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Neubeginn XLI

Hello, Freunde des Neubeginns XLI,

„Im Deutschlandfunk sagte er, es sei „erbärmlich“, was die Kunst- und Kulturwelt gegen politische und gesellschaftliche Bedrohungen unternehme. Man schaue nur zu und befasse sich mit sich selber. Das Europa, an das er glaube, existiere möglicherweise schon längst nicht mehr.“ (SPIEGEL.de)

Hörte man je von einem Insider ein derart vernichtendes Urteil über die Kunst- und Kulturwelt? Martin Roth, ein Ungewöhnlicher, weilt nicht mehr unter den Lebenden. Er soll an Krebs gestorben sein. Sein Krebs muss Verzweiflung gewesen sein. In einem Interview hatte er erklärt:

Demokratie heißt, dass es moralische und ethische Standards gibt, die für alle verbindlich sind.“

In Nachrufen werden seine Präsentationsfähigkeiten der Kunst gerühmt. Seine epochale Kritik an Kunst und Kultur war keine Zeile wert. Im Gegenteil: zur gleichen Zeit wütete das vereinigte Feuilletonisten-Corps gegen eine Documenta, die es gewagt hatte, die an amoralischer Ästhetik Berauschten an die Realität zu erinnern.

Die Tempel der Kunst sind zu Kathedralen der Erbauung durch das Ungute, Verwerfliche und Zerstörende geworden. Kunst muss alles zeigen – doch zu welchem Zweck? Zum Zweck des Zwecklosen, des Offenlassens für das Beliebige, für das Tändeln mit der eigenen genialischen Unentschiedenheit, ob Ästheten auf der Seite des langweiligen Lebens oder des aufregenden Todes stehen müssen?

Kunst ist von derselben Krankheit ergriffen wie die Zunft der Edelschreiber, die sich als beobachtende Künstler der Menschheitszerstörung betrachten und davon träumen, die Katastrophe der Katastrophen aus der Perspektive der

Engel zu schildern, die mit dem Gewürm auf Erden nichts gemein haben. Das nennen sie Objektivität.

Welch Zufall, dass zur gleichen Zeit Henrik Müller, sonst ein ökonomischer Einspänner, Europa nur eine Zukunft gibt, wenn selbstbewusste Menschen – er spricht von mächtigen Bürgern – dem lädierten Kontinent demokratische Spielregeln beibringen. In Brüssel regieren verkrustete Improvisationsrituale unter der Ägide von Technokraten, die nicht daran denken, den Demokratisierungsprozess der EU voranzutreiben, mit dem Ziel, eine übernationale Demokratie auf die Beine zu stellen.

„Wir schlagen deshalb vor, ein echtes europäisches Parlament zu schaffen und dieser Volksvertretung Staatseinnahmen in die Hand zu geben, über die sie aus eigener Souveränität verfügen kann. Nicht Beamte oder Regierungsmitglieder sollten darüber entscheiden, wohin in Europa das Geld fließt, sondern die parlamentarischen Vertreter der Bürger. Wie das in Demokratien Tradition hat. Unsere Überlegungen laufen auf eine Art europäisches supra-nation building hinaus. Ein Ansatz, der darauf vertraut, dass die Schaffung von gemeinsamen Institutionen die politische Dynamik so verändert, dass sich nationale Gegensätze überwinden lassen. Genau mit diesem Ziel übrigens hat der europäische Integrationsprozess mal begonnen.“ (SPIEGEL.de)

Jeder inländische Essayist beginnt mit der bombastischen Selbstlüge, wir lebten in Zeiten ständigen Umbruchs. Dabei leben wir in jahrzehntelangen Zeiten ökologischen und humanen Stillstands. Ja des Rückganges, wenn man an die demokratische Aufbruchszeit der Völker nach dem Krieg, die hoffnungsvollen Studentenbewegungen (die ihre marxistischen Verkrustungen abgeworfen hätten, wenn die Gesellschaft sinnvoll mit ihnen debattiert hätte) und das ökologische Erdbeben denkt, das die Menschheit zu erschüttern begann.

