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Neubeginn LXXXII

Hello, Freunde des Neubeginns LXXXII,

„Es war ein Donnerstag. Kühl, es regnete. Menschen machten Geschichte. Zum ersten Mal machten Menschen wirklich Geschichte. Sie sagten, sie sind das Volk.“ (BILD.de)

Es sollte ein Lob für die Ostdeutschen sein, die sich aus den Fesseln des Sozialismus befreiten: es wurde zu einem Generalverriss des ganzen Menschengeschlechts. Sollte die Menschheit untergehen, werden barmherzige Aliens, die zufällig des Weges kommen, ihr ein riesiges Mausoleum auf den höchsten Berggipfeln des Planeten errichten:

„Dem unbekannten Geschlecht, das in Millionen Jahren seiner Existenz ein einziges Mal Geschichte machte. Wir bedauern den Fehlgriff der Evolution.“

Eine Gattung, die an die Geschichte glaubte, machte ein einziges Mal Geschichte. Ansonsten wurden ihre Geschicke von der Geschichte gemacht.

Ein Geschlecht, das stolz auf seinen Geist, seine Sonderrolle in der Natur, seine Kultur und Politik war – muss ein Sklavengeschlecht gewesen sein. Untertan einer Geschichte, deren Herrschaft es nur ein einziges Mal durchbrechen konnte. Wem gelang das grandiose Heldenstück? Nur Deutschen, die alles Freiheitliche und Selbstbestimmte von anderen Nationen übernehmen mussten? Für die das Wort Geschichte zu einem Gott wurde, der mit Heils- und Unheilsgeschichte das ganze Menschengeschlecht seinem Willen unterwarf?

Die Französische Revolution, die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung, die griechische Erfindung der Demokratie, die südamerikanischen Freiheitsbewegungen, der Kampf Afrikas gegen seine weißen Kolonisatoren, die unendlich vielen Unabhängigkeitsbestrebungen aller Völker – alles keine autonomen Taten der

Geschichte? