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Neubeginn XXIII

Hello, Freunde des Neubeginns XXIII,

Sehnsuchtsländer brauchen Jahrhundertfiguren. Als ob die Deutschen ihre nationalen Schleusen geöffnet hätten, lassen sie ihre großen Männer jetzt in die Arena purzeln. Um in den Klub der Giganten aufgenommen zu werden, empfiehlt sich ultimatives Ableben (Kohl), ein putzmunterer höherer Geburtstag (Sloterdijk) – oder die Reanimierung einer maroden Partei (Schröder).

Große Frauen kann es keine geben – trotz ehrgeizigen weiblichen Nachwuchses protestantischer Pfarrhäuser, die bereits nach dem Tode Gottes ihren Höhepunkt überschritten hatten.

Man kann nur eins: sich für ewigen Ruhm aufblasen oder für Leben und gutes Leben verantwortlich fühlen. Um des Ruhmes willen riskieren groß-sein-wollende Männer das Leben, was sie Fortschritt nennen. Um des Lebens willen verschmähen Frauen den Blasebalg-Ruhm, weshalb sie sich noch immer minderwertige Gefühle einreden und den Fortschritt der Männer gefallen lassen.

Wen meinte Steve Jobs wirklich, als er schwanzlose Arschlöcher (dickless assholes) attackierte? Jene Wesen, denen die Natur einen belastbaren Menschenverstand und eine göttliche Vagina verlieh.

Ein halbes Jahrhundert zur Resozialisierung der suizidalen Berserkernation muss genügen, damit reuige Sünder sich berechtigt fühlen, wieder eine stolze Summa zu ziehen.

Es begann mit Reihenhäuschen und dem millionsten VW. Heute wird nach VW-Betrügern international gefahndet, Wohnungen wurden Mangelware und der BER wird erst im nächsten Jahrhundert fertig. Zum Ausgleich der Schandflecke haben wir Wiedervereiniger, Geistesriesen und propere Kampfrhetoren. In Paradiesen und Sehnsuchtsländern hat es keine Flecken zu geben – und also gibt es keine. Je älter die Heroen werden, umso jahrhundertmäßiger können sie sich aufblähen. Die

Schubladen der Nekrologen in den Redaktionsstuben quellen über.

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir dahin.“

Mühe und Arbeit heißen mittlerweilen Malochen. SPD-Kandidaten sind praktizierende Psalmisten, wenn sie ihr Rednerdasein den Malochern widmen, damit diese ihr „hart arbeitendes“ Leben endlich köstlich finden. Lebensfrohen Demokraten widmen sie ihre Brüll- und Quasselarbeit nicht.

Noch befinden sich die Führungsproleten im Stand archaischer Selbstbestrafung. Dornen, Disteln vom verfluchten Acker müssen sie nicht mehr vertilgen, doch Fron der Lohnabhängigkeit und Angst vor dem Versagen haben sie bis an den Sankt Nimmerleinstag zu tragen.

Die Proletenpartei will Leistungsgerechtigkeit. Ohne Leistung keine Kohle. Ohne bestimmte Leistung keine Kohle. Ohne konjunkturfördernde Männerleistung keine Kohle. Leistungen im Dienste des Lebens hingegen sind minderwertige Weiberangelegenheiten und verdienen es nicht, mit Lohn gewürdigt zu werden.

Leben an sich ist keine Leistung und muss mit dem Tode bedroht werden, wenn es sich zu vorgeschriebenen Leistungen nicht erpressen lässt. Wer nicht arbeiten will – bis neue Maschinen seine Arbeit vernichten, dann in neuer Abhängigkeit mit neuen Maschinen wieder arbeiten will, bis die nächste Maschinengeneration ihn erneut arbeitslos macht und so fort in aller endlosen Beschleunigung – der soll auch nichts essen. Das Alte Testament der Proleten ist die Maloche, das Neue Testament der Fortschritt, der ihre Arbeit regelmäßig vernichtet.

