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Neubeginn XX

Hello, Freunde des Neubeginns XX,

Das Unsterbliche an Helmut Kohl ist, wie er die Menschen in eine unbekannte Zukunft führte. Wie Kolumbus, der in eine neue Welt segelte. Er war auch wie diese Astronauten, die den Mond eroberten. Es war eine Sternstunde im Leben Deutschlands. In einem winzigen Moment standen alle Sterne günstig. Kohl hatte in seiner Sternstunde so viele Verbündete. Busch senior, den Papst, Lech Walesa, Gorbatschow.

Ich weiß nicht, wer unser Glück der Einheit brachte, die Freundschaft dieser Männer, die Sterne am Himmel.

Es war eine Sternstunde für Deutschland. Die Menschen passten zueinander.

Wer passt heute noch zueinander.“ (BILD.de)

Postmortales Delirium, postmortale Erleichterung, postmortale Identifikation als Katapult in die Unsterblichkeit.

Gewaltiger kann ein Deutscher nicht werden. Der Vergöttlichte als Günstling des Himmels, die Konstellation der Sterne ein Kairos der Geschichte. In unscheinbarer Stunde geschah das Unvorhersehbare: für einen lichten Augenblick öffnete sich der Himmel, erwählte seinen Liebling, sandte ihn zu den Menschen, damit er ihnen den Weg wiese, obgleich sie ihn nicht verdienten. Die wegbegleitenden Heroen waren Werkzeuge des Geschicks – zufällig standen die Sterne in Konjunktion, dass Ost und West zueinander fänden.

Gottes Strafe für das Dritte Reich war getilgt. Das geschlagene Deutschland konnte wieder zurückfinden zur Mitte Europas – in geläuterter Größe, in bußfertiger Dominanz: der Weg für die Pastorentochter aus den Tiefen des Sozialismus war

geebnet. Es war wie bei der Geburt des Himmelsohnes:

Es begab sich aber zu jener Zeit, als Westdeutschland vor sich hindümpelte … Da kamen Weise aus aller Welt, die sagten: wo ist der Wiedervereiniger Deutschlands, wir haben seinen Stern am Himmel gesehen?

Nach dem bösen Führer hat Deutschland seinen guten Führer gefunden. Jener erfand das höllische Feuer, dieser – wie Kolumbus – eine neue Zukunft. Dank göttlicher Fügung harmonierte und passte alles. „Wer passt heute noch zusammen?“ Alles Fügung, alles das Werk höherer Mächte. Die Erfindung des selbständigen Menschen verschwand aus deutschen Archiven.

Post mortem verfallen die Deutschen in den Rausch der Unsterblichkeit. Alles kleinliche Schmähen und Höhnen zu Lebzeiten des Gewaltigen ist begraben und vergessen. Der Heros muss begraben sein, damit er in unvergleichlichem Glanz auferstehen kann.

Post mortem werden die Untertanen identisch mit ihrem fleckenlosen Idol. Die Mühsal des Irdischen, das Treiben und Toben der teuflischen Mächte ist überstanden. Der Tod ist die Katharsis des minderwertigen Lebens. Bücher werden aufgetan, das Jüngste Gericht vorweggenommen: der Kandidat hat mehr als 100 Punkte. Selbst seine Schattenseiten werden zu Instrumenten des heiligen Werks.

Indem sie den Gerühmten zum Idol machen, werden sie selbst zum Idol. An seiner Stelle haben sie Deutschland zusammengeführt, an seiner Stelle die Angriffe der Welt überstanden. Sie sind Er, wenn sie Ihn in ganz persönlicher Form rühmen. Wie der Erlöser in ganz persönlicher Zeugenschaft gepriesen werden muss: „Wie ich Jesus fand“ – so klingen die Zeugnisse der Bekehrten: „Wie ich die Zusammenarbeit mit Kohl erlebte“ (Michael Stürmer).

Jeder vernünftige Mensch war zu Seiner Zeit für Europa – doch nur ER war der Begnadete, wenn ER für Europa eintrat. Ob ER das gespaltene Land vereinigte oder nicht: wichtig war allein die Beendigung des Kalten Krieges als beispiellose Leistung Gorbatschows und der östlichen Staaten. SEINE Leistung bestand darin, das Geschenk ehemaliger Feinde – nicht auszuschlagen. Ob ein oder zwei Deutschländer – belanglos, wichtig ist allein der Frieden. Ob Britannien zur EU gehört – belanglos. Wichtig sind allein vernünftige Verhältnisse.

