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Neubeginn XCII

Hello, Freunde des Neubeginns XCII,

stellt euch nicht so an, ihr Deutschen. Europa braucht eine starke Führungsmacht – und keine Demokratie, die zur Regierungsbildung unfähig ist;

stellt euch nicht so an, ihr Deutschen, andere Länder haben auch schon Minderheitenregierungen gehabt und Zeit benötigt, um sich zusammenzuraufen. Dennoch haben sie ihre Hausaufgaben erledigt

sprach Viviane Reding aus Luxemburg, ehemalige Vizepräsidentin der EU-Kommission, bei Anne Will. Es war nur ein absoluter Widerspruch. Nichts Relevantes für ein öffentlich-rechtliches TV-Palaver.

Europäische Machteliten sind nur am reibungslosen Erhalt ihrer Politik interessiert, die von der deutschen Kanzlerin exemplarisch repräsentiert wird. Würde Merkel auf nationaler Ebene schwächeln, wäre dies zugleich eine Misstrauenserklärung an die gesamte europäische Politik.

Warum Merkel innenpolitisch abschirrt, das wollte ihre Gesinnungsgenossin Reding partout nicht wissen. Im ewigen Kampf der Nationen und Kontinente muss Europa wettbewerbsfähig bleiben. Sonst wird es abgehängt. Die Vormacht Amerikas ist bereits dahin und seine europäischen Musterschüler, eben noch Vorbilder an übernationaler Zusammenarbeit, folgen flugs der Selbstdestruktion ihres bisherigen Rudelführers.

Erneut wurde bei Anne Will nur über Merkel schwadroniert. Nicht über die Nation, die Merkel zu ihrem politischen Symbol erwählt hat. Als ob ein Mensch den Charakter eines ganzen Volkes prägen könnte, nicht das Volk seine Symbolfiguren aus dem Inneren seiner Befindlichkeit gebären würde.

Wer macht Geschichte? Große Männer – oder Frauen, die große Männer imitieren. Über Ursachen der vermeintlichen Krise der Herzenskönigin sprach fast

niemand. Bernd Ulrich von der ZEIT wagte die These:

„Nicht nur die Ära Merkel („Das wäre auch zu Ende gegangen, wenn Jamaika geklappt hätte“), sondern „100 Jahre Dominanz der USA“ sowie „500 Jahre westlicher Dominanz auf dieser Erde“. Das gegenwärtige „Zittern im Parteiensystem“ sei nur ein Vorzeichen der kommenden unsicheren Verhältnisse.“

An geschichtlichen Ursachen war die Moderatorin nicht interessiert. Ursachen- und Schulderforschung ist vorausschauenden Nationen nicht angemessen. Das ist „Nabelschau“, Energieverschleuderung. Wer in die Zukunft blickt, muss sich zusammenraffen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!

So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.                

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. (Goethe)

Der deutsche Idealismus, von Ilja Trojanow (beim pietistischen Herzenserguss-Gespräch mit Precht im ZDF) auf die ethische Höhe der Bergpredigt gehoben, ist Steilvorlage für Merkels Politik: Wir bemühen uns. Wir raffen uns zusammen, beschränken uns aufs Wesentliche, schweifen nicht ins Ungebundene – es sei denn beim ungebundenen, grenzenlosen Fortschritt. Beschränkte Geister schauen nicht zurück, ignorieren die Gegenwart, konzentrieren sich auf das, was not tut: auf Wirtschaft, technische Naturzerstörung und Erringung von Macht.