Jetzt sind wir bei Punkt 4.0 angelangt. Da die Zahlenreihe unendlich ist, steht den Malochern noch eine endlos lange disruptive Zukunft bevor. Disruption heißt: ich muss vernichten, was ich soeben für den Höhepunkt der Arbeit hielt. Hier gilt das Gesetz der Erneuerung. Nein das Gesetz des Neuen, das auf totaler Vernichtung des Alten beruht.

Die Natur erneuert sich durch Regeneration des Ewig-Gleichen. Hier ist das Neue nicht der Tod des Alten.

Dass das Neue das Alte vernichten muss, ist das verhängnisvollste Gesetz der Menschengeschichte. Nicht nur Dinge können todeswürdig veralten, sondern Menschen verschiedener Rassen, Intelligenzstufen, Lebensvorstellungen und erworbener Machtfülle. Wer nicht die Kriterien jener erfüllt, die sich anmaßen, solche Kriterien nach eigenem Bilde festzusetzen, der darf auf dem ruinierten Planeten alleine zurückbleiben.

Leben in Selbstbestimmung, leistungsloses Leben, ist in der Moderne nicht schützenswert. In einem würdelosen Abhängigkeits-System ist die Würde des Menschen unbegrenzt angetastet. Würdelos ist die Erniedrigung des Menschen unter die Reglementierung eines Fremden, der unter seiner Würde die Entwürdigung anderer versteht.

Linke und Rechte glauben unisono an die Religion der Arbeit. Was die Voraussetzung der Kompatibilität aller Parteien ist. Das Recht auf arbeitsloses Leben, das sich allein dem Leben widmet, wurde selbst von Paul Lafargue, dem Lobredner der Faulheit, ans Ende der Geschichte verschoben. Der Geist des Kapitalismus bleibt – nach Marxens Schwiegersohn – „beherrscht vom Lohnsystem, der schlimmsten aller Sklavereien. Die Zeitgenossen begreifen noch nicht, dass die Maschine der Erlöser der Menschheit ist, der Gott, der den Menschen von den sordidae artes (den schmutzigen Künsten) und der Lohnarbeit loskaufen, der Gott, der ihnen Muße und Freiheit bringen wird.“ (Das Recht auf Faulheit)

Der Lobredner der Muße konnte nicht voraussehen, dass Maschinen die Menschen dadurch erlösen, dass sie sie noch mehr versklaven und ihnen jede Würde rauben. Schon immer wurden Maschinen als Heilsbringer der Malocher angepriesen und schon immer dezimierten sie das ohnehin lädierte Maß ihrer Autonomie. Je autonomer ihre Maschinen, je abhängiger und würdeloser werden die Menschen. Das Endergebnis ist abzusehen. Die Menschen werden überflüssig und können eines Tages von der Tenne verschwinden.

Es ist unsinnig geworden, von Chancen und Risiken des Fortschritts zu reden. Die Chancen werden hinterrücks in Gefahren verwandelt. Die Menschheit bestimmt, welche Zukunft sie gestalten will – und keine Minderheit, die Demokratie und Humanität verlästert. Im Verlauf seiner Geschichte hat der Mensch endlose Möglichkeiten und Unmöglichkeiten erfunden. Als demokratisches Subjekt entscheidet er allein, welche er davon in Realität umwandeln will, um sein Leben zu erleichtern – ohne in die Sklaverei jener digitalen Genies zu verfallen, die diese Maschinen am raffiniertesten für eigenen Machterwerb ausbeuten. Es muss aufhören, dass der Mensch sehenden Auges in die Fänge eines Orwell‘schen Überwachungsimperiums hineinschliddert.