Technische Fortschritte sind quantitative Ansammlungen von Macht in den Händen weniger, keine Fortschritte auf dem Weg zu einer befriedeten und lebensfähigen Menschheit.

Welch eine Geistesverwirrung, Ansammlungen von Maschinen und Waffen als Fortschritt zu bezeichnen. Welch moralische Verwüstung, die Geldfluten der EINPROZENT mit dem Wohlstand aller zu verwechseln. Welch demokratisches Desaster, die ungeheure Macht der Mächtigen als Herrschaft des Volkes zu deklarieren.

Es herrscht trostloser Stillstand in der paradiesischen Mitte Europas. Schon Monate vor dem Urnengang scheinen die Wahlen entschieden. Alternativen dulden die Deutschen nicht. Für sie kann es nur einen Heilsweg geben – und das ist der Pilgerpfad jener heiligen Frau, die keine Politik betreibt, sondern dem Wink ihres himmlischen Vaters folgt.

Das Volk wurde solange zermürbt, bis seine Politik zur Politverweigerung wurde. Jahrzehntelang hat es hart gearbeitet, nun will es seinen Lohn: nicht mehr wählen zu müssen. Wahlen entscheiden nichts mehr. Würden sie etwas entscheiden, gälte der alte Spruch: dann wären sie schon längst verboten.

Die Eliten haben das Volk mit immer gleichen Ritualen solange genervt, bis die Massen ihre Empörung in die Katakomben des Internets verschoben. Dort können sie gesichts- und namenlos ihren Hass und ihre Wut per Knopfdruck – nicht loswerden, aber kanalisieren.

Sie wählen, ohne sich zu entscheiden. Ihre Wahlergebnisse sind Freifahrtscheine für die politische Klasse, immer dieselben lähmenden Koalitionen zu schließen. Kompromisse sind unerlässlich, aber spätestens in Wahlkampfzeiten offenbaren sich die Annäherungen als faule Kompromisse und geistverlassene Kungeleien.

Wahlkampfzeiten sind Zeiten des Denkens, radikaler Gedanken und kompromissloser Wegweisungen. Der Rhythmus demokratischer Entwicklung ist ein Zweiertakt. Im Wettbewerb der Parteien müssen Gedanken schonungslos aufeinander prallen. Haben die Wähler entschieden, müssen die Koalitionen durchsichtige Kompromisse schließen, über deren Sinn und Ergebnis der nächste Wahlkampf Rechenschaft abzulegen hat. Was nicht erreicht werden konnte, kann als geschrumpftes Ideenprogramm nicht identisch sein mit dem nächsten Wahlangebot.

Es ist wie in einem Brainstorming, jener Übung der Schwarmintelligenz, zuerst hemmungslos Ideen zu propagieren, um sie dann erst in pragmatische Lösungen zu gießen. Wer sein freies Denken zu früh durch reale Horizontverengung behindert, denkt nicht autonom, sondern hat sich Denkverbote auferlegt.

Utopische Ziele müssen frei geäußert werden, damit jeder mitdenken kann, wohin die Reise gehen soll. Es geht nicht darum, Illusionen zu erwecken, dass in wenigen Jahren sich der „Garten des Menschlichen“ auftut. Das weiß ohnehin jeder. Es geht darum, das Erreichbare am Ziel des Wünschbaren auszurichten.

Wie kann ich Zwischenziele definieren, wenn ich nicht weiß, wo das Endziel liegen soll? Keine Rede, dass das Fernziel irreversibel sein muss. Neue Erfahrungen können jederzeit den Kurs korrigieren. Ein Weltenbummler will die Welt umrunden. Das ist sein Ziel, das er klar benennen kann. Die einzelnen Etappen kann er der üblichen Mischung aus Vorhaben, Zufall und Glück überlassen.

