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Neubeginn XCIV

Hello, Freunde des Neubeginns XCIV,

Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben.“

Draußen ist das Leben, drinnen der Tod. Draußen stinkts und krachts. Drinnen – im Totenreich – wehen elysische Düfte. Die Lebenden müssen sich anstrengen, die Toten liegen faul in ihren Eichensärgen. Gelegentlich müssen die Toten ins Reich des Lebens, um für Ordnung unter den Horden zu sorgen.

Von wem ist das Manifest der Toten? Auch Christen und Edelschreiber befinden sich außerhalb des Lebens und müssen sich e-i-n-m-i-s-c-h-e-n – oder auch nicht. Es war ein Edelgenosse mit einem Engelsnamen, prädestiniert für eine angelologische Kanzlerin.

Parteien sind wie klerikale und mediale Raumschiffe. Ab und an müssen sie sich daran erinnern, dass sie bereits tot sind und hinaus ins Leben müssen, um sich einzubilden, ihr Totenreich sei das wahre Leben. Doch hat sie jemand eingeladen? Stoff für große Opern. Don Giovanni, das blanke Leben, hat die tote Statue, Symbolfigur der Politik, zum Essen eingeladen. Das wird dem Leichtsinnigen das Leben kosten. Leichenhafte Machtträger lassen nicht mit sich spaßen:

„Die Kälte der Hand, die ihm der Komtur reicht, lässt Giovanni aufschreien, und er wird aufgefordert, zu bereuen und sein Leben zu ändern. Don Giovanni lehnt dies ab, die Statue meint nun, seine Zeit sei abgelaufen und geht ab. Flammen umschließen Don Giovanni, der meint, seine Seele zerreiße; unterirdische Chöre rufen, angesichts seiner Sünden sei dies wenig, und Leporello zeigt sich äußerst

erschrocken. Schließlich wird Don Giovanni von der Erde verschlungen.“

Dabei hat er ein vorbildlich anstrengendes Leben geführt – und das soll der Dank sein? Wie hat er sich im Schweiße seiner Lenden bemüht, alle freudlosen Frauen auf der Welt kommen zu lassen, um sie zu beglücken. (Nein, Weinstein ist nicht die Übersetzung von Don Giovanni):

In Italien sechshundertundvierzig,
Hier in Deutschland zweihundertunddreißig,
Hundert in Frankreich und neunzig in Persien,
Aber in Spanien, ja, in Spanien
Schon tausend und drei.

Doch wofür er immer glühte,
Ist der Jugend erste Blüte.
Da’s ihm gleich ist, ob sie bleich ist,
Ob sie bettelt oder reich ist,
Nimmt er Weiber jeder Sorte.

Komtur Gabriel hielt sich zurück auf dem Parteitag der SPD. Jedes Plädoyer, zur Mutter zurückzukehren, hätte seine Chance vermindert, warnend und sorgend in der Welt herumzudüsen.

Für Adolf Harnack, den führenden Theologen Kaiser Willems, war das Gleichnis vom verlorenen Sohn das Gleichnis der Deutschen. Das ist es bis heute geblieben. Denn der barmherzige Vater ist die ideale Vorlage für eine alles verzeihende Mutter. Als der Sohn dem trotzigen Wahn verfiel, sein Leben in eigener Regie zu führen, landete er bei den Trebern der Säue:

„Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat meine Mutter, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meiner Mutter gehen und zu ihr sagen: Mutter, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und kam zu seiner Mutter. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn seine Mutter, und Mitleid kam über sie, sie lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sprach zu ihr: Mutter ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. Aber Mutter sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße, und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet’s; lasset uns essen und fröhlich sein! denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein.“

Das war die biblische Kurzfassung des SPD-Parteitages. Eine mutterlose, richtungslose, führungslose Partei ist auf die Hunde gekommen. Da machte sie sich auf, erinnerte sich der schönen Tage bei den Fleischtöpfen der Mutter, ging in sich, bereute ihre Untreue und überlegte sich, wie sie ohne Gesichtsverlust zur Mutter zurückkehren könnte. Ja, sie musste Reue tragen und sterben, damit sie in Freuden wieder auferstehen konnte. Siehe, da kam das erlösende Wort über sie – und sie fasste neuen Mut, lobte sich ob der Erneuerung und der vorzüglichen Debatte.

