben werden. Nicht wenige Start-ups, die sich nicht scheuen, Liebe zum emotionalen Modul ihrer „flachen Hierarchie“ zu machen.

Merkel bestraft ihre Untertanen nicht mit Argumenten. Natürlich debattiert sie nicht. Sie spricht von ihrer subjektiven Befindlichkeit, die sie zum Maß des Allgemeinen erhebt. Das also ist das Gemeinsame, das sie unablässig predigt. Das Objektive, das in ihrer Regierung, in Deutschland und Europa gelten soll, entnimmt sie dem Blick auf ihre eigene Befindlichkeit.

Was ihr fremd ist, muss falsch sein. Was sie nicht fühlt und für richtig empfindet, darf sich nicht erkühnen, gegen ihre Macht aufzubegehren. Das Bedürfnis nach klärenden Gesprächen, nach dialogischem Brückenschlag – ist gleich Null. Hier offenbart die deutsche Innerlichkeit ihre unterdrückten Herrschaftsgelüste. Die Kinder – sprich ihre Untertanen – haben gefälligst die Gefühle der Mutter zu erahnen, um sich ihnen stillschweigend zu unterwerfen.

Muttern hat den Höhepunkt ihrer Macht erreicht, ja überschritten. Noch nie war sie gezwungen, die Instrumente ihrer Macht so offen zu legen. Bislang konnte sie sich darauf verlassen, dass ihre großen Muttersöhnchen – sprich: die Edelschreiber – sich in ihre Nöte und Lage versetzen konnten und im forschen Ton der Mutterversteher für Schonung der Geplagten plädierten. Bei BILD schreiben noch immer ödipale Mutti-Empathiker, die Merkel beim G-19-Gipfel in der Zange diverser Machos sehen. Umso dringlicher die Pflicht des neuen Lieblingssohnes Macron, der sie aus den Fängen dieser Brutalinskis erretten soll. Wehe, er tut es nicht.

Dabei gebietet die Leidende über die – in Deutschland für normal gehaltene – unfassliche Macht über das Gewissen ihrer Partei. Nach Belieben gibt sie das Gewissen frei, nach Belieben nimmt sie es in babylonische Gefangenschaft – die hierzulande Fraktionszwang genannt wird. Gewissenlos paukt sie etwas durch – oder erlaubt eine generöse Gewissensentscheidung.

Was ist ein Gewissen? Überall heißt es, Gewissen sei die Erfindung des Christentums. Gewiss aber die Luthers. Die Entscheidung des Sokrates, sein Leben für tugendhafte Integrität hinzugeben, gilt nichts unter heidenfeindlichen Theologen. Gewissen ist für sie Gottes Stimme, Mitwissen ihres Schöpfers um die geisterwirkte Reinheit ihres Herzens.

Sokrates berief sich auf Vernunft. Christliche Parlamentarier berufen sich auf die göttliche Legitimation ihrer Motive. Was ist menschliche Vernunft gegen die Stimme eines Gottes?

Die repräsentative Demokratie soll eine bessere sein als die direkte in der athenischen Polis. Die gewählte Repräsentanz der Abgeordneten soll eine Pufferzone zwischen dem pöbelhaften Willen des Volkes und der letztgültigen Entscheidung der Regierung bilden.

Der Vernunft des Volkes wird misstraut. Gewählte Eliten scheinen rationaler und nüchterner zu sein als der zufällige und undisziplinierte Wille der Mehrheit. Die Abgeordneten sind ihrem Gewissen verpflichtet – wenn Muttern es erlaubt. Der Pöbel scheint kein Gewissen zu haben.

Ginge es nach dem ungefilterten Willen der Mehrheiten, hätten sich die Volksherrschaften schon längst national zerlegt und international zerfleischt. Na klar: schon immer haben die Machthaber sich vergeblich bemüht, die Kriegslüsternheit ihrer Massen zu zügeln. Schon immer waren internationale Finanzkrisen die Folgen der Börsen-Spekulationen von Hartz-4-Empfängern. Schon immer waren die Führungsklassen der Hort des Anstands und der Moral.

Luthers Gewissen war eine Absage an die Vernunft der Menschen. Im Gewissen spricht Gott die sündige Kreatur schuldig. Erst wenn diese Schuld bereut wird, kann der Bußfertige auf die Gnade des Herrn und eine reine Gewissensentscheidung hoffen:

„Martin Luther (1483-1546) bestritt die Existenz eines „Hanges zum Guten“ und brach mit dem Naturrecht (dem Vernunftrecht der Griechen). Er hatte die Erfahrung gemacht – besonders bei seinen Klosterkämpfen –, dass Menschen eher einen Hang zum Bösen haben. Sie tun ständig Böses; und ihr Gewissen „zittert, zuckt, zappelt und zagt“, weil es zwar Böses nicht verhindern, aber feststellen kann, dass sie Böses tun. Mit ihrem schlechten Gewissen durchlitten sie „Tod, Hölle, Fegefeuer und den Zorn Gottes“ mitten im Leben. Ihr gequältes Gewissen könne aber von Gott befreit und gerechtfertigt werden, wenn sie auf Christi Erlösungstat vertrauten und glaubten, dass Gott dort Gutes wirke, wo sie Böses getan haben. Daraus entstehe ein „getröstetes Gewissen, das alle Tränen und Tropfen menschlicher Beschwernisse aufzehrt wie die Mittagssonne den Tau.“ (Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon)

Wenn Merkel – ausnahmsweise – die Stimme des Gewissens zulässt, intendiert sie keinen rationalen Dialog, sondern das innere Gespräch der Abgeordneten mit ihrem Gott. Wenn sie wieder einmal einige ihrer heiligen Überzeugungen auf dem Markt der Opportunisten verkaufen, soll ihre Entscheidung wenigstens im göttlichen Schimmer der Unfehlbarkeit leuchten. Merkel wünscht sich Respekt vor der Meinung jener, die gerade dabei sind, ihre Meinungen meistbietend zu verhökern.

Man weiß ja, wie zartfühlend die Pastorentochter mit den Meinungen jener Länder umgeht, die sie für liederlich und störrisch hält. Sie allein ist zartfühlend, sensibel und trägt Verantwortung in Demut.  

Was müssen das für hartknochige Widersacher sein, die eine solche Mutter zum Trauern bringen? Undankbare Deutsche: eine solche mater dolorosa habt ihr nicht verdient.

 

Fortsetzung folgt.