Das Nennen eines utopischen Ziels ist keine Legitimation zur Gewaltanwendung. Wer seine Mitmenschen von seinen Zielen überzeugen will, muss sie – überzeugen. Er muss argumentieren. Er muss vertrauenswürdig sein. Sollte er gewählt werden, muss er versprechen, die unvermeidbare Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit als nicht zu verhindernde Kompromissbildungen zu erklären. Sein Denken aber darf auf keinen Fall mit Kompromissen verschmelzen.

Eben diesen Fehler begehen geradezu alle deutschen Parteien. Die Grünen haben verdrängt, was sie in der Frische ihrer Anfänge dachten. Was nicht bedeutet, Irrtümer seien nicht revidierbar, neue Erkenntnisse seien ausgeschlossen.

Popper kritisiert den Glauben an eine automatisch ablaufende Geschichte. Zu Recht. Doch er irrt, wenn er jedes utopische Denken als totalitär verurteilt. Sein Stückwerk-Pragmatismus kann nur sinnvoll sein, wenn die Stückwerke in jene Richtung zielen, die einen Gesamtsinn ergeben. Alles andere wäre leichtfertiges Herumirren im Nebel.

Verwunderlich, dass er als Sokratiker den platonischen Urfaschismus nicht unterscheiden kann von der dialogischen Überzeugungsmethode jenes Mannes, dessen Motto lautete: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun. Sokrates‘ Utopie war eine Demokratie überzeugter und kompetenter Demokraten. Weshalb er Krethi und Plethi auf dem Marktplatz mit der Frage belästigte, ob sie denn wüssten, dass eine intakte Demokratie auf der Kunst des Argumentierens beruht und inwieweit sie diese Methode beherrschen?

Wie kann Popper den automatischen Ablauf der Geschichte leugnen, gleichzeitig sich das Wissen anmaßen, sie könne nie an ein utopisches Ziel gelangen? Wie kann er von der Lernfähigkeit des Menschen überzeugt sein, ihr gleichzeitig eine willkürliche Grenze setzen? Unter dem allzu großen Einfluss seines Gönners Hayek überließ er den Menschen einem Historizismus des Scheiterns – dem Glauben an eine notwendig verlaufende Geschichte mit verhängnisvollem Verlauf.

Wahlzeiten müssen philosophische Denkzeiten sein. Nur koalierende Parteien müssen sich für den Verlauf einer Regierungsperiode kompromissbereit und pragmatisch zeigen.

Die ersten Aufbruchsbewegungen der Nachkriegszeit waren philosophischer Natur. Als fundamentales Denken und reales Tun als Gegensätze definiert wurden, galten sie ab sofort als unversöhnliche Gegensätze. Zu Unrecht.

Kompromissloses Denken orientiert den Menschen über Ziele und Maximen seines Handelns. Notwendige Kompromisse mit anderen Meinungen zeigen ihm die praktische Erreichbarkeit seiner Ideen.

Deutschland hat das philosophische Grundsatzdenken verraten. Damit haben sie das Erbe ihrer Denker ins Gegenteil verkehrt. Jene dachten, ohne zu handeln, weshalb Mme de Staël sie als Dichter und Denker verspottete. Heute wurschteln sie vor sich hin und schmähen jedes freie Denken als Ideologie potentiellen Terrors.

Dass beides zusammengehört: kühnes, rigides Denken – und Tun, das sich zunächst mit dem Erreichbaren begnügt, haben sie bis heute nicht begriffen. Utopisches Denken ist das Gegenteil von Zwangsbeglückung. Wer Menschen auf dem Niveau einer dekretierten Unvollkommenheit festhalten will (es gebe keine Lösungen, weil alles zu komplex sei), ist kaum weniger gewalttätig als totalitär-utopische Zwangsbeglücker.

