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Neubeginn XCVI

Hello, Freunde des Neubeginns XCVI,

es geht uns so unfasslich gut“ (Astrid Frohloff, ARD).

Und weil es uns so unfasslich gut geht, verglüht deutsche Politik im Wärmetod der Vollendung. Koko oder Kiki, monogam oder polyamor: der Liebesreigen der Parteien kennt nur noch ein Thema: Sex mit der Ex?

Eines Morgens erwachten die Feinde der Utopie und fanden sich mitten im Paradies. Politik? Überflüssig. Was genial ist, das ist deutsch und was deutsch ist, das ist vollendet. Allet juut in Berlin. Er liebt sie, er liebt sie nicht, sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht … Kokett Nein sagen, tändelnd die kalte Schulter zeigen, die roten Linien dürfen nicht zu schnell ins Allerheiligste führen. Vorlust muss retardierend zelebriert werden. Die Freuden der Kohabitation kommen früh genug.

Im Überfluss droht Langeweile. Vorsicht, die Amerikaner in Abwärtsspirale könnten auf das deutsche Schlaraffenland (Land der schlafenden Affen) neidisch werden. Parbleu, sie sind es schon geworden. Der Präsident gibt der Kanzlerin der Bösen nicht einmal mehr die Hand. Oh weh, wer soll die Raketen abschießen, wenn der nordkoreanische Diktator sich Europa einverleiben will, um sein geliebtes schwyzerisches Eliten-Internat heimzuholen?

Endlich dürfen deutsche Politiker zeigen, was sie von ihrem Job halten. Sie fühlen sich überflüssig. Wesentliches gibt es nicht mehr zu tun. Nur noch klammheimlich die Diäten erhöhen, danach die Standardrituale.

Politik läuft auf Automatik. Silicon Valley schickt bereits seine Emissäre gen Neugermanien, um das Vollendete in Algorithmen zu fassen. Probleme gibt es nur im Ästhetischen: wie die Physiognomien der Protagonisten erfassen, damit ihre

roboterisierten Widergänger ihre Vorlagen in den Schatten stellen?

Macron, der Einzige, der noch Europa buchstabieren kann, lädt Rang und Namen nach Paris, um die Welt zu retten. Von der deutschen Kanzlerin nichts zu sehen. Sie wollen keine Politik mehr betreiben, nicht mehr die Welt verändern. Die deutsche Welt ist komplett. Wo der Weltgeist sich niederlässt, da ist gut Hochzeit feiern. Mit Verstecken, Foppen, sich unschuldig geben und theatralisch anklagen – um endlich von Papa Steinmeier im Heißa der Claqueure gesegnet zu werden.

Die immer zu spät kommen, siehe, sie haben alle überholt. Die amerikanische Zukunft: in Deutschland ist sie zum präsentischen Ereignis geworden. Lasset die anderen auf den Garten Eden warten, bis sie schwarz werden. Für die glücklichen Untertanen Merkels gilt: Hic Rhodus, hic salta. Hier ist Aufschwung, hier lass uns die philosophisch-politische Symbiose feiern.

Warum sind sie so gedankenarm, die Gehetzten und Getriebenen? Weil sie – sie wissen es nicht – Philosophie in Politik verwandelt haben. Indem sie sich durchlavieren, denken sie. Indem sie agieren, spekulieren und digitalisieren, vermählen sie Idee und Wirklichkeit. Sie müssen nicht mehr denken, die Realität denkt für sie. Gottes Odem ist die Wetterlage ihres täglichen Tuns. Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst.

„Eine philosophische Schrift muss am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen. Die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll. Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfasst. Denn was ist, ist die Vernunft. Es ist ebenso töricht zu wähnen, eine Philosophie gehe über ihre Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit. Geht seine Theorie drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl: aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden lässt. Was vernünftig ist, ist wirklich und was wirklich, ist vernünftig. Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und sich dieser zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit. Um über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt die Philosophie immer zu spät. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug. Was Luther als Glauben im Gefühl begonnen, es ist dasselbe, was der gereifte Geist im Begriffe zu fassen bestrebt ist.“ (Hegel)

Die Rose im Kreuz, Luthers Symbole, waren auch die Symbole Hegels, der nichts als lutherisch sein wollte – es aber nicht war. Für Luther waren Gottes Wege unergründlich, für Hegel aber war es eine denkerische Herausforderung, die er glaubte, meisterhaft bestanden zu haben: Gottes Gedanken in der Wirklichkeit vollständig zu entziffern.

Die Rose, das ist heute eine Pastorentochter – und ihr glückliches Germanien; das Kreuz die sündige und neidische Welt, die nichts lieber will, als an den Segnungen der Rose teilzunehmen. Allein: sie muss das Kreuz tragen und unter der sengenden Sonne Afrikas verderben.

Luther wollte das Apfelbäumchen pflanzen, damit sein Gott etwas zu vernichten hätte, wenn er morgen vor der Tür stände. Hegel kannte keine Apokalypse. Er vereinte Gott mit der Welt, damit die Welt ewig sei. Das aber war nicht christlich, sondern griechisch. Heidnisches und Religiöses, Vernunft und Glauben, Griechisches und Christliches, wollte Hegel zur Synthese bringen. Das Unvereinbare sollte versöhnt werden. Es gelang ihm nicht. Seine Lösung war griechisch. Den Dualismus der Erlöser hatte er in einen Monismus verwandelt, indem er jenem den Zahn des Unversöhnlichen gezogen hatte. Das war eine Verfälschung.

Der junge Hegel begann als begeisterter Grieche, als einer der schärfsten Kritiker des Christentums. Doch dann reute es ihn, dass er seinem Kinderglauben untreu geworden war und er eilte als verlorener Sohn zurück zum Vater. Die Versöhnung war ein gigantischer Irrtum. Der Vater würde die Welt am Ende der Tage in Stücke schlagen, sein missratener schwäbischer Sohn aber rettete die Welt, indem er Gott dazu verurteilte, sie vernünftig zu machen.

Wenn die Welt im Kern vernünftig war: was blieb da noch für einen prometheischen Schüler namens Karl Marx? Ihm blieb nur der Donnerschlag, sie wieder unvernünftig zu machen – um ihre Versöhnung lediglich ein Stück nach hinten zu verschieben. An irgendeinen Sankt Nimmerleinstag. Auch den Proleten blieb nichts übrig, als die Welt und ihre Geschichte zu erkennen und zu akzeptieren, wie sie sind. Selbst die Revolution war ein Geschenk der Geschichte an die Menschheit.

Hegel sah den Punkt der Vollendung in der Gegenwart, Marx verschob ihn an ein unbekanntes revolutionäres Ende. Bei Hegel waren Menschen Statisten einer geistigen, bei Marx einer materiellen Entwicklung. Marx versteckte den Geist in der Materie, um die Materie zum Geist aufzuwerten. Selbst den ungeduldigsten Heißspornen blieb nichts anderes übrig, als den Zeichen an der Wand zu gehorchen.

Auch Marxens Revolutionäre waren Marionetten einer Heilsgeschichte, deren Gott die Materie war. Marx brachte das Kunststück fertig, Hegels passives Grau in Grau als revolutionäre Maskerade zu präsentieren. Allein, es half nichts. Die Revolution in Russland brachte nach unendlichen Verbrechen nichts als den zaristischen Alltag Putins zurück. Und im Westen verkam die linke Idee zur klaglosen Dulderin des kapitalistischen Gegners. Berlin, Hauptstadt des Grau in Grau, feiert sich als Endpunkt der Geschichte.

Wenn Politik zur grauen Selbstanbetung verkommt, müssen unerledigte Probleme ein anderes Ventil finden, um ihren Überdruck abzulassen. Die weltbesten Bewältiger der Geschichte entlassen ihre unbewältigten Dämonen. Antisemitismus, der Hass gegen Juden: er zeigt sich wieder. Am wenigsten auf der Straße, am meisten in den Gehirnen der Intellektuellen, die sich gratulieren, ihn ad acta gelegt zu haben. Am meisten in den Gazetten einer außer Rand und Band wütenden Springer-Presse.

Dialektisch, wie die Deutschen sind, hat sich der Antisemitismus bei ihnen verpuppt. Er kommt daher in der Pose des Gegenteils. Soll das Philosemitismus sein, wenn die Juden dargestellt werden, als würden sie unisono devote Kritiklosigkeit von den Deutschen verlangen? Wenn jede Kritik an der Regierung in Jerusalem en bloc als Antisemitismus verdächtigt wird? Wenn die Stimme der Palästinenser unterdrückt wird? Ja, wenn jedes Verstehen ihrer unterdrückten Lage blindwütend als Antisemitismus beschimpft wird?

Generell gilt in Deutschland: Wer auch immer versucht, jene zu verstehen, deren Position er nicht teilt, gilt als deren verkappter Kumpan. Die deutsche Dummheit hat derartige Ausmaße angenommen, dass sie weder ihre technischen Projekte, noch ihre historisch-vergifteten Probleme mit gesundem Menschenverstand lösen können.

Stopp, da haben wir ihn bereits, den Übeltäter. Gesunder Menschenverstand! War Gesundheit nicht das Privileg einer überlegenen Rasse, die alles Fremde als ungesunde Infiltration vernichten wollte? Mit solchen Wortschablonen wird hierzulande der Antisemitismus zur Kenntlichkeit entlarvt. Da niemand definiert, was Antisemitismus ist, kann jeder nach Lust und Laune seine psychischen Verdächtigungen als Beweise missbrauchen.

Nach diesem Schema wäre jeder der Polizei zu melden, der aus seinem Herzen keine Mördergrube machte und einem Zeitgenossen am liebsten verbal den Hals umdrehen wollte. Bezeichnet sich derselbe als Künstler, ist er allerdings von allen Verdächtigungen frei. Tötet Kohl: war Schlingensief ein potentieller Kohl-Mörder? Kunst in Deutschland darf alles, selbst dann, wenn sie ihr geschütztes Gelände in Theater und Literatur verlässt und gegen Gesetze verstößt. Was, wenn das Verbrennen israelischer Fahnen als künstlerisches Happening aufträte? Müsste ein Therapeut seine Patienten nicht ans Messer liefern, wenn sie ödipale Mutterschändung oder Vatermordgefühle äußerten?

Gleichwohl, sind Taten nicht Früchte der Gefühle? Zweifellos. Müssten Gefühle ergo nicht bekämpft werden, um schlimme Taten zu verhindern? Zweifellos. Wie aber bekämpft man Gefühle? Indem man sie aus dem dunklen Bereich des Es ins Ich holt und sie – horribile dictu – versteht und akzeptiert. Nicht moralisch, sondern faktisch. Ja, du wirst von schrecklichen Gefühlen geplagt. Wenn du sie nicht bewältigst, besteht die Gefahr, dass sie dich aus dem Dunkeln überrennen und zu etwas zwingen, das du „eigentlich nicht gewollt hast“. Auch der Patient muss seine verbotenen Triebe diplomatisch anerkennen, um sie durch rationale Arbeit seines Ichs zu entkräften.

Antisemitismus-Vorwürfe sind zumeist Vermutungen auf Basis unzureichender empirischer Erkenntnisse. Bei Poschardt ist jede Kritik an Israel nichts als die Fassade antisemitischer Emotionen. Die Hatz gegen Andersdenkende ist inzwischen so weit gediehen, dass auf den kleinsten Anhauch von Argumenten verzichtet wird. Wer argumentiert, macht sich verdächtig. „Der schlimme Netanjahu“ – soll heißen, wer Netanjahus Besatzungspolitik nicht anerkennt, versteckt sich hinter einem „gutmenschlichen, moralinsauren, pragmatisch unfähigen“ Angriff. Einem Angriff gegen einen über alle Kritik stehenden – ja was? – Nationalisten, Chauvinisten, Faschisten? Reichelt & Poschardt halten sich gar nicht erst damit auf, die Politik Netanjahus zu verteidigen. Steht doch seine Politik jenseits aller Kritik, jenseits von Gut und Böse und ist von kleinen Moralpinschern nicht im Geringsten zu verstehen.

Kein Palästinenser, kein Völkerrechtler wurde in das schändliche Anne-Will-Palaver eingeladen. In der Kollektivhatz deutscher Medien werden Kollektivgegner ausgeblendet. Jeder Streit hat seine zwei Seiten, beide müssen gleichberechtigt zu Worte kommen?

