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Neubeginn XCIX

Hello, Freunde des Neubeginns XCIX,

„Wenn ihr angefochten werdet durch Traurigkeit und einen Wurm im Gewissen habt, dann esst, trinkt, sucht Unterhaltung, wenn euch die Gedanken an ein Mädchen aufhelfen, so tut so.“ (Reformator aus Wittenberg)

Trauerspiele in Berlin. Das Leid der Hinterbliebenen nutzen Politiker als Bad der Wiedergeburt. Alle Medien rühmen die Demut der Kanzlerin, die Schlichtheit der Gedenkfeiern, das Schweigen und Innehalten, den rechten Ton der Feiern. Wenn Not und Schmerz das Land heimsuchen, schlägt die Stunde der Talarträger, die dem heidnischen Staat und der kalten Vernunft zeigen, was wahrer Trost ist. Es kommt auf den Ton an, Inhalte sind ohne Bedeutung.

„Angela Merkel steht still da, in schwarzem Mantel, den Kopf gesenkt. Die Kanzlerin selbst hält zur Einweihung des Mahnmals keine Rede. Danach ist Merkel aber die Erste, die eine Kerze entzündet und sie zeitgleich mit Angehörigen vor der Gedächtniskirche abstellt, in ein Meer von weißen Rosen. Merkels Auftritt ist voller Demut. Am Vorabend des Gedenkens hatte Merkel sich nun erstmals mit Opferangehörigen und Verletzten getroffen, gut zwei Stunden saßen sie im Kanzleramt zusammen. Die Gespräche haben bei der Kanzlerin offenkundig einen tiefen Eindruck hinterlassen. Merkels Botschaft: Wir haben verstanden. Das Gespräch mit den Betroffenen, sei „ein sehr schonungsloses“ gewesen, sagt die Kanzlerin, ein Gespräch, „das gezeigt hat, welche Schwächen unser Staat in dieser Situation auch gezeigt hat“.

Alles hinter verschlossenen Türen. Trauer ist ein intimer Akt – für den Staat. Er schützt die Angehörigen, um sich selbst gegen Kritik der Öffentlichkeit zu schützen. Demokratie ist vulgär und rabaukenhaft, nichts für Zeiten der Not, in denen Rücksicht und Anteilnahme gefordert sind.

Demokratie lebt von Tugenden, die sie selbst überfordern. Wenn‘s ernst wird, muss das Heilige einspringen, um die Unfähigkeiten des Unheiligen mit Liebe zu überdecken. Mit jedem Trauerakt werden die spärlichen Reste des Laizismus noch mehr

entsorgt. Noch einige Attentate – und die deutsche Volksherrschaft hat sich endgültig in eine Herrschaft des Sakralen verwandelt. Staat, civitas des Teufels, muss eingerahmt werden durch eine civitas Gottes, damit er nicht vor der Zeit den Löffel abgibt. In Grenzsituationen stehen himmlische Popen bereit, um dem heidnischen Giftgewächs eine Jenseitsspritze zu verpassen.

Auch die Werbepsychologie folgt dem Gesetz der Böckenförde-Doktrin, der Sakralisierung des Ökonomischen:

„Stellen Sie sich vor, wir alle würden Produkte als rein rationaler Homo oeconomicus kaufen: Wir bewerten das Produkt mittels einer Stärken-und-Schwächen-Analyse, wir brauchen das, wir kaufen – das wäre ja grausam! Nur noch Pflichtkäufe! Wir kaufen eben meist nicht das Produkt in seiner Funktionalität. Wir kaufen den Zauber drumrum. Das bedeutet andererseits für den Werber: Es muss ihm gelingen, aus einer Oblate für wenige Cent den Leib Christi zu machen.“ (ZEIT.de)

Aus einem schäbigen Produkt (Luther: aus schlechtem Brot und Wein) wird der Leib Christi, aus einem räudigen Staat die himmlische Polis. Die Attentäter sollte man als Werkzeuge des Herrn betrachten, ob sie wollten oder nicht. Jedes Verbrechen ist eine Transsubstantiation schlechter Demokratie in eine civitas dei.

Auf den Ton der klandestinen Feier kam es an. Nicht auf Inhalte. Wenn Demokratie wesentlich wird, gibt es keine profanen Worte mehr – nur noch spirituelle Alfanzerei. Das Profane ist das Revier der Geschwätzigen, wer heiligen Boden betritt, der schweige. Ziehe deine Schuhe aus, du betrittst heiligen Boden.