Und das Zauberwort hieß: ergebnisoffen. Ergebnisoffen? Nie zuvor in deutschen Landen war das Wort vernommen worden. Bleibt hierzulande etwas offen, ist es bereits das Anzeichen des Genies. „Ich bin für alles offen“, heißt: ich habe keine Meinung, keinen Standpunkt, ich will nichts und beharre auf nichts, damit ich nicht rechthaberisch und arrogant wirke. Alles nach Angebot und Nachfrage. Also, wo bleibt der Deal?

Was aber ist ergebnisoffen? Offen für jedes Ergebnis? Ja, steht denn diese Partei für gar nichts mehr? Will sie nur noch, was andere wollen? Streitet sie für nichts? Verkauft sie ihre Seele, die sie längst an der Garderobe der Kanzlerin abgegeben hat?

Lasset uns Trauer tragen ob einer verdienten Partei, die zu einem leblosen Komtur verkommen ist. Das Interesse für das Land müsse über dem Parteiinteresse stehen, hatte der Bundespräsident ihnen eingebläut. Doch wie kann man opfern, was einem längst abhanden gekommen ist?

Schließen Parteiinteressen per se das Gemeininteresse aus? Wurden Parteien nicht deshalb so dominant, weil sie vorgaben, den Interessen des Landes zu dienen? Sind Parteiprogramme nicht dem Gesamtinteresse der Nation verpflichtet? Heuchelten die Parteipolitiker, als sie im Wahlkampf vorgaben, den Interessen aller zu dienen? Sind Parteien zu Lobbyvereinen diverser Klüngel geworden?

Dient man dem Land nur durch Regieren? Ist Opponieren und Kritisieren keinen Pfifferling mehr wert? Regieren ist zum vornehmsten Dienst geworden? Und dies in der Herrschaft des Volkes, das jede Herrenschicht ad acta legen wollte? In der Regieren das rotierende Tun aller Schichten sein sollte, gleichberechtigt neben Mitdenken, Mitentscheiden, Mitrichten, Mitarbeiten, Miterziehen?

Ergebnisoffen ist eine Bankrotterklärung, ein Offenbarungseid, eine Fremd- und Selbsttäuschung. Denn das Ergebnis steht von vorneherein fest: der Kotau vor der Mutter muss es retten, wie einst der vor dem Kaiser, Macht erringen, die trompetenhaft verkündete Erneuerung abblasen – denn an der Macht erneuert sich niemand. Weder sollen sie die GroKo wollen, noch sie nicht wollen. Zuerst nichts wollen, dann das Nichts wollen. „Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen“ (Schulz).

Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“, analysierte ein genialer Pfarrersohn. Die Konflikte der Welt werden immer drängender und eine deutsche Partei rühmt sich, nichts zu wollen. Dann kann sie auch nicht wollen, dass Probleme gelöst werden.

Scholz, Rivale von Schulz, warnt ununterbrochen vor „einfachen Antworten“. Wo bleiben seine komplizierten Antworten? Oder drängt er zur Macht mit der verheißungsvollen Devise: ich weiß auch nicht, wo’s lang geht – dies aber mit aller Energie?

Immer mehr Politiker bewerben sich um die Macht mit der Botschaft: lösen kann ich die Probleme nicht. Das sind dieselben omnipotenten Männer, die keine Sekunde daran zweifeln, dass sie mit Intelligenzmaschinen alle Probleme dieser Welt lösen können. Nur nicht jene, die sie selbst in die Welt gesetzt haben.

Deutsche wollen dienen, indem sie regieren. Der Satz eines aufgeklärten Absolutisten, der leider nicht aufgeklärt genug war, um seinen Absolutismus nur um ein Quäntchen zu relativieren. Ergebnisoffen heißt: wir wollen an die Macht, ohne uns durch lästige Inhalte davon abhalten zu lassen. Für Deutsche in der Krise gibt es nur ein Therapeutikum: die Macht. Als sie mit Bismarck an die Macht kamen, fielen sie wider Erwarten in nationale Depression, die sie Pessimismus nannten.

Wider Erwarten? Deutsche wollen siegen, doch den Sieg ertragen sie nicht. Die Engländer waren die geborene Weltmacht, Erfolg war für sie das Zeichen ihrer himmlischen Erwählung. Die Deutschen hingegen fühlten sich erwählt, wenn sie sich bewähren mussten. Sich bewähren kann man nur in der Not. Immer wieder mussten sie sich vom VATER entfernen, um sich durch Rückkehr zum VATER in der Not zu bewähren.