Schon wieder haben wir ihn am Kragen: iIsrael, für das Deutschland eine „besondere Verantwortung“ übernommen hat, soll auf die gleiche Stufe gestellt werden mit den Palästinensern? Über den Sinn dieser Verpflichtung nachzudenken, riskiert die Entfesselung aller Phänomene des Judenhasses. Wer dieses Denkverbot erteilt, müsste selbst einmal unter die Lupe genommen werden. Kann er seiner übermäßigen Antisemitismus-Bedürfnisse nicht anders Herr werden als durch aggressive Verwandlung ins Gegenteil?

Hat Deutschland nicht die Pflicht zur bedingungslosen Loyalität gegenüber Israel, dem Staat der Zuflucht für jene Juden, die der Vernichtungsmaschinerie der NS-Schergen entkamen? Wenn bedingungslos bedeutet, jenseits aller menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtung, dann auf keinen Fall. Sollte alles, was Israel tut, sich der moralischen Bewertung seitens der Täter entziehen? Der Staat könne in Jerusalem tun und machen, was er will? Kein Deutscher hätte das Recht, ihm die Meinung zu sagen? Das wäre Irrsinn, auf keinen Fall eine humane Konsequenz aus dem Holocaust-Verbrechen.

Welche Lehren muss Deutschland aus seinen Völkerverbrechen ziehen?

a) Jedes Verbrechen in dieser Welt – auch in Israel – hat er als Verbrechen anzuklagen. Ausnahmen und Kompromisse ausgeschlossen.

b) Das trifft erst recht für Demokratien zu. Demokratien haben nur eine einzige Chance, dem Verfall zu entgehen, wenn sie Moral und Recht peinlich genau achten. Im Pädagogischen und Politischen durch ansteckende Vorbildlichkeit, im Juristischen durch eine kompromisslose, aber menschliche Gerichtsbarkeit. Was bedeuten soll: Verbrecher müssen verstanden werden.

Kein Mensch wird als Verbrecher geboren. Verbrecher sind keine Vertreter des Bösen, sondern selbst unglückliche Opfer ihrer Umgebung, die ihre Defekte nichts anders steuern konnten, als andere zu ihren Opfern zu machen.

Der rituelle Hinweis von Reichelt & Co, Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, ist in seiner Gehirnlosigkeit nicht mehr zu überbieten. Demokratien standen an der Spitze aller Menschenrechtsverteidiger. Jetzt sollen sie die Lizenz zum Gegenteil besitzen?

Wie reagieren die Springer-Gazetten? Im Gewand des Philosemitismus signalisieren sie der israelischen Regierung: wir haben so viel Dreck am Stecken, dass wir bei euren Übeltaten durch die Finger gucken – damit ihr ein wenig schuldiger werdet und wir uns ein bisschen unschuldiger fühlen dürfen. Hier wird ein Deal durchgeführt. Wie ihr Juden schuldiger werdet, so werden wir unschuldiger. Wäre der Deal ein bewusster Akt der Deutschen, wären sie ein Abschaum an Zynismus.

Die Wut der Muslime muss keineswegs antisemitische Gründe haben. Die meisten von ihnen leiden unter der Besatzungspolitik der Israelis. Was ihren Zorn besonders anstachelt, ist die Art und Weise, wie der Westen diese Verbrechen ignoriert oder verteidigt. Zu Recht haben sie den Eindruck, der Westen messe hier mit zweierlei Maß.

Gewöhnlich werden ähnliche Verbrechen in anderen Staaten angeprangert. Doch Israel wird behandelt, als stehe das Land außerhalb aller Normen. Das ist Bigotterie, die die Ohnmacht der Muslime in „blanken Hass“ verwandelt.

Blanker Hass ist eine Lieblingsvokabel deutscher Medien, um ihrer Empörungspflicht nachzukommen. „Schluss mit“: das ist BILDs Standardformel, „bedingungslos dem Hass entgegenzutreten.“ Kaum zu glauben: mit gesetzmäßigen und polizeilichen Maßnahmen wollen deutsche Rechthaber Gefühle verbieten. Die Gründe derselben interessieren niemanden. Anderen werfen sie in harmlosen Dingen Rechthaberei vor, sie selbst handeln in unfehlbarer Selbstgerechtigkeit. Dass Gefühle durch viele Faktoren geprägt werden, die nur durch mühsame sozialtherapeutische Maßnahmen verändert werden können – das ist deutschen Scharfrichtern nicht zu vermitteln.