Durch postmortale Identifikation mit dem Toten, der in Glorie auferstand, wird Frieden geschlossen mit der Vergangenheit. Jede Hymne auf Ihn wird zum Selbstlob: was Jener vollbrachte – der Trauernde hat die Notwendigkeit seines Tuns schon immer gewusst. Nach dem Tod ist vor dem Tod, ist Versöhnung mit allem, was niemand mehr bearbeiten will. Das Alte ist vergangen, siehe, wir gehen einer neuen Zukunft entgegen.

Der Tod des SOHNES ist die Wiedergeburt seiner Anbeter. Sie schlagen sich auf die Schulter, wenn sie JENEM den Heiligenschein ums Haupt legen.

Postmortales Aufatmen: wir müssen dieses Gesicht wie eine heimgesuchte Landschaft nicht mehr anschauen. Müssen nicht mehr fragen: was muss da geschehen sein, dass solch ein Gesicht entsteht?

Wir flüchten zu seinen politischen Leistungen, um seine privaten Verwüstungen nicht mehr zu sehen. Seine Frau verschloss sich vor der Welt, Mediziner haben Begriffe, die die Leiden der Seele zum Verstummen bringen. Lichtallergie: wenn man die Realität nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann. Mit seinen Kindern brach er, Er, der die christliche Familie zum Mittelpunkt seiner Ideologie gemacht hatte. Seinen Bewunderern war er wie ein fürsorglicher Patriarch, seine Gegner hasste er wie Feinde. Seine Verachtung türkischer Opfer von Brandanschlägen war barbarisch:

„Der ewige Kanzler aber ist zu beschäftigt damit, sich für den Mauerfall feiern zu lassen, möchte sich nicht auch noch mit dessen Folgen auseinandersetzen: Er lässt ausrichten, dass er „weiß Gott wichtigere Termine“ habe als die Trauerfeier für Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya und Saime, und für „Beileidstourismus“ sei er sowieso nicht zu haben.“ (TAZ.de)

Das abendländische Schisma zwischen machiavellistischer Politik in der civitas terrena – und Menschlichkeit in der privaten civitas dei schien er auf den Kopf zu stellen. Die Politiker der Welt rühmen sein menschliches Verhalten (mit „Weste“ bei Gorbatschow), seine Lieben exkommunizierte er mit unversöhnlichem Ingrimm aus seiner Umgebung. Er forderte christliche Moral, um Gesetze der Republik beliebig zu brechen und Nähe-Bedürfnisse seiner Familie in den Kot zu treten. Ein wahrer Christ steht über allen Gesetzen und ist nur Gott untertan.

Die Mächtigen der Welt lud er an ausgewählte Orte seiner Heimat. Echte Männer in der Sauna, die nichts mehr voreinander zu verbergen haben, würden dem Weltgeist auf die Sprünge helfen. Der bodenständige Recke aus dem Volk würde die Rankünen der Noblen und Klugschwätzer mit schierer Leibesfülle durchbrechen. Beinahe hätte er sich mit der räudigen Menge geprügelt, so spontan und echt war er. Wie jener Tabubrecher aus dem Weißen Haus kam auch ER aus der Pfalz, wo unverstellt geredt wie gebabbelt wird.

Bedenkenlos ging auch ER über Leichen, die Heiner Geißler, Lothar Späth, Kurt Biedenkopf und sonstwie hießen. Er glaubte, sündigen zu müssen, um seine Berufung zu erfüllen – und sündigte mit mürrischer Miene, aber in vitaler Ungebrochenheit. Seine mühsam erkämpfte vaterländische Pflichterfüllung für eine demokratische Lebensform, die ihm zeit seines Lebens fremd blieb, musste er mit Häme der Intellektuellen und schleimiger Subordination seiner Bewunderer übermäßig bezahlen.

Helmut Kohl ist gestorben, in Unfrieden mit sich und der Welt. Postmortal erwartet ihn die schrecklichste aller Erfahrungen: nun darf er schauen, was er immer geglaubt – das unsterbliche Nichts.