Wir leben in einer formal freien Demokratie, die von Eliten mit legitim scheinenden Gewaltmethoden auf der Stufe prinzipieller Unlösbarkeit der Probleme festgehalten wird. Gleichzeitig entwickeln sie technische Utopien, die das Blaue vom Himmel versprechen. Ob sie diese maschinellen Utopien realisieren dürfen, fragen sie niemanden. Eben dies ist die verhängnisvollste List der westlichen Demokratie, ihre illiberalen Zwänge als Liberalismus zu verkaufen.

Ralf Dahrendorf war professoraler Vordenker des Liberalismus, der sich als Popperianer ausgab. In seinem bekanntesten Buch „Pfade aus Utopia“ schrieb er ein Lob auf den griechischen Sophisten Thrasymachos und erklärte ihn zum Urbild eines Liberalen.

Was war die Ideologie des Thrasymachos? Das Gerechte definierte er als den Vorteil des Stärkeren. Jede Regierung, gleich welcher Staatsform, sollte die Gesetze auf den Vorteil der herrschenden Klassen zuschneiden. Der Mann, der zu Großem fähig sei, müsse mehr Vorteile haben als der Schwache. Seine Interessen dürfe er, wenn nicht anders, auch im „Widerspruch zum Recht“ verfolgen. Ja, das Leben des Ungerechten müsse man für besser halten als das des Gerechten. „Die vollendete Ungerechtigkeit sei nützlicher als die vollendete Gerechtigkeit.“ Altbackene Gerechtigkeit sei Einfältigkeit, Ungerechtigkeit hingegen „Wohlberatenheit“. Dabei dachte er nicht an kleine Beutelschneider, sondern an Männer, die fähig seien, „Unrecht im großen Stil zu begehen und sich ganze Städte und Völker zu unterwerfen“. Wie andere Vertreter des Naturrechts der Starken vertrat Thrasymachos die Devise: Macht geht vor Recht. Das Leben des Ungerechten sei dem des Gerechten vorzuziehen. (Alles nach Wilhelm Nestle)

In Athen sprach man noch Klartext. Es gab keine Religion, die zur antinomischen Bigotterie verpflichtete: auf der Vorderseite samaritanische Nächstenliebe, auf der Rückseite göttliche Verfluchungen.

Dahrendorf verteidigt Hobbes und Thrasymachos als Vorläufer des Liberalismus. Weil die Menschen bestialisch seien, hält Hobbes – ähnlich wie Thrasymachos – einen leviathanischen Zwansgsstaat für notwendig, um die wölfischen Untertanen zum Wohlverhalten zu zwingen. Weil Menschen schlecht seien, müssten staatliche Institutionen gewalttätige „Bastionen gegen die Schlechtigkeit“ sein. „Allen Zwangstheorien der Politik läge die Annahme zugrunde, dass der Mensch immer in einer Welt der Ungewissheit lebe.“

Dahrendorf stellt Popper auf den Kopf. Nur der Mensch utopischer Gewissheiten könnte auf Zwang verzichten. Nur der utopisch ungewisse Mensch dürfe Zwang anwenden, um die fehlende Gewissheit mit Gewalt zu erobern. Dies ist die platonische Faschismusmethode, um einen idealen Staat herbeizuzwingen.

Dahrendorf ist kein Moralist. Sokrates, den rigiden Moralisten, attackiert er mit scharfen Tönen. Das muss man sich detailliert zu Gemüte führen, um die Malaise deutscher Moralgegner, die in Zeiten des Verfalls nach Moral schreien, verständlich zu machen:

„Sokrates war der der erste Funktionalist. Er beschrieb die Gerechtigkeit als einen Zustand, in dem jeder tut, was er tun soll. Dies ist offenkundig ein unseliger Zustand: eine Welt ohne Rebellen und Eremiten, ohne Wandel und ohne Freiheit. Wenn das Gerechtigkeit sein sollte, kann man sogar die im übrigen unbedachte Vorliebe des Thrasymachos für Ungerechtigkeit verstehen. Glücklicherweise waren weder Sokrates noch seine Nachfahren in der Lage, die Gesetze zu machen, nach denen sie und wir leben. Auch sie leben in einer Welt des Konfliktes und mögen daher eines Tages noch einsehen, dass solche Konkurrenz der Vielfalt die Bedingung der Möglichkeit sowohl der wirklichen Welt als auch der rationalen Erklärung ihrer Ereignisse ausmacht. Gerechtigkeit liegt daher eher im ständig sich wandelnden Resultat der Dialektik von Herrschaft und Widerstand als in einem allen Wandel entrückten Zustand unbewegter Institutionen.“

Hier ist der ganze Irrsinn des modernen Liberalismus in wenigen Zeilen konzentriert. Moral schreibt vor, was der Mensch tun soll – wenn er moralisch sein will. Da er die Moral in Freiheit erdachte, ist er es selbst, der sich etwas vorschreibt. Weder Gott noch sonstige Machthaber haben ihm etwas zu sagen. Das Sollen ist eine Sache der eigenen Überzeugung, keine Folge fremden Zwanges.

Dahrendorf verwechselt Sokrates mit Platon. Im Gegensatz zu seinem Lehrer wollte Platon das Gute durch staatliche Gewalt erzwingen. Hätte Sokrates in seiner Politeia gelebt, wäre er als erster Rebell hingerichtet worden. Dass er für sein Rebellentum den Tod in Kauf nahm, verleugnet der Lord des englischen Oberhauses. Hätte Sokrates Gesetze gemacht, dann bestimmt nicht als selbsternannter Tyrann, sondern als Angehöriger der Volksversammlung, in der Mehrheiten das Sagen hatten.

Dass Sokrates mit mäeutischen Frechheiten keinem Konflikt aus dem Weg ging, wird vom modernen Liberalismus nicht zur Kenntnis genommen, ja ins Gegenteil mangelnder Konfliktbereitschaft verfälscht.

All dies ist eine unfassliche Orgie philosophischer und politischer Verblendung. Nur ein Punkt träfe zu: hätte die „Methode Sokrates“ das Volk durch Überzeugen zur Utopie geführt, hätte es keinen Wandel mehr gegeben. Nicht, weil Wandel verboten wäre, sondern weil niemand das Bedürfnis hätte, einen menschenfreundlichen Zustand aus Gründen krankhafter Veränderungssucht ins Gegenteil zu verkehren.

Rationaler Wandel ist notwendig, um demokratische Defizite zu korrigieren. Solcher Wandel ist humaner Fortschritt. Dass eine ideale Gesellschaft immer eine freie sein muss, kann ein deutscher Professor nicht verstehen. Wie könnte die moralischste, freieste und fröhlichste Gesellschaft das Ende der Freiheit bedeuten?

Sollte Dahrendorf ein repräsentativer Liberaler gewesen sein – er war es –, muss der moderne Liberalismus die Absurdität zum Prinzip erhoben haben. Dahrendorf regredierte auf das Niveau denkfeindlicher Kirchenväter, die wenigstens noch wussten, dass sie die Denkgesetze der Heiden massakrierten.

Wo aber bleibt die viel gerühmte Vielfalt, wenn alle Menschen das Gleiche denken? Horribile dictu, es gäbe sie nicht.

Denn wozu künstliche Vielfalt, wenn Einheit der Herzen herrschte? Vielfalt ist kein Zweck an sich, sondern Zustand einer Gesellschaft, in der viele Konflikte noch keine Lösung gefunden haben. Wären sie gefunden – keine mit Gewalt erzwungenen Lösungen –, würde niemand eine forcierte Vielfalt der Irrtümer und Denkfehler vermissen.

Vielfalt als oberste Gottheit ist ein lächerlicher Popanz. Würden Mathematiker dasselbe Ergebnis einer schwierigen Gleichung errechnen, wer würde noch nach Vielfalt schreien? Nur Zwangsneurotiker ewigen Haders, die wegen glücksunfähiger Paradiesflucht den Zustand des Friedens und der Versöhnung nicht aushielten.

