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Neubeginn LXXXIII

Hello, Freunde des Neubeginns LXXXIII,

a) das Verhältniswahlrecht scheint gerechter, denn es bildet die Positionen der Bevölkerung mit mehreren Parteien proportional besser ab als das –

b) Mehrheitswahlrecht, das nur einen Pro- und Kontra-Dualismus mit zwei Parteien zulässt, zwar effektiver aussieht, aber viele Meinungs- und Willensbildungen des Volkes unter den Tisch fallen lässt.

Beide Wahlrechtssysteme, das erstere in Europa, das zweite in Amerika-England, sind dabei, ihren Geist aufzugeben. Was besagt das über die Stabilität der gegenwärtigen Demokratien?

In Amerika wird alles dem Machtfaktor untergeordnet. Welche Meinung keine Mehrheiten bringt, wird aussortiert. Unter Trump etwa das Ökologieproblem. Da aber der Gedanke des Klimaschutzes schon weit verbreitet ist, fühlen sich viele Amerikaner von Trumps Öko-Blockade nicht repräsentiert.

Es beweist den noch immer virulenten demokratischen Geist der Amerikaner, dass auf der Bonner Klimakonferenz zwei amerikanische Delegationen auftreten, die sich nichts zu sagen haben. Trumps Marionetten: meinungs- und profillos. Die Klimaaktivisten mit Al Gore und Bloomberg mit dem resoluten Willen, nicht die einzige Nation der Welt zu bleiben, die die Öko-Reformen aller Völker torpediert.

Vergessen wir nicht die Kleinigkeit, dass es einen Triumph der Menschheit bedeutet, ihr Schicksal einer einstimmigen globalen Vernunft anzuvertrauen. Dennoch bleibt es ein riesiger Weg, die papierne Übereinstimmung in konkrete Realität zu

 verwandeln, die auch Mutter Natur von der Aufrichtigkeit ihres ungebärdigsten Sprösslings überzeugt.

In Europa sollte es gerechter zugehen mit mehreren Parteien, die die Vielfalt der Meinungen getreuer abbilden. Hier war es umgekehrt wie in Amerika: die immer stärker anwachsende Konzentration auf die Macht des Kapitals vertrieb peu à peu die Vielfalt der Meinungen. Wie in Österreich regierten hierzulande immer öfter GroKos; fiel die Bedeutung der Oppositionsparteien ins Bodenlose. Während die Reduzierung auf die bloße Macht das Phänomen Trump in Amerika erst möglich machte, verloren die demokratischen Eleven in Europa zunehmend den Geschmack an zersplitterter Vielfalt, wurden machtbewusster und machiavellistischer.

Trump wurde von der – lange sich unterschwellig ansammelnden – Mehrheit jener gewählt, die sich von den zwei Macht-Parteien nicht mehr repräsentiert fühlten. Deshalb der Schock bei der Wahl des tabulosen Außenseiters, den kaum ein Experte auf dem Schirm hatte. Sie hatten alle auf die allein seligmachenden Machtideologien der oberen Klassen geschielt – ohne die unterschwelligen Stimmungen an der Basis wahrzunehmen.

In Deutschland umgekehrt: je mächtiger das Land der Mitte in die Reihe der Völker zurückkehrte, umso mehr verging den Deutschen die Lust an konfliktreicher und streitbarer Vielfalt der Meinungen. Je besser ihre Wirtschaft florierte, umso mehr benötigten sie eine Führung, die der wiedergewonnenen Macht den Segen von Oben gab und die emotionalen Bedürfnisse nach Sicherheit und Seelenruhe befriedigte. Sie erfanden eine Pastorentochter, die allem Richtungsstreit, allen Querelen aus dem Weg ging, dem urkapitalistischen Motto folgend:

Alles was ist, ist recht“, der englischen Stimme des Alexander Pope. Und:

Was vernünftig ist, ist wirklich, was wirklich ist, ist vernünftig“, der deutschen Stimme der idealistischen Philosophie Hegels.