Ein glatter Rückfall hinter die frühe Bismarckzeit, in der die machiavellistische Politik des Eisernen Kanzlers als Abfall von den hehren Gedanken ihrer Dichter und Denker attackiert wurde. Da Idealismus mit Christentum gleichgesetzt wurde, warfen Kritiker dem Begründer der Nation Verstoß gegen neutestamentliche Ethik vor. Im selben Sinn befragte Precht seinen weltkundigen Gast, ob er einen CSU-Menschen verstehe, der obergrenzenlose Nächstenliebe mit schäbiger Flüchtlingspolitik in Einklang bringen könne. Könne er nicht, antwortete der Gefragte. Christen, die die Welt nicht grenzenlos liebten, könnten die Bergpredigt nicht verstanden haben.

Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen? Ziel der Sanftmut ist Eroberung und Beherrschung der Erde. Das ist keine Landnahme mehr, sondern Weltennahme. Gigantischer kann die Beute nicht gedacht werden.

Sanftmut ist nur die heteronome Rolle der Frommen, die sich auf ihren allmächtigen Herrn verlassen müssen. Rache- und Gewaltmethoden spielen sehr wohl eine Rolle – aber nur in der Hand des Schöpfers. Es findet eine Zweiteilung der Moral statt: passive Sanftmut für die Menschen, die für den Erfolg nicht zuständig sind; antinomische Allgewalt im Namen des Herrn, der am Ende alle Feinde besiegt. Die Rache ist mein, spricht der Herr, der die Gläubigen von Aggressionen und Rache entlastet – um die mit Gewalt eroberte Endbeute seinen Schafen zu überreichen.

Im Bismarckreich gab es noch Intellektuelle wie Feuerbach und linke Hegelianer, die das christliche Credo überaus kritisch sahen. Heute sucht man solche eigenständigen Denker vergeblich. Bei aller Kritik an den Kirchen sind fast alle Edelschreiber und Intellektuellen Anbeter des Evangeliums, das sie zur führenden Moral der Welt hochjubeln.

Verworrener war die Lage noch nie. Verehrer der christlichen Moral halten die List- und Gewaltmethoden der Staaten eigentlich für unchristlich. Werden diese aber von christlichen Staaten eingesetzt, lassen die Lauen Fünfe grade sein und stimmen ein in den Jubelchor: die christlichen Werte des Abendlandes sind die allerbesten.

Dabei müsste man nur ein wenig in der Schrift blättern und man erführe das Geheimnis der christlichen Sanftmut. Das Matthäusprinzip lautet:

„Wer hat, dem wird gegeben, und er wird Überfluss haben. Dem aber, der nicht hat, wird noch genommen, was er hat. Den unnützen Knecht stosset hinaus in die Finsternis, die draußen ist. Dort wird Heulen und Zähneklappen sein.“  

Ewige Pein ist das Endziel der Sanftmütigen für die Ungläubigen. Die modernen Intellektuellen sind nicht mehr in der Lage, das ABC zu entziffern. Nach Gutsherrenart entscheiden sie, was ihre frohe Botschaft, wechselnd von Zeitgeist zu Zeitgeist, gerade jetzt zu bedeuten hat. Wie deutsche Idealisten dem toten Sein a priori gegenüberstehen und ihm Kausalität, Geist und Leben einhauchen, so bestimmen sie regelmäßig den Sinn der Buchstaben neu.

Das Verwirrspiel bleibt nicht auf Lektüre der heiligen Schriften beschränkt. Das Lesenkönnen von Büchern schwindet wie Schnee an der Sonne. Die Wohnzimmer der Modernen sind bücherbefreit und an geistloser Kahlheit nicht mehr zu überbieten. Die Intelligenz der Kinder wird auf die Beherrschung von Maschinen gelenkt.

Das gebrochene Nein von SPD-Schulz zur GroKo, unter massivem Druck eines Bundespräsidenten, zeigt, was das gesprochene und geschriebene Wort heute noch wert ist: Niente.

Die überhandnehmende Kompromittis der Parteien tut ein Übriges. Die Worte der Parteiprogramme sind zur Verhandlungsmasse verkommen. Man muss die Texte inzwischen interlinear lesen: wie kann man sie kommenden faulen Kompromissen unterwerfen und dennoch den Eindruck vermitteln, als sei man dem ursprünglichen Text treu geblieben?