Die Springer-Presse zeichnet das indirekte Bild des Juden als eines gewissenlosen Machtmenschen, dem das Leid anderer Menschen gleichgültig ist. Juden, die diesem Klischee nicht entsprechen und Israel scharf kritisieren, kommen in BILD nicht vor. Wer kennt hierzulande die Namen Chomsky und Uri Avnery? Wer Amira Hass, die lange Jahre unter Palästinensern lebte und deren Überlebenskampf mit Anteilnahme schilderte? Undenkbar, dass eine Felicia Langer – die viele Palästinenser vor israelischen Gerichten verteidigte – in einem TV-Streitgespräch gegen Wolffsohn antreten dürfte.

„April 2013 schrieb Hass einen Artikel im Haaretz, wo sie das Steinewerfen der Palästinenser auf Israelis als das „Geburtsrecht und Pflicht eines jeden unter fremder Herrschaft“ verteidigte.“

In BILD wird Israel dargestellt, als sei es Opfer einer übermächtigen palästinensischen Nation, die nichts anderes wolle, als das heilige Land vom Erdboden zu vertilgen. BILD attackiert jede palästinensische Mücke und tabuisiert jedes israelische Kamel. Der Philosemitismus von BILD und WELT kann schon deshalb nicht human sein, weil er die Palästinenser zu rechtlosen Untermenschen stempelt. Deutsche und Juden haben ein Bündnis geschlossen, das erbarmungslos auf Kosten Dritter geht. Menschenrechte sind allgemeine Rechte und gelten für alle Nationen.

„Er fordert gleiche Grund- und Bürgerrechte für alle Menschen auf Grundlage des Naturrechts. Menschenrechte eignen allen Menschen von Natur und Geburt. Sie werden nicht nach Belieben oder Interessenlage, Nützlichkeit und Brauchbarkeit von der Obrigkeit verliehen oder entzogen. Sie sind unveränderlich, unverlierbar und unveräußerlich“.

Diese Worte schrieb ein gewisser Moses Mendelssohn, Urvater der jüdischen Aufklärung in Deutschland. Schon jemandem aufgefallen, dass die jüdisch-deutsche Aufklärung im nicht vorhandenen deutsch-jüdischen Dialog keinerlei Rolle spielt?

Die gegenwärtige Politik Israels wird von der Religion bestimmt. Die Ultrafrommen wollen ihr biblisches Land zurück. Darunter machen sie es nicht. Der ursprüngliche Zionismus hatte einst die Vorstellung eines friedlichen Miteinanders mit der im heiligen Land lebenden Urbevölkerung. Besonders der Bund Brit Shalom mit Martin Buber, Gershom Scholem lehnte jeden jüdischen Imperialismus ab. Bereits im Jahre 1931 wurde der Bund aus dem Zionistenkongress ausgeschlossen. Als die Fundamentalisten, die den gottlosen Staat ursprünglich ablehnten, dennoch ins Land ihrer Väter zogen, gelang es ihnen, die vorbildlichen Anfänge nach und nach ins theokratische Gegenteil zu verkehren.

Hannah Arendt urteilte von Anfang an, „die Gründung des Staates Israel stelle ein Politikum dar, das die alte Brüderlichkeit beendete“. Micha Brumlik, der als junger Mann in einem Kibbuz lebte, wurde zu einem „Antizionisten“, weil er mit Abscheu bemerkte, mit welch unlauteren Tricks das Land der Palästinenser enteignet wurde.

Brumlik ist einer der Wenigen, die an die christlichen Urgründe des Antisemitismus erinnern. Antisemitismus ist keine Erfindung der Moderne, wie Poschardt geschichtsblind behauptet, indem er an die Hep-Hep-Bewegung im 19. Jahrhundert erinnert. Moderne Rassismus-Versionen sind Variationen des immer gleichen Urmotivs der Christen, die das erste auserwählte Volk bekämpften, um seinen Platz einzunehmen.