Nicht sie – der Staat habe Schwächen gezeigt, sprach die Kanzlerin ins Mikrofon. Schuldig war die Kanzlerin hineingegangen, unschuldig kam sie heraus. Große Worte zu machen, hatte sie den Männern überlassen. Sie weiß, wie man sich im Bad der Wortlosigkeit weiß wäscht. Das Weib schweige in der Gemeinde: die pastorale Demütigung der Frau hat sie listig in ein Herrschaftsinstrument verwandelt.

„Schon tags zuvor hatte Merkel die Angehörigen ins Kanzleramt geladen – viel zu spät, wie viele Betroffene fanden. Achtzig von ihnen waren gekommen, für ein vertrauliches Gespräch, drei Stunden, länger als geplant. Merkel ging von Tisch zu Tisch, hörte zu, machte sich Notizen. Auch neben Petr Cizmar setzte sie sich. Freundlich sei das Gespräch gewesen, sagt er. Als Cizmar aber gefragt habe, wann endlich jemand Verantwortung für den Anschlag übernehme, habe Merkel geantwortet, dafür müsse erst einmal die Aufarbeitung beendet werden“. (TAZ.de)

Ein RBB-Bericht war ergriffen – in Mediendeutsch: „gab sich ergriffen“ – vom spirituellen Ort des Geschehens. Danach kam ein Hinterbliebener zu Wort: nein, er wisse noch immer nicht, wer Schuld trägt am schrecklichen Geschehen. Er bräuchte innere Aufklärung, um mit sich ins Reine zu kommen. Doch statt Aufklärung gab‘s Oberammergauer Festspiele.

Warum wird Vernunft zur kalten Gefühllosigkeit, Demokratie zum eitlen Spiel von Sündern und Gottlosen verfälscht? Damit die Kälte der Erwählten als rituelle Anteilnahme präsentiert werden kann. Bunyans Glaubensheld hatte keinerlei Mitleid mit Weib und Kind, als er sie stehen ließ, um die Reise ins himmlische Jerusalem fortzusetzen. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.“

Das neutestamentliche Gesetz schlechthinniger Gefühllosigkeit zu seinen Liebsten ist auch das Gesetz des Kapitalismus. Die Familie muss zerstört werden, damit der Betrieb floriert. Das Unternehmen ist die neue Familie, die keine naturwüchsige Konkurrenz duldet. Rund um die Uhr wollen die Herren des Mammons Zugriff haben auf ihre Abhängigen, die sie mehr lieben sollen als ihre eigene Brut.

Kurt Beck, Teil des Establishments, gab sich verständnisvoll, was die Enttäuschung und Verärgerung der Betroffenen betraf. Doch zur Schuldzuweisung war er nicht bereit. Gewiss, der „Staatspitze“ habe es an Verständnis gefehlt, an der Fähigkeit, „Zeichen zu setzen“. Doch

„… das war kein böser Wille. Aber wir haben wenig Erfahrung im Umgang mit solchen Terrorgeschichten. Es gab diese Zeichen bei großen Unfällen, dem Zugunglück in Eschede etwa. Aber ein Terrorakt, diese Absichtlichkeit, ist etwas anderes. Hier ist auch die Garantie des Staates, alles für die Sicherheit seiner Bürger zu tun, tangiert. Deshalb ist er noch stärker gefordert, ein Zeichen zu setzen. Das müssen wir noch erlernen.“ (TAZ.de)

Empathie mit Trauernden müssen sie noch lernen! Urmenschliche Gefühle sind ihnen fremd! Einen bösen Willen gar – kann es in höheren Kreisen nicht geben. Oben sind alle vom besten Willen beseelt. Das Böse ist unten angesiedelt, wo Neid, Trägheit und Verschlagenheit herrschen. Woher kennt Beck den Willen der Verantwortlichen? Über den verwerflichen Willen der Gossentäter wissen sie alles – Salontäter hingegen wollen nur das Gute für ihre Mitmenschen.

Da kommt es gelegen, dass Trauer in Deutschland unpolitisch sein muss. Wut darf sich mit Schmerz nicht verbinden, das würde die Reinheit der Trauer verunreinigen. Urgefühle dürfen politisch nicht kontaminiert werden. Waren die Opfer nicht empört?