Wenn Menschen nicht mehr weiter wissen, erfahren sie den Tod wichtiger Menschen als untröstliche Störung des Lebens – die sie mit erfundener Unsterblichkeit dämpfen müssen. Wer im Irdischen nicht mit sich ins Reine kommt, verschiebt die Auflösung seiner Dissonanzen ins Unsterbliche. Jenseits des Todes werden sich alle grausigen Rätsel in Wohlgefallen auflösen.

Wer glaubt, ein jenseitiges Dasein zur Verfügung zu haben, fühlt sich nicht genötigt, seine Konflikte beizeiten auf Erden zu lösen. Im trügerischen Vertrauen auf Unvergänglichkeit verrät er Tod und Sterblichkeit. Wer im Jenseits unendliche Möglichkeiten zur Bewältigung seiner Konflikte zu besitzen glaubt, fühlt sich nicht genötigt, sein Leben auf Erden in Frieden zu verbringen.

„Von allen großen Religionen ist das Christentum die ängstlichste und diejenige, die den Schrecken des Todes am stärksten betont“. (Frank Kermode)

Die Jenseits-Besessenheit blühte in unzähligen und komplizierten Ritualen, die das unvermeidbare Phänomen des Todes aus dem täglichen Leben verbannen sollen. In einem Leben der Todes-Verdrängung konnte dessen Unvermeidbarkeit nicht erfasst werden. Nach Sir James Frazer waren diese Bräuche und Regeln die verderblichsten, die eine Gesellschaft jemals hervorgebracht hat:

„Kein Glaube hat soviel dazu beigetragen, den humanen Fortschritt der Menschheit aufzuhalten, wie der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Dieser Glaube verführte unendliche Geschlechter, die wirklichen Bedürfnisse der Lebenden den imaginären Bedürfnissen der Toten zu opfern. Die Zerstörung des Lebens, die dieser Glaube zur Folge hatte, ist unermesslich.“

Nur wer die Sterblichkeit des Menschen in der unsterblichen Natur mit Freuden akzeptiert, wird den Tod als etwas Natürliches anerkennen.

Helmut Kohl war ein Konservativer, dessen Motto lautete: „Am Bewährten festhalten und dennoch offen sein für das Neue. Beides gehört zusammen. Stillstand bedeutet Rückschritt. Wir wollen das, was sich bewährt hat, bewahren und festigen. Aber wir haben begriffen, daß nicht alles so bleiben kann, wie es in vielen Jahren gewachsen ist. Die Menschen wissen dies, und sie wissen auch, daß Veränderungen unumgänglich sind.“ (Helmut-Kohl.de)

Die Menschen denken nicht daran, diese Weisheiten der Moderne zu wissen. Der steigende Furor der Menschheit ist eine weltweite Empörung gegen die Macht der Eliten, die sich, versteckt hinter der Geschichte, für berechtigt halten, die Geschicke der Menschen zu bestimmen.

Stillstand ist Rückschritt? Absurd. Veränderungen sind unumgänglich? Wahnsinn. Wer macht die Veränderungen? Der Mensch? Dann kann er sie auch sein lassen. Besonders wenn sie immer wahnwitziger werden. Die selbstherrliche Geschichte? Muss vom Sessel der Schicksalsbestimmerin verstoßen werden. Der Mensch ist Herr seines Schicksals. Demokratie ist Selbstbestimmung des Menschen.

Eine Demokratie, die der Herrschaft der Geschichte unterworfen wird, ist eine Chimäre und keine Demokratie. Demokratie verträgt sich mit keiner automatischen Heils- oder Unheilsgeschichte. Um im BILD-Jargon zu reden: Schluss mit … Schluss mit dem Gefasel von der Unabwendbarkeit unseres Geschicks. Natur kennt keine Heilsautomatismen. Solange sie uns erträgt, haben wir alle Chancen dieser Welt, ein stilles und friedliches Leben zu führen. Oder ein rennendes und hetzendes. Aber nur privat, nicht auf Kosten der Menschheit, die sich ihr Leben anders vorstellt.

Erträgt Natur uns nicht mehr, brauchen wir auf apokalyptische Sondervorstellungen eines Geschichtsdespoten nicht länger warten. Dann hat unser letztes Stündlein geschlagen. Die Menschheit muss keine Genies und Scharlatane mehr dulden, die sich erkühnen, mit ihrem Firlefanz das Rad der Geschichte immer mehr zu beschleunigen.

