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Neubeginn XLVII

Hello, Freunde des Neubeginns XLVII,

Demokratie im Schnellerhitzungsverfahren. Nach vier lähmenden Groko-Jahren, vielen Wochen ferienbedingter Auslagerung innerdeutscher Lebensunfähigkeit an die Strände des Mittelmeers, nun der abrupte Umschlag in den Wahlkampf-Dampfmodus.

Urlaub ist outsourcing larvierter deutscher Depression in jene Länder, die von der Berliner Elite so lange gewürgt werden, bis sie unter Heulen und Zähneklappen zugeben: Merkel vergib, wir haben gesündigt vor Dir und dem Euro. Gib uns eine letzte Chance, sieh nicht an unser antiprotestantisches Lebensgefühl, fahrlässig in den Tag hineinzuleben, ohne Rücksicht auf die Herrschaft des Wirtschaftswachstums.

Eine Christin ist immer im Dienst, auch im Urlaub. Also wandert die Pastorentochter – wie John Bunyans Pilgrim – auch im Urlaub unentwegt gen Jerusalem. Laufet mit Ausdauer im Wettkampf, denn die Stadt, die ihr sucht, liegt nicht auf Erden.

„Wisset ihr nicht, daß die, so in der Rennbahn laufen, die laufen alle, aber nur einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet. Ein jeglicher aber, der da kämpft, enthält sich alles Dinges; jene also, daß sie eine vergängliche Krone empfangen, wir aber eine unvergängliche. Ich laufe aber also, nicht als aufs Ungewisse; ich fechte also, nicht als der in die Luft streicht; sondern ich betäube meinen Leib und zähme ihn, daß ich nicht den andern predige, und selbst verwerflich werde.“

Merkel befindet sich im Dauerwettkampf. Urlaub, Entspannen, Erholen sind für sie nur ein Wechsel der Laufbahn-Arena. Wie es sich gebührt, läuft ihr gestrenger Ehemann weit vor ihr her. Nicht nur ihrem Volk hat Merkel nichts mehr zu sagen. Der Gesprächsstoff mit ihrem „skurrilen, aber objektiven“ Professor ist ihr schon lange ausgegangen. Als Ersatz hat sie sich Reinhold Messner, einen Weltmeister des Bergsteigens, als geistigen Sherpa an ihre Seite geholt, der ihre

neoliberalen Politikprinzipien als Leitlinien seines abenteuerlichen Lebens gewählt hat: an seine Grenzen gehen, seine Grenzen überschreiten. Wie Merkel unermüdlich läuft und wandert, um ein transzendentes Ziel zu erreichen, so bezwang Messner einen gefährlichen Berggipfel nach dem anderen, um sich selbst zu „transzendieren“. Ist ihm aber noch nicht gelungen, offensichtlich wandert er immer noch im Leibe.

Messner war grüner Abgeordneter im Europaparlament. Beim Wandern durch die Alpen stellt sich Merkel innerlich auf die nächste Koalition mit Kretschmann & Co ein. Auch Kretschmann wandelt auf Pilgerpfaden nach jedem Ort, an dem Maria mit Jesuskind sich sehen ließ. Wenn er mal nicht wandert, fährt er unverdrossen einen Diesel von Mercedes. Auch Mercedes hat längst die Grenzen überwunden: die Grenzen des Anstands, die früher Grenzen der Moral hießen.

Moral ist ein veraltetes Wort, das von Anstand abgelöst wurde. Moral muss erarbeitet werden, Anstand hat man oder nicht. Wer keinen Anstand kennt, gehört nicht zum Kreis der Gipfelstürmer und Grenzübersteiger. Die deutschen Autobosse kennen keine Moral, ihre Seilschaften und Kompagneros in Wirtschaft und Politik aber bezahlen sie höchst anständig.

Eine Groko kommt nicht mehr in Frage, sagten Gabriel und Oppermann. Doch wenn die Deutschen am Wahlabend ihren Erwählten wieder einmal die passenden Zahlen liefern, muss die Rettung des Vaterlands Vorrang haben. Dann werden sie in den sauren Apfel beißen und sich moralisch aufopfern – pardon, ihren Anstand an der Garderobe abgeben.