Im christlichen Westen muss der Mensch an seine eigene Bestialität glauben. Es wäre ein blanker Aufstand gegen Gott, diese pflichtgemäße Bestialität auf den Müll zu werfen – und ein freudiges Leben zu führen inmitten anderer Menschen, die sich ihres Lebens erfreuen.

Die Liberalität des Kapitalismus ist Zwang zum Unglück, zur moralischen Unvollkommenheit, zum Wandel von Unglück zu Unglück, zur Vielfalt des Schrecklichen, zur Freiheit zum Bösen. Das einzige Glück, das er zulässt, ist das zweifelhafte Glück, allein für sich Reichtum zu scheffeln – auf Kosten aller anderen.

Mitten im Unglück, mitten in der Ohnmacht der Meisten wähnt eine Minderheit, das ungetrübte Glück der Privilegierten zu genießen. Lust des Einzelnen auf Kosten der Unlust von Vielen ist das Prinzip christlicher Seligkeit. Viele sind berufen, wenige auserwählt. 99PROZENT der Menschheit lässt ihr Schöpfer verderben, EINPROZENT wird mit IHM ewige Lust und Seligkeit erleben.

Welch eine Ideologie von Eliten, die vor Eigensucht nicht mehr aus den Augen schauen können. Die Demokratie des Westens hat nicht die geringste Chance, sich zu verbessern, Fehler zu korrigieren, aus Irrtümern zu lernen, Missstände abzustellen und Probleme zu lösen, wenn diese religiösen Orgien der Ungleichheit nicht überwunden werden.

Vieles ist emotional bereits überwunden. Wie aber kann man ein scharfer Kritiker Kants sein – wenn man sich weiterhin Kantianer nennen will? Wie kann man sich Popperianer nennen, wenn man Platons Zwangsbeglückungen für notwendig hält? Wie kann man sich Christ nennen, wenn man nichts mehr übers Christentum weiß?

Jede Religion und jede Philosophie kann man weiterentwickeln. Aber nur durch Kritik, die sich eindeutig vom Original distanziert, nicht durch diffuse Entfernungsgefühle, die sich dennoch an der Religion festklammern.

Martin Roth hat den moralischen Verfall der heutigen Kunst und Kultur angegriffen. Wenn wir Sport und Unterhaltung als Teil der öffentlichen Kultur nehmen, können wir kaum widersprechen. Wo bleiben die sündhaft teuren Fußballer, die Boris Beckers, Jauchs und Gottschalcks, die Till Schweigers und Veronica Ferres, die mit einem einzigen Wörtchen den Verfall der Demokratie anprangern würden? Wo bleiben Literaten und Intellektuelle, die sich der Verluderung der Demokratie öffentlich widersetzen?

Im Gegenteil, sie stellen jene an den Pranger, die sie „Besserwisser mit erhobenem Zeigefinger“ nennen. Dass jede Demokratie vom Wettstreit der Denkenden um die beste Problemlösungsmethode lebt, hat sich in einem merkelischen Deutschland noch nicht herumgesprochen, das vor eitler Demut jedes selbständige Denken eingestellt hat. Überall sollen die Besten die Nase vorn haben – nur nicht bei der Beantwortung der wichtigsten Fragen: Was muss ich tun, um die Demokratie nach vorne zu bringen? Muss Leistung wirklich die Leistung bornierter Anpassung sein, nicht die Kompetenz, unsere Gesellschaft humaner, freier und gerechter zu gestalten?

War Kunst eine kritische Begleiterin der kapitalistischen Entwicklung? Widersetzte sie sich dem Fortschritt ins Unmenschliche? Gelegentlich bildete sie sich das ein. Meist war das Gegenteil der Fall. Zumeist war Moral eine Zwangsjacke, der sich die Künstler entledigten.