Es ist nicht nur die blanke Not der Hungernden und Verdurstenden, nicht nur die Frage nach gerechten Verhältnissen, es ist die Empörung gegen auserwählte Cliquen, die sich als Geschichtsmächte ausgeben, um einen Planeten ihren Omnipotenzvorstellungen zu unterwerfen. Nehmen wir Travis Kalanick, einen besonders exponierten Vertreter dieser Gattung aus Silicon Valley:

„Die Philosophie der Silicon-Valley-Konzerne ist simpel: Nur wer möglichst schnell rennt und sich weder von alten Regeln noch politischen Interessenvertretern aufhalten lässt, kann wirklich disruptiv sein und Märkte verändern. Wer hätte gedacht, dass Twitter und Facebook als Verbreitungsmaschinen für Fake News die Fundamente demokratischer Systeme unterminieren würden? Zählt Moral überhaupt noch auf dem Weg zum Welterfolg? Kalanick sagt gern solche Sätze: „Angst ist eine Krankheit, was immer du willst, hol es dir.“ Uber spielt, wie stets, nach den eigenen Regeln. Und nur nach ihnen. Und das ist am Ende vielleicht das Problem, das bleibt. Mag man sich eine Zukunft wünschen, in der ein einziger Konzern steuert, wie wir uns fortbewegen?“ (SPIEGEL.de)

Womit klar ist, dass Moralfeinde die Unterstützer dieser Silicon-Valley-Tycoons sein müssen. „Was immer du willst, hol es dir“ ist unverhüllter Totalitarismus. Hitler und Stalin waren begrenzte Regionalwürstchen, verglichen mit solchen Allmachtssystemen. Hitler konnte man noch beizeiten entfliehen, beim Silicon-Valley-Monstrum gibt’s kein Entkommen. Wenn nur winzige Minderheiten den Garten Eden gewinnen, sind unendliche Mehrheiten zum allmählichen Verglühen in den Hitzewellen der Erde bestimmt.

„Den Gipfel der evolutionären Selbstoptimierung wird die Menschheit dann in der kommenden Generation erklimmen, wenn sie endlich ins Weltall aufbricht: Das jedenfalls behauptet der Evolutionsbiologe Gregory Cochran, auf den sich Nick Land gern bezieht. Denn vor der Auswahl in die elitäre Gilde der Astronauten steht ja eine ultimative Selektion: Weil nur weit überdurchschnittlich intelligente und gesunde Menschen den widrigen Verhältnissen in Raumschiffen und auf anderen Planeten zu trotzen vermögen, werden die Astronauten der Zukunft nichts anderes als die Krone der Schöpfung darstellen.“ (ZEIT.de)

Jens Balzer will in der ZEIT das Geheimnis der neuen Rechten ergründen.

„Früher war alles besser: Wie immer man es wendet, dies bleibt doch der grundlegende Glaubenssatz hinter dem aktuellen Rechtspopulismus. Früher war alles besser: Da konnte man noch christliche Weihnachtsmärkte besuchen, ohne dort lauter Muslime zu treffen. Früher waren Männer noch Männer, und Frauen waren noch Frauen; früher lernte der Mann einen Beruf, und dann konnte er ihn bis zum Lebensende ausüben. Heute hingegen ist nichts mehr so, wie es früher war. Und vor allem ist nichts mehr von Dauer: Die digitale Umwälzung der Lebensverhältnisse beschleunigt die Veränderung der Welt; die Globalisierung zersetzt alle überkommenen Traditionen und Institutionen – vom Nationalstaat bis zur Familie, von den vertrauten Geschlechtermodellen bis zur ethnischen Homogenität des Volkskörpers.“

Wie alle Fortschrittspropheten vermengt Balzer moralische Veränderungen mit technischen. Das ist Unfug. Dass offene Nationen hilfesuchende Menschen aufnehmen, andere Kulturen, Rassen und Religionen nicht diskriminieren (kritisieren schon, immer mit der Bereitschaft, sich selbst kritisieren zu lassen), sondern akzeptieren, versteht sich für Humanisten von selbst. Digitale Veränderungen aber enthalten keine moralischen Imperative. Im Gegenteil, sie verletzen das Recht jedes Menschen auf Autonomie.