Bernie Sanders fordert in seinem erstaunlichen Buch „Unsere Revolution“ eine radikale Umverteilung, das Ende des „too big to fail-Prinzips“, die Entmachtung der ungeheuer reichen und mächtigen Milliardäre – die längst zu den eigentlichen Entscheidern des Planeten geworden sind. Die Demokratien auf dem Papier werden die EINPROZENT-Cliquen solange unangetastet lassen, solange sie den Aufstand der Massen fürchten. Die Abhängigen sollen sich in der Illusion einer scheindemokratischen Existenz sicher fühlen und Ruhe geben. Was Sanders für Amerika fordert, gilt für die ganze Welt:

„Für die Umgestaltung Amerikas sind mehr als nur Wahlen erforderlich. Es bedarf eines Kulturwandels. Fordert von den Medien, dass sie sich mit den wahren Problemen unseres Landes und der Welt beschäftigen, statt nur mit politischen Klatsch und Tratsch. Unser Ziel muss sein, die sich rasant entwickelnde Technologie dafür zu nutzen, das Leben unserer Menschen zu verbessern, und nicht dafür, die Arbeitslosigkeit zu vergrößern oder in unsere Privatsphäre einzudringen. Die tiefere Krise ist die Begrenzung unserer Vorstellungkraft, die einem unglaublich mächtigen ökonomischen, politischen und medialen Establishment zum Opfer fällt, das uns jeden Tag auf millionenfache Weise sagt, dass eine echte Veränderung undenkbar und unmöglich sei. Dass wir uns mit dem Status quo zufrieden geben müssen. Dass es keine Alternative gebe. Ja, wir können die heute herrschende unersättliche Gier beenden und eine Wirtschaft aufbauen, die der Armut ein Ende setzt. Ja, wir können eine lebendige Demokratie schaffen, in der informierte Staatsbürger über die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, debattieren. Ja, wir können den Klimawandel wirksam bekämpfen und unsere Energieversorgung von fossilen Brennstoffen auf nachhaltige Energiequellen umstellen. Nein, wir werden diese Ziele nicht erreichen, wenn wir die Demokratie nur aus der Zuschauerperspektive betrachten.“

Vor allem die Medien glauben, die Realität objektiv schildern zu können, ohne ihre voyeuristische Rolle aufgeben zu müssen. Am liebsten würden sie die Apokalypse der Menschheit schildern, als ob sie in den Logen der Engel säßen.

Keinen einzigen Satz von Sanders kann man in den Reden der SPD-Granden hören. Ein bisschen mehr oder weniger Rente, ein bisschen mehr oder weniger Steuern, sonst nichts als Koalitionsgetöse. Weil Schulz es nicht bringt, musste er einen Anheizer akzeptieren, den er wegen Kniefalls vor dem Neoliberalismus am schärfsten kritisieren müsste.

Im Klima der GROKO sind die Proleten vom Gift der Macht derart verseucht, dass sie Opposition nur noch als „Mist“ empfinden (Müntefering). Schulz spricht von Gerechtigkeit und Fortschritt, als ob diese beiden Begriffe – solange Fortschritt technisch ist – vereinbar wären. Wie bei Merkel gilt bei der SPD: der Mensch ist für Arbeit und den Fortschritt da. Eine Befreiung von technischer Allgewalt und immerwährender Arbeit ist bei Schulz nicht zu sehen.

„Ihr Haar ist Ihnen nicht ausgefallen oder weiß geworden. Einen wie Schröder gibt es nicht mehr in der SPD. Vater gefallen, Mutter Putzfrau, zweiter Bildungsweg, beim Fußball nannte man ihn „Acker“, weil er gegen alles trat. Toller Tennisspieler, Aufsteiger, Kanzler, Brioni-Anzug-Träger. Vier Ehen. Ja, man kann sagen, dass Gerhard Schröder eine Legende ist. (BILD.de)

Unter Jahrhundertfiguren und Legenden machen‘s die Medien nicht. Alle hymnologischen Inhalte sind außerpolitischer Natur. Warum man nur mit vollem Haupthaar ein guter Politiker sein kann, bleibt ein Rätsel. (War da nicht mal was mit gefärbten Haaren?) Warum man ein toller Tennisspieler, ein Brioni-Anzugträger sein muss, bleibt so unerfindlich, wie Merkel eine Physikerin sein muss, um rational zu denken – als ob Naturwissenschaftler per se demokratisch-vernünftige Wesen wären. Wie viele aus den Fakultäten dieser Kühlen und Kalten waren Mitläufer des Grauens?