Seit ihr Vordenker Müntefering den erlösenden Satz sagte: Opposition ist Mist, unternehmen sie alles, um den Mist vom Parlament fernzuhalten. Der Misthaufen wurde in den letzten Regierungsepochen so klein gehalten, dass von Opposition fast keine Rede mehr sein konnte.

Nach einer alten Regel – die vermutlich längst überholt ist – gehört zur Demokratie eine wirksame Opposition. Da die Berliner Demokratie alles unternimmt, um die Opposition los zu werden, müsste man sagen, dass wir schon lange keine funktionierende Demokratie mehr haben. Mist – würde Bernd das Brot sagen.

Die Gewaltigen von Berlin aber würden sagen: wir laufen und laufen, kämpfen den Wettkampf unseres Lebens und müssen uns ständig neu erfinden. Da können wir uns überflüssigen Ballast nicht mehr leisten. Wenn Wolken aufziehen, muss das Volk zusammenstehen.

Wer ist nun die bessere Wahlkämpferin? Schulz scheint keine Chancen mehr zu haben, das Blatt zu wenden. Doch wenigstens galt er als fleißiger Wahlkämpfer, der einen besseren Draht zum Volk habe – sagten die Medien. Und plötzlich sagen sie es nicht mehr. Denn – unglaublich, aber wahr –: Merkel liest auch Zeitungen oder lässt sie lesen, studiert sorgfältig die Methoden ihres Gegners und – übertrifft sie mit Leichtigkeit.

Als Kind wuchs sie in einer Familie auf, die ihr Umfeld genau beobachten musste, um von der Stasi nicht denunziert zu werden. Da entwickelte sie eine verschärfte Wahrnehmungsfähigkeit, um die List ihrer Überwacher mit größerer List zu überwinden. Hinzu kommt, dass ihre jetzigen Gegner vor allem aus dem Westen stammen und in der Kunst der Selbstwahrnehmung degeneriert sind.

Warum sollte Schulz, der in Rekordzeit vom Erlöser zum Rohrkrepierer wurde, den besseren Draht zum Volk haben? Dann wäre er ja nicht grausam abgestürzt.

Die Medien, die ihn anfänglich zum Messias kürten, um ihn genüsslich zu entmythologisieren – „er kann doch nicht übers Wasser laufen“, so ihre Lieblingsmetapher – hatten ein schlechtes Gewissen und wollten ihm ein bisschen aus der Patsche helfen. Nicht zuletzt aus dramaturgischen Gründen: ein chancenloser Herausforderer bedeutet einen gähnend langweiligen Wahlkampf. Also schrieben sie ihm eine gewisse Überlegenheit im Umgang mit dem Volk zu – und wundern sich nun, dass auch Merkel keine Schwierigkeiten zu haben scheint, dem Volk aufs Maul zu schauen.

Die zweite Dummheit der Medien besteht darin, die darstellerischen Mittel der „plumpen“ Protestantin zu unterschätzen. Nach einer längeren Übungsphase beherrscht Merkel die westlich erforderlichen Charaktergrimassen aus dem Effeff. Während Schulz nur zweieinhalb Darstellermasken zur Verfügung hat, beherrscht Merkel alle Grimassen von devoter Gleichmut über freundliche Neugier bis zur innigen Verschmitztheit der Unbesiegbaren.

Die Schwächen ihrer Gegner, die sie im Handumdrehen erkennt, nutzt sie, um ihnen eine kesse Pointe an den Kopf zu werfen – wenn sie sich abrupt aus dem Staube macht. Der Videobloggerin, die stolz auf ihr erstes Interview war, verpasste sie die Antwort: sonst machen Sie immer nur Selbstdarstellung?

Wessis sind stolz auf ihre angebliche intellektuelle Überlegenheit über die Ossis. Nicht nur im politischen und wirtschaftlichen, sondern auch im psychologischen. Weil die 68er-Bewegung eine psychoanalytische Erkenntniswelle mit sich führte, fühlen sich Wessis hinterwäldlerischen Ossis haushoch überlegen. Dabei übersehen sie die Kleinigkeit, dass sie alle Erkenntnisse Freuds, Mitscherlichs und Richters als ökonomisch unverwertbare Peanuts und Absonderlichkeiten längst entsorgt haben – während Merkel die naive Neugierde und den unverbrauchten Ehrgeiz der Hinterwäldlerin mitbringt, um es den Angebern aus dem Westen zu zeigen. Nicht unähnlich jenen edlen Wilden, die in Büchern der Aufklärer dazu dienten, die Bigotterien und Schwächen des christlichen Westens intuitiv zu durchschauen.