Parallel läuft auch eine politische Debatte. Der Anschlag wurde mit der Flüchtlingspolitik verknüpft, die AfD sprach von „Merkels Toten“. Wie positionieren sich die Opfer dazu?

Einzelne haben sich von solchen populistischen Aussagen eine Zeit lang mitreißen lassen. Andere, wie der Vater eines jungen Mannes, der ums Leben gekommen ist, hat mir gesagt: Damit will ich nichts zu tun haben. Doch bei allen tritt die politische Betrachtung hinter den Schmerz zurück.“

Die AfD greift Merkel an – und schon ist letztere exkulpiert. Hierzulande wird nicht geprüft, was einer sagt. Hierzulande zählt nur, wer etwas sagt. Wenn Schurken etwas sagen, muss es schurkenhaft sein. Wenn die Guten etwas sagen, ist es unanfechtbar. Den Reinen ist alles rein. Die Unreinen können reden und tun, was sie wollen: sie müssen vom Teufel besessen sein.

Die psychologische Analyse der Frommen ist ein Zuordnen zu den Kategorien Auserwählte und Verworfene. Kenne ich die Kategorie, weiß ich, wie der Zugeordnete handeln – muss. Ein guter Baum bringt gute Früchte, auch wenn er längst verfault ist. Nicht Reden und Taten werden beurteilt, um von ihnen auf die Subjekte zurückzuschließen. Es ist umgekehrt: ein Glaube spaltet die Menschheit a priori in Gute und Böse. Der Gute bringt nur gute Früchte hervor, der Böse bleibt ein Verruchter und wäre er eine Mixtur aus Albert Schweitzer und Gandhi. Das Glaubensbekenntnis zählt, nicht die Taten der Menschen.

Wer wie die AfD redet, hat sich bereits selbst kompromittiert. Wer seine Trauer mit Zorn gegen die Politiker verbände, dem würde man nicht mal die Trauer abnehmen. Die Psychologie der Deutschen richtet sich noch immer nach Religionen oder Weltanschauungen. Sage mir, wie du betest, und ich sage dir, ob du überhaupt ein Mensch bist.

Das Trauertheater sollte suggerieren, die Regierung würde die Betroffenen ernst nehmen. Das Gegenteil war der Fall. Die Opfer mussten sich erst entpolitisieren, um ins Allerheiligste vorgelassen zu werden. Es war wie bei den Gedächtnisgottesdiensten: in der ersten Reihe saßen Politiker. Noch schlimmer. Beim ersten Gottesdienst waren die Politiker fast unter sich. Als die Opfer Einlass begehrten, wurden sie von schwerbewaffneten Polizisten abgewiesen. Die medialen Muttersöhnchen waren zufrieden mit der Demutsinszenierung ihrer Kanzlerin.

Woher stammt die Gefühlskälte deutscher Politiker? Aus ihrem augustinischen Staatsverständnis. Als Christen sind sie nur scheinbare Bürger des weltlichen Staates, in Wirklichkeit sind sie Mitglieder einer himmlischen Polis. Da alles Weltliche von sündiger Kälte sein muss, hätten sie gar keine Chance, Gefühle ins teuflische Getriebe einzubringen. Da sie den Staat für kalt und gefühllos halten, müssen auch sie in selbsterfüllender Prophezeiung kalt und gefühllos bleiben. Da alles Irdische keinerlei Chance besitzt, verändert und reformiert zu werden, verharrt ihre Politik regungslos auf der Stelle. Nichts verändert sich, alles bleibt korrupt und hoffnungslos.

Christliche Politiker können nur Zeichen setzen oder Symbolpolitik betreiben. Symbolpolitik ist Als-Ob-Politik. Die Routine des auf-der-Stelle-Tretens erweckt den Schein der Geschäftigkeit. In Wirklichkeit tut sich nichts.

Merkel ist immer im Dienst – auf dem Weg nach Nirgendwo. Obgleich sie in der Kritik stand, betätigte sie sich auf dem Treffen mit den Opfern als wandelnde Therapeutin. Für die Frommen ist sie unterwegs in die Goldene Stadt. Für den Rest der Welt tut sie, als ob sie täte.