Inzwischen haben sich fast alle Universitäten in Abhängigkeit der Waffenindustrie und mächtiger Monopole begeben. Selbst das Ende des lästigen Humboldt‘schen Bildungsideals wird gefordert. Eine Wissenschaft um der Erkenntnis willen gibt es nicht mehr. Fast alle Hochschulen haben sich als Söldner der Macht und des Geldes verdingt.

„Bis heute wird Humboldt immer dann von Politikern, Professoren und Studenten hervorgeholt, wenn sie sich gegen Veränderungen zur Wehr setzen wollen. Das hat etwas Reaktionäres. Drei Humboldtsche Postulate hört man besonders oft: die zweckfreie Bildung, die Freiheit von Forschung und Lehre sowie die Einheit von Forschung und Lehre, also die Idee, dass Studenten und Professoren in freundschaftlicher Eintracht miteinander forschen und gute Lehre allein aus guter Forschung entspringt. Humboldts „Zweckfreiheit“ jedoch war in der Vergangenheit zu oft ein Vorwand, sich um genau diese Praxisnähe keine Gedanken machen zu müssen. Die „Freiheit von Forschung und Lehre“, eine so große wie wichtige Errungenschaft, diente zu oft als Begründung, sich in den Elfenbeinturm zurückzuziehen. Und Humboldts Ziel der „Einheit von Forschung und Lehre“ schuf nicht etwa ein Gleichgewicht von Forschung und Lehre, sondern verfestigte ein Primat der Forschung: Der ganze Universitätsbetrieb ist auf sie ausgerichtet.“ (ZEIT.de)

Was für eine kleine Elite vielleicht gut gewesen sei, könne für eine Massenuniversität nicht mehr gelten. Doch, was gut ist, hängt von der Qualität des Guten und nicht von der Zahl der Studenten ab. Gerade der Elfenbeinturm war allzu oft der Schutz der Erkennenden vor dem lüsternen Begehren der Mächtigen.

Was nicht bedeutet, dass die Gelehrten sich nicht politisch hätten einsetzen dürfen. Interessen einer militanten Nation sind nicht die Interessen von Wahrheitssuchern. Als Adorno sich nach herben Enttäuschungen in den Elfenbeinturm zurückzog, war er nicht als Theoretiker gescheitert, sondern als homo politicus. Eine zweckfreie Bildung hat sich einem einzigen Zweck zu widmen: den Gesamtinteressen und dem Wohl der Menschen.

Die SPD hat alle internen Differenzen unter den Teppich gekehrt und tritt als geschlossene Formation auf. Das wird von allen Beobachtern gelobt. Doch es ist eine Schwäche, wenn vitale Debatten in politischen Gruppierungen nicht mehr möglich sind. Die offene Gesellschaft wird von jenen gerühmt, die jetzt eine geschlossene Partei für gut halten.

Für Schröder zählt nur noch der von allen Zweifeln freie Wille zur Macht. Das war einst die ideologische Grundlage deutscher Übermenschen. Wenn Schröder sich rühmt, das Parteiprogramm nicht gelesen zu haben, ist sein subjektiver Machtinstinkt der einzige Maßstab seiner Politik.

Private Belanglosigkeiten im Dienst eines unbedingten Willens zur Macht – sind Symptome einer politfreien Zone mitten in der Politik. Die Stützpfeiler des Sehnsuchtslandes sind in mehr als 50 Jahren fast unverrückbar geworden, die Wirtschaft läuft auf immer schnelleren Touren – Herz, was willst du mehr? Deutschland hat sich zu einem steinernen Gebilde verhärtet. Niemand will Veränderungen – außer jenen, die mit technischem Schnickschnack ihre futurischen Erregungskurven ins Wallen bringen wollen.