Es geht um die Begegnung der beiden rivalisierenden Wahlkämpfer mit dem Volk, dem unbekannten Wesen. Eben dies sei keine „Paradedisziplin“ der Kanzlerin – so der SPIEGEL.

„Deshalb setzen sie im SPD-Hauptquartier im Grunde genommen doch ihre letzten Hoffnungen darauf, Merkel hier schön scheitern zu sehen. Das Fernsehen gilt den SPD-Strategen als Schulz‘ Joker. Aber die Chancen sind gering, wie Merkels RTL-Auftritt zeigt.“

Der SPIEGEL hält es für richtig, eine Sendung von RTL und SPIEGEL TV zu kritisieren, als sei das Magazin objektiv. Wie die angeblich scheue Kanzlerin fast handgreiflich werden kann, zeigt eine Szenerie, die sich kein Schulz erlauben dürfte. Entgegen den Regieanweisungen stumpfer Moderatoren setzt sie ihre Inszenierung brachial durch: „Sie marschiert los und bedeutet der bereits neben der Bürgerin sitzenden und den Platz auch vorerst verteidigenden RTL-Co-Moderatorin, diese möge nun das Feld räumen: „Nö, nö, Sie gehen weg.“ Sogar das Mikrofon entwindet die Kanzlerin der Journalistin: „Ich kann das auch selbst halten.“ (SPIEGEL.de)

Der direkte Kontakt mit dem Publikum sei nicht Merkels Paradesdisziplin? Als sie noch vor kurzem königliche Audienzen im ganzen Land veranstaltete, war die Presse voll des Lobs über die volksnahe Politikerin. Da die Medien ihr kollektives Gedächtnis postmodern entfernen ließen, um nach allen Seiten offen zu sein, haben sie ihre Meinung von gestern verdrängt. Plötzlich wurde aus Merkel, der Wiedergängerin der volksverbundenen Königin Luise, eine scheue, linkische Fromme. Jetzt überrascht sie erneut die westliche Journaille. Diesmal mit autoritärer Derbheit, die es gewohnt ist, unmissverständlich durchzusetzen, was sie will.

Wie bewertet der Verfasser das kommandierende Verhalten der Kanzlerin? „Es mag zuweilen hölzern oder gar brachial wirken, wie sich die Kanzlerin an die Bürger herankämpft. Aber gespielt, aufgesetzt? So wirkt es eben nicht.“

Autoritäres Verhalten spricht für Merkel, weil es nicht gespielt und aufgesetzt wirkt? Dann müsste Trump zum Weltmeister des Authentischen gekürt werden. Hauptsache, etwas wirkt echt: dann wird jede Sauerei durchgewunken? Die deutschen Medien spielen jeden Tag eine neue Melodie und fühlen sich sehr authentisch.

Merkel und Schulz werden mit Einzelschicksalen konfrontiert. Das ist sinnvoll, um die individuellen Verdichtungen politischer Gesetze und Regeln sichtbar zu machen. Wenn aber die Einzelfälle benutzt werden, um royales Audienzverhalten zu zeigen, dann wird die Situation zum gnadenhaften Almosen. Die willkürlich Ausgesuchten hatten Glück, weil ihnen zufällige Hilfe von Oben kam. Mit Politik hat das nichts zu tun, aber viel mit Märchen, in denen unglückliche Untertanen zufällig einem wohlwollenden König begegnen.

Mit Debattieren hat das Ganze gar nichts zu tun. Methodisches Streiten ist in Deutschland unbekannt. Untertanen dürfen Fragen stellen. Die Dummen vom Lande werden von Politikern nachsichtig belehrt.

Im „Presseclub nachgefragt“ dürfen Zuschauer Fragen zur Sendung stellen. „Das war ein Statement, keine Frage:“ mit diesem Verdikt wird ihnen das Maul gestopft, wenn sie es wagen, eine Meinung zu äußern.