Die Vision eines vereinigten Europa lehnte sie auf der Stelle ab. Utopische Ziele sind für sie blasphemische Zweifel an der Utopie Gottes, dem Kommen eines Endreichs. Ihre medialen Söhne skandierten sofort: die Öffentlichkeit habe andere Probleme als europäisches Zusammenrücken. Dass der kleinste politische Schritt nur sinnvoll sein kann, wenn er sich an einem Ziel orientiert: das ist deutschen Paradies-Immobilisten nicht zugänglich. Erstens geht es uns blendend, zweitens ist jede Utopie als Zwangsbeglückung zu verdächtigen. Jede Utopie lehnen sie ab – weil sie bereits eine besitzen. Eine überwältigende Logik.

An der Utopiefeindschaft der Deutschen ist Popper nicht unschuldig. Jede Utopie verdächtigte er als faschistische Zwangsbeglückung – ohne wahrzunehmen, dass er Platon folgte und nicht seinem verehrten Meister Sokrates, der die Demokraten zu guten Menschen machen wollte, damit sie gute Demokraten sein könnten. Im Gegensatz zu seinem Schüler war sein Erziehungsprogramm auf dem Marktplatz ein freies Angebot. Nicht mal dies. Kein Erzieher wollte er sein, nur ein mäeutischer Anreger. Mehr wäre nicht nötig, denn jeder habe das Gute in sich, zu dem er sich erziehen könne.

Poppers Utopiekritik war eine ungewollte Unterstützung seines neoliberalen Freundes Hayek, für den Menschen keine moralischen Wesen, sondern amoralische Vertreter ökonomischer Interessen sind.

Helmut Schmidt war ein Bewunderer Poppers, weshalb er jeden Utopisten zum Arzt schicken wollte. Das war eine Schwächung der klassischen Gerechtigkeitspolitik seiner Partei und ein Grund für die desaströse Orientierungslosigkeit der gegenwärtigen SPD. Bevor die Proleten die Irrungen und Wirrungen ihrer Vordenker nicht erinnern und durcharbeiten, werden sie ihrem Schlamassel nicht entkommen.

Was der heutigen Politik fehlt, ist echte politische Bildung, die in der Lage ist, ihre kollektive Biographie aufzurollen, um ihren aktuellen Kurs auf Wahrheit zu überprüfen.

Bei deutschen Eliten herrscht ein Zwang zur dreisten Halbbildung. Gabriel hat irgendwo den Begriff Postmoderne aufgeschnappt, doch Genaues will er nicht wissen. Die Medien prahlen mit snobistischen Begriffen, die sie zu „interessanten“ Sätzen verknüpfen. Schreiben wollen sie können. Folgerichtiges Denken nicht. Politisch untätig, glauben sie dennoch das Monopol zu besitzen, als Vierte Gewalt die Drei Gewalten des Staates überprüfen zu können. Selbst entziehen sie sich jeder seriösen Überprüfung mit der abenteuerlichen Begründung, objektiv und neutral zu sein.

Gelegentlich raffen sie sich zu demokratischen Bekenntnissen auf – ohne ihr Generalmotto in die nächste Mülltonne zu werfen. Welches da lautet: weder mit der guten noch mit der schlechten Sache dürfe man sich identifizieren. Im Dritten Reich hätten sie seelenruhig das Aufkommen der NS-Schergen beobachtet, ohne den geringsten Gedanken an Widerstand zu verschwenden.

Die Kälte christlicher Politikerklassen – zu denen sich fast alle gewählten Parteien zählen – gegenüber dem Publikum kommt aus ihrer Verachtung der immer gottloser werdenden „heidnischen“ Wählermassen. An den Gefahren und Schwachpunkten der gegenwärtigen Lage ist nicht ihre Politik schuld, sondern die wachsende „unchristliche“ Verrohung des Publikums. Das gilt auch umgekehrt. Wenn die Wirtschaft läuft, liegt das daran, dass Gott die Seinen nicht im Stich lässt. Kommt aber die nächste Krise, sind die Dämonen von der Kette gelassen.

Dies alles sind Kollektivstimmungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Je weiter die Zeiten voranschreiten ohne kritische Selbstbesinnung auf das historische Erbe, je mehr wächst das dunkle Reich des Unbewussten und schrumpft der Anteil des Wissens über die eigene Seelenlage. Über Seelenlage lässt sich trefflich höhnen, glauben sie doch zu wissen, dass eine Gesellschaft ein Mechanismus, ein Ensemble egoistischer Interessen ist und keine „organische Einheit“, die man introspektiv wahrnehmen kann. Was nicht berechenbar ist, ist Kokolores.