Dem rationalen Sinn der Texte zu folgen, ist öde und von allen guten Geistern verlassen. Eigenwillige Theaterregisseure verwandeln jeden klassischen Text in ein Feuerwerk ihrer eigenen Phantasie. Unter dem Namen von Euripides, Aristophanes, Goethe und Kleist werden die ewig gleichen Kreativ-Schmankerl des modernen Regisseurs angeboten.

Dass Trump nach Belieben die Wahrheit verdrehen kann, wird von seinen Anhängern nicht seiner Lügenhaftigkeit zugerechnet, sondern seiner Fähigkeit, den Buchstaben nach Belieben zu interpretieren. Den traditionellen Regeln der Hermeneutik, einen Text allegorisch, moralisch, prophetisch oder sonstwie zu deuten, fügt der amerikanische Präsident eine weitere Deutungsmethode hinzu: die trumpistische. Alle Deutungen eines Textes sind richtig, wenn sie dem Präsidenten nützen, alle falsch, die ihm Schaden zufügen. Trump ist der fleischgewordene Triumph des deutschen Idealismus, der sich als einzig wahren Interpreten der Wirklichkeit sieht. Trump ist identisch mit Fichtes absolutem Idealismus:

„Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durchs sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins.“

An die Stelle des Ichs muss man Trump setzen:

Trump setzt sich selbst, und er ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst und umgekehrt: Trump ist, und er setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins.

Zum Sein gehört nicht nur Macht, sondern Reichtum und Deutung der Realität.

Wenn Buchstaben sterben, stirbt auch die Wahrheit. Stirbt die Wahrheit als Ziel der Erkenntnissuche, zerfällt jede Demokratie in ihre Bestandteile.

Heute wird Politik ausschließlich danach beurteilt, was Führungsklassen inszenieren. Die Stimmung der BürgerInnen interessiert nicht einmal dann, wenn etablierte Parteien ins Schwimmen geraten. Das Volk, einziger Souverän der Demokratie, ist nur unter dem Aspekt des unauffälligen Lenkens und Manipulierens interessant. Versteht sich, dass Eliten sich nicht zum Volk zählen, sondern darüber schweben wie ein Raumschiff der Aliens über der Erde.

Das deutsche Verwirrspiel begann in der Aufklärung, als junge Theologen, der Orthodoxie überdrüssig, sich dem neuen Geist der Vernunft näherten – und den Inhalt der Schrift ratio-nalisierten, mit Hilfe der Vernunft deuteten, die schlimmsten Verstöße gegen Humanität eliminierten, entmythologisierten und nach Möglichkeit der Autonomie des Menschen unterordneten.

Für Lessing wurde die Bibel zur Erziehungskrücke einer noch unmündigen Menschheit, die im Verlauf ihres Erwachsenwerdens auf die Bevormundung verzichten und auf eigenen Beinen laufen konnte.

Das Ziel der endlosen Schein-Synthesen aus Vernunft und Glauben wurde klar, als die Theologen die Errungenschaften der griechischen Vernunft, Demokratie und Menschenrechte inklusive, als Früchte des Evangeliums ausgaben. Das könnte man „Überwältigung des Gegners durch Annäherung“ nennen.

Heute ist das griechische Erbe begraben. Alles, was gut und teuer ist, wurde zu Früchten der Bergpredigt und der Gottebenbildlichkeit des Menschen ernannt. Die Gefahr, den Betrug aufzudecken, ist gering. Denn die Fähigkeit, Texte zu entziffern lässt immer weiter nach. Ja schlimmer: die Schriften werden gar nicht mehr gelesen. Man begnügt sich mit vagen Zitaten aus dem Wort zum Sonntag, deren Richtigkeit niemand überprüft. Obwohl alle offiziell lesen können, fallen wir in die leseunkundigen Zeiten des Mittelalters zurück.