Siegen macht hoffärtig, bewähren demütig. Sie wollen immer hoch hinaus. Doch wenn sie oben ankommen, fallen sie in den Abgrund. Der Deutsche war immer der verlorene Sohn, der zum Vater zurückkehrte, der Engländer der zweite Sohn, der nie den Vater verlassen hatte. Da kam glühende Eifersucht auf, die zu schrecklichen Kriegen führte. Der zweite Sohn weigerte sich, am Feste teilzunehmen:

„Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden.“

Nein, sagte Theresa May, mit den Deutschen wollen wir nicht zusammen feiern. Der Brexit bleibt.

Welche Mittel verschrieben sich die Deutschen, um den Pessimismus zu besiegen? Sie unterwarfen sich einem Kaiser mit gelähmtem Arm, der sein Handicap mit Eroberungsgelüsten kompensieren musste. Das Ende der Therapie war eine noch größere Not, die wiederum geheilt werden musste von einem noch schrecklicheren Weltenherrscher.

Selbst heute gilt in demokratischen Zeiten: Jammern? Selbstmitleid? Larmoyanz? German Angst? Weg damit. Geht’s uns nicht gut? Sind wir nicht reich? Brummt nicht die Wirtschaft?

Angst ist kein guter Ratgeber, weiß die kesse Bätschi-Nahles den Jusos zuzurufen. Verordnete Gefühllosigkeit aber auch nicht. Wer seine Gefühle nicht neurotisch verwildern lässt, der kann sich auf die Rationalität seiner emotionalen Gefahrenmelder verlassen. Vernunft ist keine gefühllose Gehirntätigkeit, sondern die Zusammenarbeit rationaler Gefühle mit einer emotionalen Vernunft.

Ergebnisoffen? Die SPD ist in Untergangsängsten. Sie hat die Hosen gestrichen voll – gibt es aber nicht zu. Verweigern sie sich dem Liebeswerben der übermächtigen Mutter, wird es mit Sicherheit keine Minderheitenregierung geben. Mutter will sie nicht. Sie will bequem und unbelästigt durchregieren. Neuwahlen aber würden die Exproleten endgültig vom Hocker holen. Kehren sie aber zu Merkel zurück, werden alle Erfolge – wie bisher – der unbesiegbaren Mutter zugerechnet, alle Fehler ihnen selbst.

Es ist die Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Verweigern sie sich, verschwinden sie sofort, kooperieren sie, dauert es nur ein wenig länger, bis sie den Löffel abgeben.

Gibt es keine Lösung? Doch, sie müssten tun, was sie sich vorgenommen, inzwischen aber wieder abgeblasen haben. Sie müssten sich erneuern. Das wäre eine kollektive Wanderung auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Nein, eine anamnestische Wanderung zurück zu ihren Ursprüngen, um die Irrtümer ihres Werdens zu entdecken und durch Einsicht zu korrigieren.

Nichts davon war auf dem Parteitag zu spüren. Monomanisch ging es allein um Taktik: sollen wir oder sollen wir nicht gemeinsam mit Mutter den Karren ziehen? Geschliffene Grundsatzdebatten? Fehlanzeige. Parteien sind doch keine Philosophenschulen. Wer nicht taktisch und strategisch denkt, hat in der Partei nichts zu suchen.

Die Gedankenleere beginnt beim Motto des Parteitags: modern und gerecht. War Schulz mit der Parole Gerechtigkeit nicht schon im Wahlkampf gescheitert? Welche Gerechtigkeit? Die des Karl Marx, der Kathedersozialisten, der katholischen Soziallehre, des Eduard Bernstein, der utopischen Sozialisten, der unsichtbaren Hand, der klassischen, der neoliberalen Ökonomie, der Gleichheit oder des Sozialdarwinismus, nach dessen Lehre jeder erhält, was er verdient? Eine Partei, die Schröders Armenschändung durch Hartz4 noch immer für unabdingbar hält – wie darf die von Gerechtigkeit reden?

Was, parbleu, ist modern? Modern heißt nur: es ist das Neue, das ein Altes überwunden hat. Welches Alte, welches Neue? Einerlei. Modern ist ein projektives Wünschmirwas-Wort. Inzwischen steht es vor allem für fortschrittlich, der Zukunft zugewandt. Fortschritt ist aber nichts anderes als „fruchtbare Zerstörung“, die durch Vernichtung des Bewährten und Guten zur furchtbaren Zerstörung werden kann.