Merkel & Co beantworten die Fragen der Menschen mit endlosen Predigten. Gestoppt werden sie von niemandem. Auf ihr Geschwall einzugehen, erforderte noch längere Predigten – die dem Bürger nicht zustehen. Das Volk wird verbal geflutet, um es mundtot zu machen.

Debattieren ist jedoch keine Frage- und Antwortstunde, sondern ein Austausch geschliffener Argumente, bei denen die Streitenden sich gegenseitig zurückmelden, ob sie überzeugt sind oder nicht. Und warum.

Bei Anne Will zeigten gestern Abend Politprofis, was sie unter Gruppen-Gespräch verstehen: ein catch as catch can. Jeder versucht jeden durch Tempo und Lautstärke zu übertrumpfen und auszustechen. Die Moderatorin hat sich das Recht zugesprochen, das Raufen nach Belieben zu rügen und zu unterbrechen: das ist mir zu detailliert, zu weitschweifig, zu sonstwas. Anstatt die Politiker ihren Gesprächsbankrott ungefiltert vorführen zu lassen, sorgen die Vermittler für das Einhalten bestimmter Regeln, die sie hinter den Kulissen festgelegt haben.

Warum wurden gestern keine Linken oder Grüne eingeladen? Dies bleibt das dramaturgische Geheimnis der Veranstalter. Warum wird dieser Experte eingeladen und nicht jener? In Einzelinterviews werden Experten befragt, deren Brillanz am Anfang gerühmt wird – von Redakteuren, die kompetent genug sind, die Kompetenz der Eingeladenen einzuschätzen, obgleich sie sich von ihnen wie blutige Laien belehren lassen müssen?

Selbst altgediente Journalisten dürfen nur Fragen stellen. Ihre Kritik müssen sie verklausulieren, anstatt mit den Politikern Tacheles zu reden. Sie müssen sich hinter endlosen Zitaten ihrer Zeitgenossen verstecken. Doch Positionen zu beziehen, ist „objektiven Beobachtern“ nicht gestattet. Also bleibt ihre versteckte Kritik nur eine unernsthafte Scheinkritik. Sie sprechen nicht im eigenen Namen, sondern stellvertretend für die Masse, die nur das Recht hat, durchs Schlüsselloch mitzuhören.

Die Kluft zwischen Oben und dem Rest der Gesellschaft ist so gewaltig, dass jedes zufällig gewährte Gespräch automatisch zu einem therapeutischen Beratungsgespräch werden muss. Was soll man lernen, fragte eine Videobloggerin ehrfürchtig die mächtigste Politikerin der Welt. „Lesen, schreiben und rechnen, vielleicht ein bisschen programmieren“, kam wie aus der Pistole geschossen.

Unverschämter kann die Antwort nicht sein. Eine junge Studentin sucht nach Orientierung in der „überkomplexen“ Welt und wird mit obrigkeitlichen Frechheiten und Trivialitäten abgefertigt.

Die Kanzlerin reduziert Lernen zur Abrichtung auf tiefster Ebene. Wenn jeder sein Leben als Maschinenteilchen führen kann, damit die Gesamtmaschinerie nicht ins Stottern kommt, ist der Sinn des Lebens erfüllt.

Zum Abschluss die aufbauende Geste der Kanzlerin, die Fragerin sei – möglicherweise – begabt. Mit mütterlichem Segen wird die kostbare Lehrstunde beendet.

Dass man autonom denken lernen müsste, um Kanzlerinnen die Meinung zu geigen, wird mit keiner Silbe erwähnt. Dass man sich bilden könnte, nicht um mit Bildung zu paradieren, sondern sich ein Bild von der Welt zu machen, bleibt ungesagt. Bildung wird zur Ausbildung auf technischem Klippschulenniveau.