Ein moralischer Fortschritt ist kein technischer. Immer effektivere Maschinen lösen keine moralischen Probleme, im Gegenteil, sie unterminieren die Selbstbestimmung der Menschen. Freiheit ist nicht das Gegenteil von Moral, sondern Einsicht in die Selbstverpflichtung, ein Mensch zu sein.

Seit Ende des Mittelalters wird moralischer Fortschritt vom technischen überlagert. Beide Welten haben nichts miteinander gemein. Nicht das geringste Problem wird durch eine einzige Maschine gelöst. Alle sozialen Konflikte können maschinenunabhängig gelöst werden – wenn der Mensch in der Lage wäre, sie moralisch zu reflektieren und zu entscheiden.

Besser und schlechter sind keine Begriffe der Zeit, sondern der Qualität. Es war nicht alles automatisch schlechter, weil es der Vergangenheit angehört. Wir sollten die Zeitachse endlich in Ruhe lassen, anstatt sie mit Qualitätsurteilen zu belasten. Wenn rechts-reaktionär die Verklärung der Vergangenheit sein soll, ist links-reaktionär die Verklärung der Zukunft.

Alles soll automatisch besser sein, nur weil die Zukunft es bringt? Das ist ein hirnrissiger Satz. Es soll schlechter sein, wenn Uhren langsamer gehen? Wenn Handlungsprozesse sich entschleunigen? Das sind Horrorsätze. Es soll rechts sein, wer sich Sicherheit und Orientierung wünscht? Dann müssten alle Kinder rechts-reaktionäre Schlingel sein. Wie deren Eltern, die ihren Kindern Schutz und Weltübersicht bieten.

Ein sicheres Geleit in eine zu erkundende Welt: das ist philosophische Pädagogik. Das Gegenteil wäre akzelerierende Beschleunigung als Überhitzung der Welt.

Traditionen sind nicht heilig, ihre Zertrümmerung aber genau so wenig. Die Menschen müssen lernen, zeitunabhängige Qualitätsmerkmale zu entdecken und – festzuhalten. Veränderungswürdig ist nur das Defekte und Selbstschädigende. Was gut und wertvoll ist, muss eisern festgehalten werden. Das Neue ist nicht das Sakrosankte, das Alte nicht das Dämonische und Verwerfliche. Reaktionär ist nicht der Zurückblickende, sondern jener, der sichere Qualitäten preisgibt, um auf der Höhe der Zeit zu sein.

Die Zukunft sollte nicht als Werk einer übermenschlichen Macht vorausgeahnt werden, sondern als Wille mündiger Menschen, die ihre Zukunft selbst gestalten. Zukunft ist ein Lernakt. Die Gegenwart muss nach Defekten und Irrtümern durchforscht werden. Dann haben die Menschen sich zu beraten und gemeinsam festzulegen, was verändert und beibehalten werden soll. Wäre es nicht idiotisch, wenn politische Parteien die Zukunft in Nabelschau erahnen wollten, anstatt ihre Verbesserungsvorschläge dem Publikum zur Abstimmung vorzulegen? Die Unterwerfung unter eine fremdbestimmte Zukunft ist nicht nur jämmerlich und unmündig, sondern faschistisch.

Balzer manövriert sich in eine Sackgasse, wenn er die Vergangenheitsanbeter ebenso ablehnt wie die Zukunftsdiktatoren, die für winzige Cliquen die Flucht in die Sterne ersinnen lassen, die Mehrheit der Gattung aber dem kollektiven Tod auf Erden überlassen.

„Nicht zufällig hat Musk, der Internet-Milliardär und Berater von Donald Trump, gerade eine private Marsmission angekündigt: Angesichts der eskalierenden Zerstörung unseres Planeten müsse man sich, wie er sagt, schon jetzt nach einer „neuen Erde“ umsehen, auf die man die Menschheit dereinst umsiedeln kann. Damit meint der Digitalmonarch Musk aber natürlich nicht die ganze Menschheit, sondern lediglich jenen Teil, der die Astronautenselektion übersteht. Der Rest bleibt – so wiederum eine Formulierung Nick Lands für alle, die nicht zu den Eliten der Zukunft gehören – als „refuse“, also als Abfall, auf der von Umweltkatastrophen dann endgültig verwüsteten Erde zurück.“

Wie im christlichen Glauben nur Minderheiten selig werden und Mehrheiten in die Hölle wandern, so bei den selektierenden Digitalisten. Unglaublich, dass solche Visionen, die die Übersetzung eschatologischer Auswahlmethoden ins Technische sind, der Öffentlichkeit in dreister und zynischer Offenheit vor den Latz geknallt werden – und niemand fordert die Anklage gegen allmachtstrunkene Exhibitionisten wegen geplanter Ermordung der Menschheit.