Was, wenn die Gesellschaft eine passable Form der Gerechtigkeit erkämpft hätte – und ein moderner Kahlschlag legte alles in Trümmer? Dann wäre Modernität der Todfeind des Gerechten. Modern heißt: bis auf die Wurzel umgraben, was in mühsamer Arbeit gepflanzt wurde.

In der Moderne ist der Mensch für den Fortschritt da. Ob der Fortschritt auch für den Menschen da ist, ist der Moderne einerlei. Für ihn muss er alles in Frage stellen, seine liebsten und wertvollsten Errungenschaften aufs Spiel setzen. Modernität ist ein Moloch, dem wir alles opfern müssen, damit er uns nicht verschlingt? Nein, damit er uns immer mehr verschlingt.

Seit Francis Bacon ist Fortschritt die technische Realisierung der biblischen Endzeiterwartung. Ziel des Fortschritts ist eine „eschatologische Freihandelszeit mit universaler Verständigungssprache“. In der frühen Aufklärung, die christliche Begriffe noch konkretisieren statt kritisieren wollte, wurde Fortschritt zur „unausweichlichen Selbsterlösung der Menschheit“.

Roboter sollen den Menschen bedrückende Arbeit ersparen. Solche aber gibt es nur noch dort, wo Menschen unter sklavenartigen Bedingungen malochen müssen. Was, wenn Roboter den Menschen alle Arbeit entziehen würden? Doch wovon sollten sie leben, wenn Arbeit die einzig-notwendige Voraussetzung ihres Überlebens ist?

Wer kassiert den Profit der neuen Maschinen? Bestimmt nicht diejenigen, die sie erfunden haben. Den unermesslichen Maschinenprofit ernten diejenigen, die allen Profit dieser Welt ernten. Die Kluft zwischen Reich und Arm wird unermesslich. Und diese Modernisierung soll mit Gerechtigkeit kompatibel sein?

Wenn Roboter die jetzige Form der Arbeit vernichten, so heißt es, müssten neue Arbeitsformen erfunden werden. Ausgerechnet von jenen, die man wegen Nutzlosigkeit in die Wüste geschickt hat. Welch ein Irrwitz. Wenn Maschinen die notwendige Arbeit erledigen, gibt es keine Arbeit mehr, die zum Überleben notwendig wäre.

Die Digitalisierung wird die ganze Erde umfassen und imstande sein, mehr zu leisten, als die Menschheit jemals benötigen wird. Neue Arbeitsplätze zu schaffen, wäre eine Beschäftigungstherapie, um die überflüssige Menschheit vom Denken und Rebellieren abzuhalten. Auch die Einführung eines BGE – von vielen Superreichen begrüßt – hätte keinen anderen Sinn, als die Überflüssigen nicht verrecken zu lassen und politisch auszuschalten. Haben doch auch höhere Kreise ihre christlichen Liebesgefühle, mit denen sie Massen unter Drogen setzen können.

Gerechtigkeit ist keine Funktion der Modernität. Überall kann sie zuhause sein, selbst in „primitivsten“ Stämmen. Dort ist sie auch zu Hause, dort gibt es keine Klassengesellschaften, in denen die einen die anderen schröpfen.

Welch ein Gegensatz zwischen modern und gerecht, wenn Gerechtigkeit mühselige Arbeit bedeutet, Modernität aber jede Arbeit durch Maschinen ausrottet. In den Spuren von Karl Marx hält die SPD noch immer am paulinischen Grundsatz fest: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Eine der brutalsten Formeln der Weltgeschichte. Das Dasein auf Erden wird, wegen Schuld einer Urmutter, zur lebenslangen Pein verurteilt. Arbeit wird nicht als Leidenschaft und Erfüllung betrachtet, sondern als Mittel zur Erniedrigung.

Moderner Fortschritt ist die immer neue Erfindung von Maschinen, deren Macht die Menschen immer besser überwacht und unterdrückt. Die endlose Macht der Mechanisierung ist heute schon in der Lage, die Majorität der Menschen zu durchleuchten und wie seelenlose Gebilde zu manipulieren. China, schon jetzt Weltmacht Nummer eins, ist dabei, seine gesamte Bevölkerung zu überwachen, mit einem ausgeklügelten Punktesystem zu zensieren und zu hierarchisieren.

Das digitale Netz, vor wenigen Jahren noch Hoffnungsträger einer weltweiten Freiheit, hat sich in kurzer Zeit in sein Gegenteil verkehrt.