Es gibt nur noch eine einzige Veränderung: die rasende Vergrößerung der Gewinnzahlen. Alles andere erstarrt zu Granit. Die Klassen werden immer undurchdringlicher. Es gibt inzwischen mehrere Völker, die im Rahmen einer Nation nebeneinander leben.

Die Wahlkämpfe amerikanisieren sich. Obama war stilbildend. Mit weißen, verschwitzten Oberhemden, in der Pose hart Arbeitender, nicht ohne spontane Zwischeneinlagen – wer nimmt mir meine Jacke ab, im Saal ist so heiß?– zeigen sie schwer malochende, dennoch so sympathisch authentische Zeitgenossen, dass das Publikum wie die Fangemeinde eines Popstars ins Wogen gerät. Alles inszeniert, alles künstlich, alles eine Mischung aus Oscar-Verleihung und Massengottesdienst à la Bill Graham.

Alle durchschauen die Tricks – und alle machen mit. Das ist Massensuggestion als perfekte Selbstsuggestion. Danach der Sturz in den Abgrund des Drogenentzugs. Unter den Claqueuren immer die Medien, die im Stil von Theaterkritikern die Finessen der Inszenierung bewerten. Der Inhalt des Stückes mag sein, wie er will.

»Es darf auf dem Weg keinen Zweifel geben«, ruft Schröder. »Nicht beim Kandidaten, aber auch nicht bei euch in der Sozialdemokratie.« Ohne Geschlossenheit, und das weiß kaum einer so gut wie Altkanzler Schröder, geht erst recht nichts.“ (SPIEGEL.de)

Kunst darf nicht politisch, Politik muss theatermäßig sein. Es gibt keine Positionen mehr, die miteinander um die Gestaltung der Zukunft ringen dürften. Weshalb das Thema Gerechtigkeit nur unterdrückten Bedürfnissen der Jugend entspricht, die in einer kollektiven Explosion den Kandidaten zum Heros ihres Herzens erkoren. Doch schon nach Tagen starb die Begeisterung, weil die Kälte der Profis alle Leidenschaften in der Wiege erstickten.

In einer linken Zeitung wird das Bessermachen-wollen der Welt – Kern aller Politik seit Erfindung der Demokratie – als Gefasel abgemeiert:

„Es gab aber auch die Grüne Dreifaltigkeit aus Welt-besser-machen-Gefasel, Wir-sind-die-Allertollsten-Chauvinismus und identitätsstabilisierenden Feindschmähungen (Trump, Lindner, Palmer).“ (TAZ.de)

Peter Unfried zerreißt urdemokratische Gewissheiten, als seien sie Produkte inquisitorischer Ketzerrichter. Wer sollte noch antreten, wenn er nicht den Anspruch hätte, die Welt zu einer besseren zu machen? Und wenn er nicht glaubte, die Welt realistischer wahrzunehmen und bessere Problemlösungsvorschläge zu machen als seine Konkurrenten – über deren Richtigkeit ein waches Publikum abzustimmen hat?

Sie verteufeln gedankliche Besserwisser und überlassen die Zukunft technischen Alleswissern. Das Volk hat keine Meinungen zu äußern, weil es die Komplexitäten der Algorithmen nicht verstehen kann.

Jeder Kampf der Geister wird degradiert zu Feindschmähungen. Kritik wird diffamiert als Hetzen, Beschuldigen, Beschimpfen, jemandem eins Auswischen, Beleidigen, Ätzen. Vor nicht allzu langer Zeit enthielten Talkshow-Kritiken den Satz: jeder hatte seine eigene Meinung. In debattenähnlichen Erregungen wurde nicht selten rügend gefragt: hat bald jeder seine Meinung geäußert?