Die Menschheit schaut zu, wie verbrecherische Eliten sie coram publico zum Tode verurteilen. Wer hier nicht rasend wird, sollte sich sein Gehirn durch eine Rechenmaschine, made in Silicon Valley, ersetzen lassen.

Balzer beschreibt die antidemokratischen Exzesse dieser Milliardäre, als ob er ein interessantes Experiment beschriebe. Edelschreiber scheinen sich nicht mehr zur Menschheit zu zählen, die eben das erleben, was sie gerade in cooler Objektivität protokollieren.

Die Vertreter des Transhumanismus – der ein Antihumanismus ist – decken ihre Karten auf. Offenbar fürchten sie niemanden, der ihre technischen Projekte als totalitäre Machenschaften anprangern könnte. Nick Land kämpft vehement gegen die Aufklärung, die den humanen Fortschritt von der Durchsetzung demokratischer Systeme abhängig macht.

„In Wahrheit habe die Demokratie dem Fortschritt der Aufklärung immer im Wege gestanden. Zu kompliziert seien die Entscheidungsprozesse und zu groß der Anteil jener, die ohne entsprechende Qualifikation mitentscheiden. Deswegen hemme die Demokratie die Geschwindigkeit der evolutionären Entwicklung; diese sei ja darauf angelegt, das eigene Tempo immer weiter zu erhöhen, sich gewissermaßen selber zu akzelerieren. Wolle man den Gedanken der Aufklärung endlich zu sich selbst kommen lassen, so brauche es den Mut zu einem „darkenlightenment“ – einer „dunklen Aufklärung“, die überkommene demokratische Formen durch einen futuristischen Autoritarismus ersetzt und die innovativen Kräfte des Kapitalismus entfesselt.

Das ist aus dem Wörterbuch entfesselter Menschenfeinde. Nietzsche hätte seine Freude an solch hemmungslosen Weltdespoten. Die Menschheit ist zu dumm, um die Superkomplexitäten der Genies zu verstehen. Also soll sie weiterhin in ihren Dummheiten dahindämmern. Deutsche Eliten sind längst dabei, die Verdummungsvorgänge der Massen anzuheizen: Zutritt verboten, hier lauert das Komplexe. Die deutsche Kanzlerin ist nachhaltige Befürworterin einer Zukunft, die von Robotern bestimmt wird. Ob ihre Untertanen diese Perspektiven gut heißen, gehört nicht in ihr Ressort kollektiver Vernunft-Einschläferung.

Dunkelmänner waren erbitterte Feinde des Lichts der Aufklärung. Heute fegen die technischen Aufklärungsfeinde alle Instanzen des Selberdenkens mit einem Ruck vom Tisch und propagieren – als Erben des Klerus – die Verdunkelung des Denkens. Das Ende der Demokratie wäre zugleich das Ende der Menschheit.

Kohl und Nachfolgerin sind Konservative, die das Erhaltenswerte bewahren wollen, indem sie es dem Neuen zum Fraß vorwerfen, welches unterschiedslos vernichtet, was sich seinen Allmachtgelüsten nicht unterwirft. Sie bewahren nichts, sie reißen alles mit der Wurzel raus.

„Schon ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt.“

Was sie festhalten, sind Worte ihres futuristischen Herrn, der alles Alte im Nichts versenkt, um Neues an dessen Stelle zu setzen. Das Neue ist der Triumph der Erwählten und die Niederlage der Menschheit in endlosen Martern.

Wahrlich, solche Menschenfeinde muss man heilig sprechen: als Helmut den Ersten, den Retter des Abendlands – und Angela die Beste, die Samariterin der Menschheit.

 

Fortsetzung folgt.