Wolfgang Heckl, Leiter des Deutschen Museums und leidenschaftlicher Fortschrittler, gibt in einem SPIEGEL-Interview zu bedenken, dass wir uns überlegen müssten, wie wir in Zukunft leben wollen. Gleichzeitig räumt er ein, dass alle Erfindungen zwei Seiten haben:

SPIEGEL: Die Moral kommt aber erst nach der Erfindung?

Heckl: Zumindest kann ich mir für viele Erfindungen nicht vorher die Moral überlegen. Es gibt allerdings Innovationen, an denen Menschen arbeiten, da ist von vornherein ein moralisches Anliegen dabei, etwa bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Krankheit Aids. Der Mensch hat im Laufe seiner Geschichte aber auch immer effektivere Tötungsmaschinen entwickelt.“ (SPIEGEL.de)

Was nützt es, sich eine wünschenswerte Zukunft vorzustellen, wenn eine Handvoll technischer Genies in Kooperation mit Superreichen die Zukunft von Milliarden Menschen bestimmt, ohne dass eine einzige Volksabstimmung entscheiden dürfte, welche Maschinen dem Wohl der Menschen dienen – oder eben nicht. Wenn man vor Erfindung einer Maschine nicht ihre moralische Konsequenzen bedenken kann, warum nicht danach?

Am Anfang einer Erfindung werden stets alle Bedenken vom Tisch gefegt. Man solle nicht immer so negativ denken. Gleichzeitig wachsen die Gefahren der Maschinen ins Unbeherrschbare. Mit wenigen Knopfdrücken kann man die Menschheit in einen gigantischen Überwachungsplaneten verwandeln oder endgültig ausrotten. Wozu ständig neue Erfindungen, wenn wir von allem mehr als genug haben? Wenn Segnungen zu fluchwürdigen Repressionsmethoden der Menschheit wurden?

Modern und gerecht sind nicht konform, sie verhalten sich wie Kain und Abel. Modernität und Gerechtigkeit sind Grundbegriffe, die von ihrem Ursprung bis heute sorgsam durchdekliniert werden müssten. Auch wenn es vielen Menschen heute gut zu gehen scheint: in den Katakomben ihres Unbewussten wächst die Zukunftsangst von Tag zu Tag. Solche Befürchtungen sind nicht eingebildet. Sie haben Ursachen und wollen verstanden werden.

Von allem, was heute untersucht und bedacht werden müsste, besprechen Parteien nur die Endmoränen. Mit der Vergangenheit verdrängen sie die gesamte Geschichte der Gegenwart. Der Mensch lebt aber nur in der Gegenwart. An die Zukunft muss er nur denken, um die Gegenwart angstfrei zu gestalten. Für die Zukunft leben, wie die Moderne predigt, heißt für Illusionen leben.

Wer die Gegenwart humanisieren will, der steht in Erklärungspflicht. Warum wird die Partei der Kanzlerin mit Schweigen bedacht? Weil sie nichts will als das, was ohnehin geschieht. Konservative Parteien denken nicht daran, das Bewährte und Menschliche zu bewahren. Was sie bewahren wollen, ist einzig ihre Macht.

Dies ist die Frohe Botschaft der Frau Merkel, die ihren Untertanen tröstet: Sei ruhig, bleibe ruhig mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Wind. Sie fragt nicht nach Ängsten, denn sie weiß, dass der moderne Mensch von Ängsten zerrissen ist. Sie tröstet, ohne dem Furchtsamen die Blamage der Selbstentlarvung abzuverlangen. Wie könnte der sündige, gottlose Mensch ohne Ängste sein?

Für die SPD spielt das Leben draußen in Angst und Mühseligkeit. Für eine Lutheranerin ist das glaubenslose Leben zum Untergang bestimmt. Das Leben auf Erden muss beschädigt und katastrophal sein, damit der Erlöser nicht arbeitslos werde:

„Daher habe ich Gefallen an Schwachheiten, Misshandlungen, Nöten, Verfolgungen und Ängsten um Christi willen. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“

Diese Stärke ihrer Kanzlerin benötigen die Deutschen, die gerne an einen tröstlichen VATER glauben würden, aber nicht mehr glauben können. Auch wenn sie noch so oft unhörbar seufzen: Herr, wir glauben, hilf unserem Unglauben.

Merkel will die irdischen Verhältnisse nicht verbessern. Unheil auf Erden ist die Voraussetzung wahren Heils. Die Kanzlerin glaubt für alle. Ihre Stärke, identisch mit ihrer Schwäche, ist das Pro nobis der deutschen Politik.  

 

Fortsetzung folgt.