Bei Ereignissen mit nationaler Erregungslage gerät ein gefühlsunfähiger Mechanismus schnell an seine Grenzen. Interessen geben sich stets „rational“. Gefühle haben beim homo oeconomicus rationalis nichts zu suchen. Die Politklasse fühlt sich gut beraten, wenn sie ihre seelenlose Politik fortsetzt, als sei nichts geschehen.

Erst wenn das öffentliche Klima sich aufschaukelt, kommt Merkel auf die Idee, sich nachträglich am Tatort blicken zu lassen. Ihre persönliche Aura verfehlt bis heute nicht ihre Wirkung bei Deutschen, die jede Obrigkeit als gottgesandte Instanz betrachten. Doch Merkel hat dieses Charisma von Volkes Gnaden. Sie zu kritisieren, ohne die Deutschen zu attackieren, ist sinnlos. Sie ist Frau Deutschland. Sie gibt den Deutschen, was die Deutschen brauchen. Das ist das Geheimnis ihres perfekten Machtinstinkts.

Demokratie ist eine Übernahme altgriechischer Polit- und Moralvorstellungen. Wie kommt es, dass die Deutschen, die seit der Klassik graecoman sein wollten, mit griechischem Geist emotional wenig zu tun haben? Weil sie sich mit den Starken, Mächtigen und Schönen der vordemokratischen Geschichte Griechenlands identifizierten.

Alles, was mit der griechischen Aufklärung oder der athenischen Polis aufkam, wurde von Winkelmann, Herder, Goethe komplett ignoriert. Für Nietzsche begann der Verfall Athens mit Sokrates, der dem Naturrecht der Starken abgesagt, auf bewusste Erkenntnis und autonome Moral gesetzt hatte.

Mit Fug und Recht könnte man behaupten, gerade die griechen-verrückten Deutschen verrieten die Griechen. Denn sie verachteten alles Demokratische. Das Schöne, Wahre und Gute war für sie nicht Kampf um Erhaltung der Demokratie, sondern Feindschaft der Mächtigen – die schön, wahr und gut sein wollten – gegen die Herrschaft der Zukurzgekommenen, Hässlichen und Ungebildeten. Für die deutschen Graecomanen war Demokratie eine Diktatur der Unedlen, die mit der Macht der Mehrheit die Minderheit der Edlen ins Schlepptau nahmen.

Selbst in der Aufklärung strömte wenig Griechisch-Demokratisches in die deutschen Lande. Was zur Folge hatte, dass die Vernunft von Gegnern der Aufklärung als kalte, menschenfeindliche Instanz verfemt wurde. Vernunft wurde zur Gegnerin der Gefühle. Ein Rationalist verfolge emotionslos seine berechenbaren Interessen. Die Atmosphäre dieser gefühllosen Vernunft herrscht bis heute.

Das Ergebnis können wir in Berlin inspizieren. Gibt es emotionsreiche Ereignisse, fällt dem laizistisch verkümmerten Deutschland nichts ein – als Gottesdienste abzuhalten. Keine politische Feier ohne Show von Priestern, die sich einem absolutistischen Gott unterwerfen und sich nur aus Propagandagründen demokratisch gebärden.

An empfindlichsten Stellen der nationalen Geschichte dürfen verkappte Feinde der Demokratie ihre Segenssprüche zelebrieren. Das wäre einer Therapie vergleichbar, die den Patienten noch kränker machte als er ohnehin ist.

Alternativen zu diesen Talartröstungen gibt es noch nicht. Selbst die Aufgeklärten des Landes bevorzugen es, den Weihnachts-Gottesdienst in der vertrauen Dorfkirche mitzuerleben. Ganzheitliche Rituale, die Gefühle und Vernunft gemeinsam ansprechen, sucht man im Lande Luthers vergeblich. Dies ist die Chance für altvertraute Schauergefühle, die man in bedrohlichen Situationen vermisst und dort sucht, wo man sie als Kind kennenlernte. Noch gibt es keine rationalen Trostmittel, die es mit dem Kind in der Krippe aufnehmen könnten.

Einen wichtigen Punkt dürfen wir nicht übergehen, obgleich er auf den ersten Blick seltsam anmutet: auch die christliche Theologie hält nichts von der Trauer. Jedenfalls nicht von der Trauer der Welt. Trauer war für die frühe Kirche noch eine Todsünde.