Nein, England und Deutschland waren keine ideologischen Erzfeinde. Im Kern waren sie einer Meinung. Was die Engländer in ökonomischem Pragmatismus realisierten, formulierten die Deutschen in abstrakter Gelehrtensprache. Die tagespolitische Verspätung gegenüber den Engländern kompensierten die Deutschen mit kühnen Machtvisionen, formuliert in unverständlichem Philosophendeutsch.

Beides lief auf dasselbe Ziel hinaus, auf eine politische Theodizee oder Rechtfertigung Gottes. Der christliche Gott war Herr der europäischen Geschichte. Also hatte Geschichte dem Willen des Gottes zu entsprechen.

Popes „Essay on man“, (Versuch über den Menschen), klingt nach hegelianischer Versöhnung aller Probleme: „In der harmonischen Gesellschaft – einer utopischen Vorstellung des Dichters – fördert ein Teil den anderen, stärken und ergänzen sie sich gegenseitig. Eigennutz wird im Banne der Vernunft mit dem Gemeinwohl identisch.“ (Kindlers neues Literaturlexikon)

Der kirchlich verpönte Egoismus wurde nicht nur zum Motor aller Entwicklung, sondern auch zum Gegenteil seiner bisherigen Selbstsucht: er verschmolz mit der Nächstenliebe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: wer sich selbst in rechter Weise liebt, liebt automatisch seinen Nächsten.

Am Anfang des modernen Kapitalismus steht ein christliches Urmotiv, das die traditionelle klerikale Moralpredigt auf den Kopf stellt, dem Buchstaben des neutestamentlichen Liebesgebots aber punktgenau entspricht. Selbst die Bosheit des Menschen kann Gottes gute Schöpfung nicht besudeln. „So hoch der Himmel über der Erde ist, so viel sind meine Wege höher als eure und meine Gedanken als eure Gedanken.“ Das gilt auch für den schmerzensreichen Weg der Frommen auf Erden. Am Ende wird alles gut:

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
dabei will ich verbleiben.
Es mag mich auf die raue Bahn
Not, Tod und Elend treiben,
so wird Gott mich
ganz väterlich
in seinen Armen halten;
drum lass ich ihn nur walten.

Adam Popes Absegnung alles Irdischen, dem sichtbaren Zeichen göttlichen Wohlwollens, entspricht Adam Smith’s Unsichtbare Hand. Der neuzeitliche Kapitalismus wächst auf dem uralten Boden des Willens Gottes, der seinen Erwählten ein vollkommenes Finale bietet.

Daran können auch die Reichen nichts ändern, die zwar nur an sich denken, wider Willen aber auch die Interessen der Schwachen erfüllen. Die Reichen mögen noch so egoistisch sein: am Ende müssen sie – ob sie wollen oder nicht – auch die Interessen der Armen bedienen. Das ist die Funktion der Unsichtbaren Hand. Gewiss, die Reichen angeln sich immer die besten Brocken aus dem Kuchen. Doch was übrig bleibt, sättigt auch die Armen:

„Trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier und obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn· die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen.“ (Adam Smith, Theorie der moralischen Gefühle)

Nicht ganz verlassen? Aber ein bisschen schon! Dass alles eitel Harmonie sein soll, dazu konnte sich selbst ein optimistischer Engländer nicht durchringen. Gleichwohl hatte Smith keine Probleme, die schärfsten Widersprüche zur Synthese zu bringen. Mit demselben Verfahren, das Hegel Dialektik nannte. Dass Gott alle Dinge zum Besten gelingen, darin gab es zwischen Engländern und Deutschen keinen Unterschied.

Auf welchem politischen Revier aber die große Versöhnung stattfand: hier unterschieden sich Insulaner und Mitteleuropäer. Für Hegel ist der deutsche Nationalstaat Gottes das finale Wort in der Geschichte des Weltgeistes. Ob danach noch etwas kommt, ließ Hegel offen. In Berlin schlägt die letzte Stunde der Geschichte, die bei Hegel zur Synthese aus christlicher Heilsgeschichte und griechischer Geschichte wird. Gott und Welt, die sich am Anfang gegenüberstanden, verschmelzen zur pantheistischen Einheit. Bis zu seinem Lebensende hielt Hegel daran fest, ein treuer Lutheraner zu sein. Er täuschte sich.