Merkel beherrscht jeden rhetorischen Trick, um einfache Gemüter mundtot zu machen:

„Dann kommt der Diesel-Skandal: Merkel trifft auf einen enttäuschten Golf-Fahrer, dem sie das Wort vom Betrug der Autoindustrie erst nicht durchgehen lassen will und sagt, es handele sich um eine „unzulässige Ausnutzung der Lücken im Gesetz“. Woraufhin der Mann anmerkt, dass höre sich schon wieder wie die Verteidigung der Industrie an. Das lässt Merkel nicht auf sich sitzen, sagt: „Ich verstehe Ihre Wut, wir haben Sie politisch dazu aufgefordert, den Diesel zu kaufen.“ Darauf er: „Sie müssten auch sauer sein!“ Und da sagt Merkel dann doch, natürlich, sie sei auch sauer: „Dass hier hintenrum betrogen wurde, dass man die Vorgaben ausgenutzt hat, darüber bin ich sauer, aber davon könnense sich auch nichts kaufen.“

Als Wahlkämpferin darf sie die Autobosse angreifen. Wenn andere es tun, beruft sie sich auf Lücken im Gesetz. Wohl wissend, dass legales Verhalten dennoch amoralisch und betrügerisch sein kann. Wer hat im Übrigen die Lücken im Gesetz zu verantworten?

Wenn sie nicht mehr weiter weiß, versteht Merkel auf einmal. Verstehen missbraucht sie, um ihre eigene Ignoranz zu überdecken. Ob sie selbst wegen betrügerischer Machenschaften sauer ist, ist von keinem Belang. Wichtig wäre allein, warum diese Machenschaften von der Politik ermöglicht wurden – ja, gewollt waren, um die Interessen der Autoindustrie zu wahren –, warum sie nicht subito abgestellt werden. Warum die Industrie eine derartige Lobbymacht über die Regierung besitzt.

„Davon könnense sich auch nichts kaufen“, der flapsige Nonsens suggeriert, alle Empörung sei wirkungslos. Selbst eine Kanzlerin könne hier nichts mehr unternehmen. Spontan verfällt die Kanzlerin in einen schnoddrigen Slang, um durch Stammtisch-Atmosphäre eine trügerische Gleichheit herzustellen. Wäre doch gelacht, wenn ätherische Pastorentöchter nicht in der Lage wären, dem Volk mit deren eigenen Methoden Paroli zu bieten.

Für Merkel gibt es keine Bildung zur Demokratie. Über Philosophieren als Voraussetzung aller politischen Mündigkeit kann die Physikerin nicht mal lachen. Der Staat ist für die meisten Deutschen eine Maschine, die man sachgemäß programmieren muss. „Legitimation durch Verfahren“ nennt Habermas diese Methode, die er – zusammen mit dem Systemtheoretiker Luhmann – für richtig hält. Obrigkeitliche Gesetze und Verfahren müssen mechanisch befolgt werden! Moralisches Handeln aus Erkenntnis – sinnlos und überflüssig. Selbst Kant – kein Freund der Demokratie – erwartet nichts von der Moralität der Bürger, wenn es um den Erhalt des Staates geht:

„Nicht von der Moralität der Bürger rühre die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volkes. Sogar ein Volk von Teufeln müsste im Rahmen allgemeiner Gesetze sich so verhalten, dass das allgemeine Wohl befördert würde.“

Eine ungeheure These von einem rigiden Moralisten, der von jedem Einzelnen fordert, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die er zugleich wollen könne, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Wenn jeder sich nach einem vernünftigen Gesetz verhielte, hätten wir bereits einen moralischen Staat. Der Staat wäre vom Verhalten der Bürger abhängig, nicht das Verhalten der Bürger von einem staatlichen Moloch.

In einer Demokratie sind Gesetze und Verfassungen die Leistungen des Volkes – nicht umgekehrt das Volk das Erziehungsobjekt eines vom Himmel gefallenen Staates. Dass selbst ein Volk von Teufeln sich wie ein frommes Mädchenpensionat verhielte, wenn nur bestimmte Gesetze von Oben existierten, wurde geradezu experimentell von späteren Deutschen erprobt. Und siehe, das Volk von Teufeln verhielt sich – teuflisch inmitten von Gesetzen, die noch aus einer Demokratie stammten.

In einer stabilen Demokratie können vernünftige Gesetze durchaus vernünftige Wirkungen erzielen. Doch von wem müssen diese Gesetze erlassen sein, wenn nicht vom Volk selbst? Eine Demokratie ist ein Gemeinwesen, das sowohl durch seine Menschen geprägt wird, als auch die Menschen prägt.