Die heutige Krise ist das Ergebnis jahrhundertealter falscher Synthesen oder fauler Kompromisse aus Glauben und Vernunft. Allerdings: wer mündig sein will, kann sich keiner jenseitigen Botschaft unterwerfen. Wer die Präzision des Buchstabens und der logischen Rede denunziert, kann die Menetekel seiner Zeit nicht entziffern. Die Botschaften, die täglich sein Gehirn stürmen, kann er nicht miteinander vernetzen und als einheitlichen Text lesen.

So wollen die Deutschen von ihrer Regierung die Beruhigung hören, dass alles gut gehen wird. Kaum sind die Warnungen der Bonner Klimakonferenz verklungen, ist das Thema Ökologie aus den Medien verschwunden. Ausnahmen werden nicht zur Kenntnis genommen. Das Ergebnis ist eine multiple Schizophrenie der Öffentlichkeit. Die Warnungen des Umweltforschers Mojib Latif werden nicht ins Bewusstsein gelassen. Stattdessen werden die Koalitionsspielchen der Parteien endlos durchgehechelt. Da bleibt keine Energie mehr, um sich durch Alarmismus beunruhigen zu lassen.

„Der Kieler Klimaforscher Mojib Latif sieht beim Kampf gegen die Erderwärmung ein großes Versagen der Politik. Deutschland müsste sofort Braunkohlekraftwerke abschalten, um das erklärte Ziel einer Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen um 40 Prozent bis 2020 im Vergleich zu 1990 noch erreichen zu können. Aber es fehlt schlichtweg am politischen Willen. Dabei geht es um die Glaubwürdigkeit Deutschlands.“ (SPIEGEL.de)

Kein Politiker äußert sich. Keine Kanzlerin fühlt sich bemüßigt, solche Warnungen zu kommentieren. Auf der einen Seite schrillste Sirenentöne, auf der anderen tägliche Beruhigungsdrogen aus der Hauptstadt des Eiapopeia.

Und dennoch: trotz Gespaltenheit der Öffentlichkeit dringt langsam aber sicher die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass wir unsere separierten Erkenntnisse zur Einheit bringen müssten. Immer weniger lässt sich die Bevölkerung durch Abspalten der Gefahren beruhigen.

Es ist erfreulich und notwendig, wenn die abgespaltenen Gehirnteile zusammenwachsen. Nur wer die Welt im Kontext lesen kann, kann sie nach rationalen Grundsätzen gestalten. Das jetzige Auseinanderfallen in Partialwelten ist lebensgefährlich. Grenzenlose Arbeitsteilung unterstützt den Zerfall des Bewusstseins in atomisierte Zellen.

Finanzkrisen zeigen die Unfähigkeit der Ökonomen, ihre spezialisierten Unterdisziplinen zusammenzubringen. Gerade bei ihnen offenbart sich die Inkompetenz, die Zeichen an der Wand als warnende Schrift zu lesen. In ihren Fakultäten ist das Lesen von Texten nahezu abgeschafft. Wer aber nur rechnen kann, kann nicht denken. Denken geschieht im Medium der hörbaren und unhörbaren Sprache. Keine Algorithmen können das Entziffern und Überprüfen gehaltvoller Texte ersetzen.

Hinzu kommen grundsätzliche Unklarheiten beim Bewerten der Demokratie. Sind Demokratien besser als autoritäre Regimes? Dürfen sie sich im Streit der Völker als politisches Nonplusultra gebärden? Fragen, die Brinkbäumer, den Chefredakteur des SPIEGEL, beunruhigen:

„Wir im Westen vergessen bisweilen, dass unser Blick auf die Welt nur einer von vielen möglichen ist. Und dass weder unser Verständnis von Menschenrechten noch jenes von der liberalen Demokratie überall auf der Erde attraktiv wirkt. Ist die westliche Art zu leben moralisch überlegen? Und wenn sie es wäre, wäre sie dann auch die konstruktivste oder die effektivste Art, menschliche Gesellschaften zu organisieren?“ (SPIEGEL.de)

Seine Antwort: nein, die westlichen Demokratien haben viele Fehler gemacht.