Am Ende der christlichen Heilsgeschichte findet die irreparable Scheidung in Erwählte und Verworfene, Selige und Unselige statt. Diese Ungeheuerlichkeit konnte kein deutscher Denker, der von Spinoza und der Aufklärung geprägt worden war, als ultima ratio seines Gottes akzeptieren. Das Schreckliche an sich durfte nicht das Ende der Geschichte sein.

Das Böse als Endzweck für die Majorität der Menschheit wurde in ein Mittel des Fortschritts umtransponiert. Wider seinen Willen muss das Böse sich in den Dienst des Guten stellen. Das war die perfekte Rechtfertigung Gottes. Er war nicht zu schwach gewesen, um das Böse zu verhindern. Er wollte das Böse. Mit voller Absicht erschuf er das Böse, damit es dem Guten diene.

Das Böse wurde zur Motivation, um das Gute voranzubringen. Der mittelalterliche Teufel, der als Widersacher Gottes dessen Knecht blieb, verwandelte sich ab beginnender Neuzeit zum Bösen als Motor des Guten. Fausts Mephisto, der stets das Böse will und stets das Gute schafft, entspricht dem kapitalistischen Eigennutz, der nur eigenen Interessen dient und dadurch den Interessen aller.

Während die Deutschen den Staat zur höchsten Instanz des göttlichen Willens auf Erden erhoben, wurde der höchste Wille Gottes in England – zur Wirtschaft. Der Staat wird zum lästigen Übel, zuständig für polizeiliche und sonstige niedere Dienste. Die Wirtschaft ist die edelste Realisierung der göttlichen Auserwählung, das eigentliche Instrument der englischen Welteroberung. Aus allen wichtigen Belangen der Ökonomie hat der Staat sich herauszuhalten.

Englands Imperialismus war nie ein roher Militarismus. Wie ihre amerikanischen Schüler wollten sie der Welt zugleich die kapitalistischen Mittel bringen, mit denen die Völker – unter westlicher Oberherrschaft – ihr bescheidenes Glück machen sollten. Hier entstand die heutige Verblendung, wirtschaftliche Beziehungen oder globaler Freihandel würden von selbst für friedliche Beziehungen zwischen den Nationen sorgen.

Bei Fichte bestand die Aufgabe des messianischen deutschen Staates auch in der pädagogischen Zwangsbeglückung der eroberten Völker. Hier waren die Deutschen fanatische Platoniker. Erst ab Nietzsche wurde der überlegene deutsche Machtwille zur unerbittlichen Faust, die alles unterdrückte und ausrottete, was sich dem Willen der überlegenen Herrenmenschen widersetzte.

Überblicken wir die wichtigsten Stadien der abendländischen Moralentwicklung.

Bis zum Ende des Mittelalters regierte die christliche Ethik – die keine Moral ist, sondern eine göttlich-satanische Antinomie. Liebe und Eigensucht, Agape und Inquisition, Caritas und Kreuzzüge waren für Kleriker keine Widersprüche. Wenn es hieß: Deus lo volt, waren alle Mittel erlaubt und geboten.

Sie waren keine Heuchler, die von Christus sprachen und weltliche Macht meinten. Christus und Macht, Liebe und Gewalt, das Heilige und das Böse waren für sie keine Gegensätze. Wenn sie Hexen verbrannten, Heiden töteten, Ketzer quälten, war es nur zu deren eigenem Nutz und Frommen.

Liebe und Macht waren für sie identisch. Die Welt musste zu Gottes Lob und Ehr zwangsbeglückt werden. Platons Urfaschismus geriet in den Händen der Kirchen zur totalitären Universalreligion. Die Politeia wurde zum Himmelreich, die faschistischen Weisen zum göttlichen Hofstaat, das Glück der Untertanen zur ewigen Seligkeit, das Todesurteil für politische Abweichler expandierte zur Höllenstrafe.

Als die Grundgedanken der griechischen Philosophie ab der Renaissance zur Aufklärung der Neuzeit führten, waren die ersten kritischen Geister nicht gleich bereit, das – ihnen zur zweiten Natur gewordene – christliche Dogma en bloc zu verabschieden. Zuerst wollten sie die unmenschlichsten Partien des Credos mit Hilfe der Vernunft reinigen. Aus dem Rachegott wurde ein Gott der Vernunft, aus dem naturfernen Schöpfer der geistliche Kern der Natur, aus der Heilsgeschichte die Geschichte eines endlosen moralischen und technischen Fortschritts.