Dabei propagiert Unfried – selbstverständlich ohne Besserwisserei und Schmähung Andersdenker – die dialogische Methode, die von dem Uralt-Grünen Lukas Beckmann empfohlen wird. Es sollte nicht um einseitige radikale Forderungen gehen, sondern um einen Dialog mit Andersdenkenden: „Der oppositionelle Radikalismus-Gedanke ist so was von am Ende. Die gerade mit denen in einen Dialog gehen, die an der Demokratie zweifeln. Und die bereit sind, daraus gemeinsam etwas zu entwickeln. Aus dieser neuen politischen Kultur wird Zukunft gemacht.“

Welch ein Anspruch, die Zukunft per Dekret zu bestimmen. Selbst Silicon Valley könnte nicht dogmatischer formulieren. Dabei wäre der Gedanke des Dialogs durchaus fähig, die einseitigen Reden und Predigten der Hochtonrhetoren zu unterlaufen und die Demokratie vitaler und erkenntnisfähiger zu machen. Dialog aber setzt Streitpartner voraus, die von ihrer Position so überzeugt sind, dass sie glauben, den Prüfungstest des Streitgesprächs am besten zu bestehen.

In allen Dingen des Lebens gibt es Wettkampf, Bestenlisten und Rankings. Doch in der wichtigsten Frage des Zusammenlebens: wie können wir Zukunft am besten meistern, wird der Ehrgeiz des Bessermachens und Besserwissens als theologische Unfehlbarkeit und Unduldsamkeit geschmäht. Es ist die Urteilsfähigkeit des Demos, der über Besser und Schlechter auf dem Gebiet der Wahrheit zu entscheiden hat.

Auch das Volk ist nicht unfehlbar, weshalb alle Demokratien auf grenzenloses Lernen angewiesen sind. Das sind die Mühen einer demokratischen Entwicklung und nicht die üblichen Gehorsamsübungen gegen allmächtige Geschichtselemente.

In einem BRIGITTE-Gespräch antwortete Merkel auf die Frage, warum sie so oft schweige: Nur wer schweigt, könne auch klug reden. Mit dieser Antwort habe sie die BRIGITTE-Leserinnen bezirzt, meinte der SPIEGEL.

Frage und Antwort gehen von der irrigen Annahme aus, dass Merkel schweigt. Doch Merkel schweigt nicht, sie ist stumm. Sie hat nichts zu sagen. Politik ist für sie kein Konkurrenzkampf der Geister um die beste Version des Lebens – einstmals Wahrheit genannt –, sondern täppische Nachfolge der Heilsgeschichte. Die Gesellschaft muss mit Gesten der Beruhigung und Tröstung gewonnen werden, nicht mit Thesen einer gottfernen Vernunft.

Da die Kanzlerin sich vor allem ihrem lutherischen Gott verpflichtet fühlt, ist die Zustimmung der Massen nur eine Aufgabe atmosphärischer Beeinflussung und indirekter Leitung. Sie kokettiert mit dem alten Satz: hättest du geschwiegen, hätte ich dich für einen Philosophen gehalten. Mit solchen Assoziations-Tricks will eine Kanzlerin das Volk in die Irre führen. Selbst, wenn sie schwiege: in einer Demokratie haben die Gewählten den Wählern Rede und Antwort zu stehen.

Diesen Dialog verweigert die stumme Predigerin. Ihre Führungsdevise ist simpel. Nach mehr als einem halben Jahrhundert sind die Basislinien der deutschen Politik in Beton gegossen. Wirtschaftliche Dominanz und eine 4.0-Technologie der Maschinen, die die Charaktermängel sündiger Menschen ausgleichen soll. Alles andere sind samaritanische Erbauungsrituale. Was bedarf es da noch ideologischer Verrenkungen, um das Gemeindeschiff in alternativlosen, engen Bahnen voranzutreiben?

Intakte Demokratien brauchen keine Jahrhundertfiguren, sondern Menschen mit dialogischer Leidenschaft und demokratischer Solidarität.

Dies war ein Beitrag in Besserwisserei. Wer glaubt, es noch besser zu wissen: der sollte einem Streitgespräch nicht aus dem Wege gehen.

 

Fortsetzung folgt.