„Ob aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind und du, da du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Safts im Ölbaum, so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, daß du die Wurzel nicht trägst, sondern die Wurzel trägt dich. So sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen, das ich hineingepfropft würde. Ist wohl geredet! Sie sind ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du stehst aber durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, daß er vielleicht dich auch nicht verschone. Darum schau die Güte und den Ernst Gottes: den Ernst an denen, die gefallen sind, die Güte aber an dir, sofern du an der Güte bleibst; sonst wirst du auch abgehauen werden. Und jene, so nicht bleiben in dem Unglauben, werden eingepfropft werden; Gott kann sie wohl wieder einpfropfen. Denn so du aus dem Ölbaum, der von Natur aus wild war, bist abgehauen und wider die Natur in den guten Ölbaum gepropft, wie viel mehr werden die natürlichen eingepropft in ihren eigenen Ölbaum.“ (Römer 11)

Paulus glaubte daran, dass der jüdische Widerstand gegen Jesus eines Tages aufhören und seine Landsleute an den Erlöser glauben würden. Bis dahin waren christliche Nichtjuden für ihn nur zweite Wahl: wider die Natur wurden sie nachträglich in den Ölbaum eingepflanzt. Versteht sich, dass spätere Völker wie die Deutschen, die sich ebenfalls als auserwähltes Volk empfanden, ihre Vorgänger ausrotten wollten, um sich unbesiegbarer Konkurrenten zu entledigen.

Die christlichen Wurzeln des Antisemitismus werden heutzutage weder von Juden, noch von Christen angesprochen. Die Religionen haben sich entschlossen, vor der Welt Brüderlichkeit zu simulieren. Sie wollen sich als Botschaften reiner Menschenliebe präsentieren.

Und nicht zuletzt: „Der Kampf gegen die Aufklärung begann als Kampf gegen das Judentum.“ Hamanns Schrift „Golgatha und Scheblimini“ war gegen Juden und Aufklärung gerichtet.

Propagandisten der Netanjahu-Politik bevorzugen mittlerweilen eine neue Strategie. Debatten um die Völkerrechtswidrigkeit der Besatzungspolitik wischen sie lässig vom Tisch. Wie der Historiker Wolffsohn, der in hastigen Nebensätzen (bei Anne Will) einräumte: ich klage diese Besatzungspolitik an wie Sie. Doch was soll‘s: politischer Pragmatismus gebietet, endlich die Tatsachen anzuerkennen. Moralische Bedenken bringen uns nicht weiter.

Realitäten anerkennen, die gegen Rechte verstoßen, ist eine inhumane Politik. Wenn der Westen weiterhin moralisch verkommt und nur noch Machtinteressen anerkennt, soll er das deutlich sagen. Auf demokratische Grundsätze und Menschenrechte aber sollte er sich dann nie mehr berufen.

Es ist unverhüllter Machiavellismus, sich in den Dienst einer rechtlosen Besatzungspolitik zu stellen. Wenn der Landraub Israels anerkannt werden soll, mit welchem Recht wird Putins Krimbesetzung verworfen? Diese Frage des luxemburgischen Außenministers wurde von Anne Will kaltschnäuzig überhört.

BILD tut sich besonders dabei hervor, alle Freunde Putins zu versenken – aber dasselbe Unrecht Netanjahus mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Schmachvoller kann eine kollektive Heuchelei nicht sein. Fast die gesamte politische Nomenklatura beteiligt sich an dieser doppelzüngigen Strategie.

Berlin ist im politischen Nirwana angekommen. Deutschland steht in der besonderen Pflicht, die israelische Regierung in schonungsloser Fürsorglichkeit zu kritisieren – und sich von ihr kritisieren zu lassen.

Der aufkommende Antisemitismus in Deutschland kann nur durch heuchelfreie, aufrichtige Beziehungen zwischen beiden Staaten wirksam bekämpft werden. Ein pathologischer Philosemitismus hingegen zerstört jeden Versuch, einen deutsch-jüdischen Dialog ins Leben zu rufen.

 

Fortsetzung folgt.