Heute ist der moralische Fortschritt gestrichen. Der technische Fortschritt will alle Probleme der Menschheit mit links lösen. Vor allem das Böse, das ins ewige Feuer führen sollte, musste humanisiert werden, indem es zum Treibmittel des Guten wurde. Das Übel und das Böse wurden zum gärenden Ferment des Weltprozesses, der ohne seine Einpeitscher zum Stillstand verurteilt wäre.

Auch in England wird das Böse oder der Egoismus in sein Gegenteil verkehrt. Ohne Egoismus kein Gemeinnutzen, keine Motivation zum endlosen Fortschritt der Geschichte. Die ersten Aufklärer wollten Vernunft und Glauben miteinander versöhnen. Während viele französische Freidenker radikale Christentumskritiker wurden, gab es unter englischen und deutschen Vernunftanhängern nicht wenige Anhänger des Glaubens, den sie mit allen Mitteln der ratio vom inhumanen Ballast reinigen wollten.

Man muss es sich klar machen: mit egoistischen Mitteln wollte der Kapitalismus altruistisch das Wohl der Gesellschaft, den Wohlstand der Nationen erreichen. Sie packten das Böse am Kragen und zwangen es zum Dienst am Guten.

Was sie nicht ahnen konnten, war die umgekehrte Wirkung: indem das Böse zum Knecht des Guten wurde, verwandelte sich das Gute immer mehr in das Böse, weil die heilig gesprochenen bösen Mittel zum guten Endzweck wurden. Die NS-Schergen glaubten das Gute zu tun, indem sie das Höllische taten. Die Dialektik von dienendem Bösen und herrschendem Guten verwandelte sich ins Gegenteil: das Böse wurde zum Endzweck des Guten. Indem es dem Guten diente, wurde das Böse selbst zum Guten.

Nach der Humanisierung des Bösen im Dienst des Guten gab es noch eine dritte Epoche, in der alles Christliche scheinbar fallen gelassen wurde. Nietzsche legte keinen Wert mehr auf ein liebendes Alibi seiner Brutalinski-Weltpolitik. Gewalt nannte er Gewalt und sprach nicht mehr von Hilfsdiensten des Bösen, um gute Zwecke zu erreichen.

Aber auch hier wird das Böse zum legitimen Herrschaftsmittel des Übermenschen jenseits von Gut und Böse. Der Herrenmensch, Ziel der evolutionären Entwicklung, kennt kein polares Gutes oder Böses. Alles, was er tut, ist gut, weil er es tut.

Womit wir unvermutet zurückgekehrt wären in die Anfänge des Christentums: alles, was aus Glauben geschieht, ist gut, denn es wird von Gott gesegnet. Der wahre Gläubige kennt – wie der Übermensch – weder Böses noch Gutes, die sich diametral widersprächen. Gott und Übermensch sind alles in allem. Die vollendete Unmoral der NS-Schergen wird zur vollendeten Moral gottgleicher Übermenschen.

Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Deutschen. Auch der führende amerikanische Kapitalismus stellt das Böse in den Dienst seines demokratischen Guten, das durch ständige Kontaminierung mit dem Bösen selbst zum Bösen wurde – allerdings in demokratischer Verpackung, die das Böse lange Zeit verdrängen konnte.

Erst seit der Trump‘schen Wende droht die demokratische Fassade zur Makulatur zu werden. Die verdrängte Tyrannei des wirtschaftlichen und technischen Machtwillens wird in all seiner Blöße sichtbar – und die Welt beginnt zu frösteln. Obgleich ein kritischer Blick auf die christliche Antinomie den fundamentalistischen Untergrund der amerikanischen Demokratie längst hätte entlarven können.