Kein Zufall, dass moderne Kunst zum Lieblingshobby schwerreicher Industrieller geworden ist, die ihre heißgeliebten Objekte als Börsenspekulationsobjekte gebrauchen. Würde man Zitate bedeutender Künstler der Neuzeit aneinander reihen, ohne ihre Namen zu nennen, würde man Propagandisten des Kapitalismus und eines ungehemmten technischen Fortschritts vermuten.

Mit Schiller begann die Zweideutigkeit der Kunst, die kurz nach seinem Tode, in der Romantik, zur Eindeutigkeit eines verherrlichten Amoralischen wurde. Schiller war gespalten in den Vertreter der moralischen Anstalt und den einer „Philosophie der Schönheit, die das deutsche Lebensideal vom Moralismus befreit.“ (Korff)

Beschränken wir uns zuerst auf Schiller I, den einstigen Bewunderer der Französischen Revolution, der sich wegen der Grausamkeiten eines Robespierre von ihr abwandte. Sein Fazit: erst müsse der Mensch durch Kunst moralisch werden, dann erst werde er fähig, eine moralische Politik zu betreiben. „Alle Verbesserung des Politischen soll von Veredelung des Charakters ausgehen.“ Dazu bedürfe es eines Instruments, nämlich der Kunst. Der „schöne Künstler“ arbeitet dem politischen in die Hand. Das Ergebnis ist der „ästhetische Staat“, in dem das Schöne für humane Geselligkeit bürgt. „Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in die Gesellschaft nötigt und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft.“ Kunst dient nicht der sozialen Kompetenz, sie gewährt dem Menschen, was ihm das gesellschaftliche Kastensystem vorenthält: Gleichheit.“ (Alles nach Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst)

Nach Schiller kommt der radikale Bruch. Alle Bürger, die sich jetzt auf Schiller beriefen, um eine moralische Gesellschaft zu bauen, wurden von romantischen Ästheten unerbittlich zu Spießern und Bildungsphilistern erklärt. Diese Wertung gilt unverändert bis heute.

Hofmann selbst, einer der wichtigsten Kunsttheoretiker der Nachkriegszeit, hält die Moralisierung der Kunst für ein Verhängnis. Zu Recht hätten die Künstler der Moderne sich aus der Zwangsjacke des Moralisch-Politischen befreit. Dem Bildungsphilister wirft Hofmann eine selbstgerechte Urteilsbildung vor:

„Wie er in allem die Veränderung ablehnt, weil die Kunst die Ruhe stört, das Beglaubigte in Frage stellt und Ungewissheit verbreitet, verlangt er von der Kunst, dass sie unverwandt das Moralische, Gefällige, das Angenehme und sittlich Erhebende preise. Zu einem politischen Instrument der harmonischen Geselligkeit geworden, müsse Kunst sich der Gemeinverständlichkeit verschreiben. Nur so könne sie das Ideal der Gleichheit verwirklichen. Wer in der Kunst einen demokratischen Bildungsfaktor erblickt und von ihr die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Stabilisierung verlangt, fordert ihr breiteste Wirksamkeit ab. Er gibt sie jedem in die Hand, liefert sie schließlich den Ordnungshütern aus, die über Anstand, Sitte und politische Moral zu wachen haben. Schließlich können alle über sie urteilen und nach ihrem Nutzen für das Gemeinwesen fragen. Der Steuerzahler verlangt Rechenschaft, der Zensor waltet seines Amtes.“

Kurz: wer eine moralische Kunst fordert, fordert einen faschistischen Staat. Oder eine Diktatur der Plattköpfe, die alles verstehen wollen, selbst wenn es ihren beschränkten Horizont übersteigt. Moral ist Zwangsbeglückung – womit wir wieder bei Dahrendorf, dem Vordenker der Liberalen, angekommen wären.

Ästhetische und politische Begriffe scheinen austauschbar geworden zu sein.

 

…wird fortgesetzt.