„Die Demokratie, das demonstrieren wir den nicht demokratischen Staaten seit viel zu vielen Jahren, ist nicht mehr verlässlich und allzu fragil: Sie bringt inkompetente Führer wie Donald Trump an die Macht, sie führt zum Brexit, sie ist folglich nicht nur langsam, das war bereits vorher klar, sondern sie macht fürchterliche Fehler. Für welches Land sollten die Vereinigten Staaten heute noch Vorbild sein?“

Francis Fukuyamas demokratie-verherrlichendes Buch vom Ende der Geschichte hält der Autor für ein Verhängnis:

„Die These, unsere Demokratie sei ein Endpunkt der Entwicklung, war größenwahnsinnig: Solange es etwas zu verteilen gibt, hat es jedes System leicht. Seit elf Jahren hat die Freiheit weltweit abgenommen. Von 195 Staaten sind nur noch 87 frei, 59 teilweise frei, 49 sind unfrei. Die Türkei und Russland haben sich aus dem Kreis der Demokratien verabschiedet, Polen und Ungarn scheinen zu folgen, die USA schlingern.“

Was wären die Schlussfolgerungen aus Brinkbäumers Demokratie-Schelte? Dass Demokraten nicht mehr das Recht hätten, Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern anzuklagen? Sind Menschenrechte kompatibel mit autoritären Regimes?

Der Schreiber will demokratische Selbstkritik üben. Doch was er erreicht, ist die Selbstdemontage jeder Demokratie, deren Selbstbewusstsein nicht in Überheblichkeit, sondern in redlicher Vorbildlichkeit besteht. Verfallende Demokratien sind nur dann Widerlegungen ihrer selbst, wenn sie ihre Defekte verheimlichen und durch Machtposen überspielen, anstatt sie offenzulegen. Trumps Amerika ist abschreckend, weil er nicht die geringste Selbstkritik kennt. Vorbildlich aber sind noch immer die vielen Amerikaner, die Trump widerstehen und ein anderes Amerika wollen.

Wer Demokratie als utopisches Ziel der Humanität betrachtet, der ist befugt, eine vollständige Demokratisierung als Ende der Geschichte zu betrachten. Was wäre das für eine ungeheure Leistung der Menschheit, eine Gesellschaftsform zu entwickeln, in der der Mensch nicht länger der Wolf des Menschen sein müsste.

Was hat das mit „Effektivität“ zu tun? Effektivität ist ein technischer Begriff. Echte Demokratien sind unabhängig von technischem Fortschritt, unverträglich mit einem effektiven Neoliberalismus, der die Ungerechtigkeit ins Unermessliche treibt. Warum schliddern so viele Nationen, die erst vor Jahren Demokratien wurden, ins Nichtdemokratische zurück? Weil sie andere Erwartungen von einer freien und gerechten Gesellschaftsform hatten. Ihr Abdriften ist ein Protest gegen die Verlogenheit westlicher Demokratien, die sich als die Größten aufspielen, in Wirklichkeit aber immer unfähiger werden, die Probleme der Welt und ihre eigenen zu lösen.

Anstatt in sich zu gehen und Ursachenforschung zu betreiben, folgen Merkel & Co dem Motto: was bislang erfolgreich war, kann jetzt nicht falsch sein, nur, weil Völker nervös werden. Die Politeliten sind zur Selbstprüfung unfähig. Sich aus Distanz wahrzunehmen, heißt, sein biografisches Werden erinnern, um die Gründe seiner Schwächen zu entdecken.