Demokratische Fassade bedeutet nicht, dass es keine leidenschaftlichen Demokraten mehr in Amerika gäbe. Die Polarisierung unter Trump legt nicht nur den Anteil des welthassenden Biblizismus frei, sondern auch den Anteil der wehrhaften Demokraten. Welche Seite sich durchsetzen wird: Demokraten oder apokalyptische Christen, Vernunft oder Glaube, wird niemand vorhersagen können.

Und die Deutschen? Sitzen im Dreck, seit Trump sie abservierte. Gewohnt, alles Amerikanische oberflächlich zu imitieren – ohne allerdings ihre unbewusste verhängnisvolle deutsche Tradition aufzugeben –, müssten sie jetzt ihre nationale Biographie in allen Widersprüchen erforschen und durcharbeiten, um ihre Identität in Selbstbestimmung zu erstreiten.

Nur wer sein Selbst kennt, kann von anderen Völkern lernen, kann die allgemeine Menschenvernunft zur Führerin seines Geschicks wählen. Das wäre eine intensive philosophisch-historische Selbsterkundung, unerfassbar von windelweichen Begriffen der Politik, die in allen Bedeutungen schillern und sich endlos widersprechen. Die deutsche Politik ist schon lange nicht mehr die Avantgarde dessen, was die Nation nötig hätte: historische Nabelschau zu betreiben.

Nur wer weiß, aus welchem Schoß er kroch, kann ermessen, was ihn prägte. Nur wer weiß, was ihn prägte, kann sich im Licht der Vernunft entscheiden, seine Prägung gut zu heißen – oder zu verwerfen. Seine zufällige Geworfenheit verwandelte sich in einen Akt vernünftiger Selbstbestimmung.

Welche Schlussfolgerungen können wir ziehen? In welcher Epoche der abendländischen Moralentwicklung stehen wir?

Mit einem Fuß in der zweiten, mit einem in der dritten Epoche. Der deutsche Kapitalismus vermittelt noch immer den Eindruck, das scheinbare Böse – die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, der erbarmungslose Wettbewerb, die Deklassierung der Schwachen, die Zwangsbeglückung der Welt mit technischen Mitteln, das Elend der verhungernden Welt – seien unvermeidbare Kollateralschäden einer insgesamt guten Entwicklung der Menschheit in eine strahlende Zukunft. Das Böse muss sein, um das optimale Gute zu erreichen.

Noch immer herrscht der Glaube an eine unsichtbare Hand, die den gigantischen Vorteil Weniger zum bestmöglich-minimalen Vorteil Aller erklärt. Der angebliche Nachteil zu Lasten der Vielen wird zum Vorteil der Wenigen, der wiederum zum Vorteil der Schwachen notwendig ist. Die Schwachen werden so weit beglückt, wie es die sachlichen Notwendigkeiten der machina mundi erlauben.

Ein Paradies auf Erden für alle ist so wenig möglich wie eine vollkommene Welt für den Gott von Leibniz. Wie dessen Gott nicht allmächtig war, sondern sich den Sachzwängen des Seins unterordnen musste, so ist auch der Kapitalismus nicht allmächtig. Auch er muss sich einer Evolution unterordnen, die keine moralischen Verpflichtungen, sondern nur Sachzwänge kennt. Leibniz machte aus der Not eine Tugend. Da sein Gott kein perfektes Paradies schaffen konnte, funktionierte er das unvermeidliche Böse in ein Instrument des Guten um. Das war eine Theodizee der nachparadiesischen, fortschrittspflichtigen Art, wie sie heute die Neuzeit dominiert. Wahre Gerechtigkeit ist, den objektiven Gesetzen der machina mundi zu folgen. Mehr ist nicht drin, alles Utopische Schaumschlägerei.

Hayeks Neoliberalismus allerdings klingt wesentlich brutaler als die Unsichtbare Harmonie des klassischen Kapitalismus. Er scheut sich nicht, Töne à la Nietzsche vernehmen zu lassen. Die Verlierer des evolutionären Wettbewerbs seien eben Verlierer – Punktum und Pech gehabt. Je eher sie diese konkurrierende Trostlosigkeit akzeptieren, je weniger scheinhumane Illusionen man ihnen vorgaukelt, desto weniger enttäuscht werden sie sein, wenn die Letzten die Hunde beißen.