Dass echte Bildung erforderlich ist, um eine Demokratie zu erhalten, ist für eine rechnende Physikerin, die den Staat wie eine Maschine bedient, unvorstellbar. Bildung als demokratischen Stabilitätsfaktor verwirft auch der folgende Artikel in der SZ:

„Es sei schlicht naiv, davon auszugehen, dass eine Berührung mit westlichen Werten automatisch dazu führe, dass Politiker auch nach diesen Werten handeln: „Heute sehen wir, wie inmitten marktwirtschaftlichen Überflusses und demokratischer Bildungsanstrengungen trotzdem Ideologien überleben oder neu belebt werden können, die von nationaler Ehre und Reinheit künden. Donald Trump hat sich in der Elbphilharmonie vom „Alle Menschen werden Brüder“ in Beethovens Neunter Symphonie ebenso wenig erweichen lassen wie einst Hitler und Goebbels, die sich dieselbe Musik im Konzert angehört haben.“ (Sueddeutsche.de)

Woher kommen Tyrannen, die nicht selten in westlichen Bildungsanstalten erzogen werden und sich dennoch zu Despoten und Diktatoren entwickelten? Hätte westliche Bildung die Tyrannensöhne beeinflussen können, hätten sie sich nicht zu Bösewichtern deformieren lassen müssen. Sie wurden böse – aus selbstverschuldeter Bosheit. Ursachen und Erklärungen: keine. Das Böse ist irrational und unergründlich.

„Diktatoren wie Kim Jong-un und Baschar al-Assad lebten nun einmal in ihrer eigenen Scheinwelt, in einem selbstgewählten System aus Paranoia, Selbstüberschätzung, Personenkult und Verfolgungswahn. Letztlich werden sie, wenn es immer einsamer um sie wird, Opfer ihrer eigenen Propaganda, Gefangene ihres Unterdrückungsapparats, der ihre Existenz sichert, aber den Charakter zerstört. Bildung spielt in diesem System keine Rolle mehr.“

Das ist der Grabgesang auf alle Bildung. Vorbei die Erkenntnis, dass Demokratie von einem Volk erfunden, erkämpft und erarbeitet wurde, das gleichzeitig Kunst und Bildung erfand. Gibt es keine Bildung als Selbsterkenntnis, als Reifung des Heranwachsenden zu einem autonomen Selbst, kann es auch keine Kriterien geben, mit denen eine authentische Persönlichkeit zu erkennen sei. Authentisches Verhalten wird zur Inszenierung, zur Vorspieglung des Echten:

„Die meisten versuchen mit aller Gewalt alles richtig zu machen. Und damit stecken sie sich selbst in ein Korsett, aus dem sie nicht mehr herauskommen. In dem Versuch alles richtig zu machen, geht alle Freiheit und alle Agilität verloren. Und das ist ein riesiges Problem. Denn wenn man es so macht, wie man denkt, man müsse es machen, wird es schwierig Authentizität zu erzeugen.“ (ZEIT.de)

Authentisches Verhalten ist Übereinstimmung von Wort und Tat – und nicht eine einstudierte Körperpose. Echtheit lässt sich nur im wirklichen Leben überprüfen – und nicht in einer Theatervorstellung. Alle Dinge in diesem Wahnsinnsartikel werden auf den Kopf gestellt.

Nur, wer versucht, das Erkannte und Durchdachte in die Tat umzusetzen, kann authentisch werden oder mit sich in Übereinstimmung kommen. Nur durch Übereinstimmung mit sich selbst wird der Mensch frei. Auch wenn vieles noch verkrampft aussieht, weil niemand im Eiltempo ein freier Mensch werden kann.

Die Botschaft des Artikels an seine Leser lautet: versucht gar nicht erst, etwas richtig zu machen. Macht alles, wie es euch gerade beliebt. Überlasst Moral und Einsicht den Verkrampften und Verbohrten. Wurschtelt, hudelt, stümpert euch durch die Welt – ohne Moral, ohne Wahrheit, ohne Verantwortung für jetzige und zukünftige Generationen. Legt die Welt in Trümmer – und ihr werdet frei sein.

Die Trumpisierung der deutschen Medien galoppiert. Trump, authentischer Rüpel und Sympathisant amoralischer Freiheit, wird zum Vorbild des Westens. Noch bevorzugt der salbadernde Machiavellismus der deutschen Kanzlerin eine bürgerliche Präsentation. Noch.

 

Fortsetzung folgt.