Nach Fall der Mauer und der wundersamen Verwandlung der Sowjetunion in ein demokratisches Gebilde war Fukuyama berechtigt, ein utopisches Finale der Menschheit am Horizont zu erahnen. Seine Ahnungen waren verfrüht, weil er nicht wissen konnte, dass ausgerechnet sein eigenes Land die Vorbildlichkeit Gorbis nicht ertrug und solange Konflikte in Russland schürte, bis das Land wieder zurückfiel in zaristische Verhältnisse.

Warum ertrug Amerika nicht die Vision einer demokratischen Welt? Weil ihre weiße Schicht, biblizistisch geprägt, vom apokalyptischen Ende der Geschichte besessen ist. Eine gelungene Demokratisierung der Welt wäre der Beweis, dass der Mensch keine sündige Kreatur ist, sondern aus Fehlern lernen kann. Fukuyamas Vision wäre die Widerlegung aller Erlöserreligionen gewesen, die den Menschen als Versager der Evolution diffamieren.

Fukuyama hat die destruktive Funktion und Macht der Religion übersehen. Das war sein Fehler, nicht der Versuch, den moralischen Fortschritt der Menschen festzuhalten. Jeder hat das Recht, seine Lernfortschritte zur Selbstbestätigung wahrzunehmen. Wer das possible Ende der Geschichte leugnet, leidet unter Utopieverbot und Paradiesangst. Im Grunde hält er den Menschen im christlichen Sinn für einen Rohrkrepierer.

Wie es einen Wettbewerb um Wahrheit geben sollte, so einen um Moral und Demokratie. Es wäre der edelste Wettstreit, den Menschen und Völker miteinander durchführen könnten. Jeder hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, besser als der Nachbar das Los der Menschen zu humanisieren. Das Bessersein aber müsste sich durch selbstkritische Vorbildlichkeit beweisen, nicht durch Blähen und Angeben. Was wir brauchen, ist ein Wettbewerb in allen Disziplinen, die die Probleme der Menschheit lösen können.

Wer auf seine demokratischen Errungenschaften nicht stolz sein kann, verrät die Demokratie. Zudem lässt er offen, ob autoritäre Regimes nicht die besseren Gesellschaften sein könnten.

Brinkbäumer scheint zu vergessen, dass es unendlich viele Menschen auf der Welt gibt, die auf das Ende ihrer Despotien und einen demokratischen Umschwung hoffen. Es sind machtgestützte Eliten, die den Anschein erwecken, als ob Tyranneien attraktiver sein könnten als das Leben in Freiheit.

Noch vor kurzem appellierte Brinkbäumer an die Verpflichtung seines Blattes, unbeirrbar für die Demokratisierung der Gesellschaft einzutreten. Was muss inzwischen geschehen sein, dass er den Glauben an die Demokratie als beste Form des Zusammenlebens verlor?

Seine durchaus berechtigte Kritik an einzelnen westlichen Demokratien ist keine Kritik an der Demokratie, sondern an der unglaubwürdigen, degenerierten, zur nötigen Selbstkritik unfähigen Demokratie. Vorbildliche Menschen wissen, dass sie nicht fehlerlos sind. Vorbildliche Demokratien desgleichen.

Die Angst vor impertinenter Selbstüberhöhung verleitet den Autor zur verbitterten Selbstdemontage der Demokratie. Ein Sturmgeschütz der Demokratie ist nicht verpflichtet, sich aus Erneuerungsgründen selbst zu beschießen und zu zerstören.

Europa braucht keine Führungsmacht, sondern reife Demokratien, die stolz und wehrhaft die Fahne der Humanität hissen – ohne andere Nationen zu verachten.

Milliarden von Menschen träumen davon, in freien und würdigen Verhältnissen zu leben. Vitale Demokratien können nicht anders, als deren Freiheitskampf selbstbewusst und selbstkritisch zu unterstützen.  

 

Fortsetzung folgt.