Die wirtschaftliche Zwangsbeglückung wird überboten von der technischen. Die Zukunft überintelligenter Maschinen wird alle Probleme der Gattung lösen. Versteht sich, dass bei diesen futurologischen Geschichtsdespotien die Menschheit kein Wörtchen mitzureden hat. Wer sich am besten und frühesten anpasst, hat die größten Chancen, auf der nächsten Stufe der Evolution alle Konkurrenten zu überflügeln. Sich der kommenden Digitalisierung anpassen, den kommenden Entwicklungen unterordnen: das ist der totalitären Vision letzter Schluss. Unter der neuen Jamaika-Regierung sollen die Deutschen die Vision zu ihrem Credo machen. Hast du eine digitale Vision, geh nicht zum Psychiater: danke auf Knien deiner deutschen Einheitspartei.

Zu Merkels Vision gehören Äußerungen deutscher Ökonomen über veraltete Arbeitszeit, die von Arbeitnehmern als notwendiges Übel betrachtet wird. Zeitlich unbegrenzte Arbeitsbereitschaft soll zum Lebenszweck werden, fordern industriedevote Ökonomen, die sich Weise nennen lassen. Den Achtstundentag erklären sie ex cathedra für obsolet. Aus ora et labora wird eine perfekte Harmonie: laborare est orare. Das ganze Leben wird zum kapitalistischen Halleluja auf den Schöpfer, der selbst rund um die Uhr arbeiten und werkeln muss, um seine Schöpfung so lala zu erhalten. Vergebens, am Ende wird er sie vernichten müssen, weil sie nicht mehr recycelfähig sein wird.

Die Bewahrung der Arbeitsplätze, so Merkel, müsse Vorrang haben vor ökologischen Notwendigkeiten. Ein bemerkenswerter Satz: die futurische Digitalisierung wird auf Teufel komm raus befürwortet – und wenn alle jetzigen Arbeitsplätze drauf gehen. Müssen eben neue erfunden werden. Wer dazu nicht fähig sei, habe Pech gehabt. Für die Ökologie hingegen gilt das nicht. Natur muss weiter vernichtet werden, um jetzige Arbeitsplätze zu sichern. Auch wenn die Vernichtung der Natur die jetzigen Arbeitsplätze mit Sicherheit vernichten wird.

Auch Kohlekraftwerke dürften nicht mit Schließung bedroht werden, sagt die Kanzlerin, sonst würden sie ins Ausland flüchten; was wäre für die Ökologie gewonnen? Wiederum ein bemerkenswerter Satz einer ehemaligen Umweltministerin. Offenbar hat sie nicht verstanden, dass die Völker der Welt in Bonn zu globalen Vereinbarungen kommen wollen, um grenzüberschreitende Machenschaften einer mafiösen Industrie endgültig zu stoppen.

Allmählich drängt sich die Frage auf: hat Merkel Schwierigkeiten, das unterkomplexe Nullacht-Fünfzehn-Geschehen des Neoliberalismus intellektuell zu durchdringen? Wäre es nicht an der Zeit, die Mitglieder des kommenden Kabinetts mit Logik- und IQ-Tests auf Regierungstauglichkeit zu prüfen?

Was Kompromisse sind, scheint die Kanzlerin ebenfalls nicht zu verstehen. Eben noch feierte sie den besserwissenden kompromisslosen Luther als Vorbild der Nation. Jetzt lässt sie störrische Koalitionskandidaten wegen mangelnder Kompromissbereitschaft schelten. Unterwerfungsbereite Grüne lässt sie zu Kreuze kriechen, ohne zu signalisieren, was die C-Parteien ihrerseits opfern wollen, um einen fairen Kompromiss zu schließen.

Was haben wir übersehen? Die Stimme der Medien, die, des Balkonstarrens überdrüssig, neue Heldentaten der mächtigsten Frau der Welt preisen wollen. Also forderten sie ihre Kanzlerin auf, endlich ein Machtwort zu sprechen.

Die Ordnung des Volkes kann nur hergestellt werden, wenn der Egoismus der Mächtigen zu Lasten der Überflüssigen auf seine Kosten kommt. So wahr die unsichtbare Hand der Merkel‘schen Harmonie helfe.


Fortsetzung folgt.