„Denn göttliche Traurigkeit wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut; die Traurigkeit aber der Welt wirkt den Tod.“

Die Trauer der Welt glaubte nicht an ein Weiterleben im Jenseits. Der Tod war das Ende aller Dinge. Dies war eine furchterregende Aussichtslosigkeit im Vergleich mit einem ewigen Leben in himmlischen Freuden – sofern der Sterbende gläubig war. Gerade die Aussichtslosigkeit des Todes sollte die Heiden in die Arme des Erlösers treiben. Ohne Hoffnung auf ein ewiges Leben war der natürliche Tod ein schreckenerregendes Ende.

Viele Intellektuelle der Gegenwart hassen den Tod als schlimmsten Feind der Menschheit, weshalb sie ihn mit allen Mitteln überlisten wollen. Vor allem mit technischen. Ray Kurzweils Phantasmagorien, den Tod algorithmisch zu überwinden und auf technischem Weg unsterblich zu werden, sind nur zu verstehen auf dem Boden eines wütenden Hasses gegen den natürlichen Tod.

Tod ist Natur – und Natur ist etwas, das mit Biegen und Brechen beseitigt werden muss. Hass gegen den Tod als einem Naturereignis ist eine wesentliche Ursache der grassierenden Naturfeindschaft. Wenn Tod ein natürliches Ereignis ist, muss Natur eine menschenfeindliche Instanz sein. Also nieder mit der Natur – damit wir dem Tod von der Schippe springen.

Die Griechen waren beileibe nicht so von Furcht vor dem Tod besessen wie Christen, die sich ihrer Erwählung nicht sicher waren und ein Leben in ewiger Pein befürchten mussten. Wie den olympischen Göttern ohne Furcht, so steht der homerische Mensch auch dem Tod – dem Hades – ohne Angst gegenüber. Nach dem Tode erwartet ihn kein Gericht. Nein, der Tod ist ein natürlicher Vorgang, eine Art Schlaf, dem er als „Zwillingsbruder“ gesellt ist. Epikur lehrte, keine Angst vor dem Tod zu haben.

„Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, daß der Tod für uns ein Nichts ist. Beruht doch alles Gute und alles Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist Aufhebung der Empfindung. Darum macht die Erkenntnis, daß der Tod ein Nichts ist, uns das vergängliche Leben erst köstlich. Dieses Wissen hebt natürlich die zeitliche Grenze unseres Daseins nicht auf, aber es nimmt uns das Verlangen, unsterblich zu sein, denn wer eingesehen hat, daß am Nichtleben gar nichts Schreckliches ist, den kann auch am Leben nichts schrecken. Sagt aber einer, er fürchte den Tod ja nicht deshalb, weil er Leid bringt, wenn er da ist, sondern weil sein Bevorstehen schon schmerzlich sei, der ist ein Tor; denn es ist doch Unsinn, daß etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird.“

Sokrates verbat sich gar im Gefängnis alles Heulen und Jammern wegen seines bevorstehenden Todes. „Dem guten Mann kann weder im Leben noch im Tod irgendein Übel zustoßen“. Seine Richter, die ihn zum Tode verurteilten, konnten ihm keinen Schaden zufügen. Der Tod war überhaupt kein Übel, sondern etwas Gutes. Entweder ein traumloser Schlaf oder der Zugang zum besseren Leben.

War diese aus Vernunft geborene Angstfreiheit vor dem Tod eine kalte Gefühllosigkeit? Der Mensch der Gegenwart weiß nicht, was er von der Trauer halten soll. Sein Abschied-nehmen schwankt zwischen überbordendem Schmerz und gefühlloser Erstarrung.

Die Berliner Regierung nutzte die Notlage der Opfer, um von ihren unfasslichen Fehlleistungen beim Verhindern des Verbrechens abzulenken. Mit Hilfe eines willigen Klerus spendete sie illusionären Trost – anstatt ihren Pflichten nachzugehen und die Menschen im Rahmen der Gesetze zu schützen.

Menschen in Trauer neigen nicht zu politischer Wut. Das war die Chance einer eiskalten Regierung, ihr Versagen mit salbungsvollen Worten in eine fürsorgliche Wohltat umzulügen.  

 

Fortsetzung folgt.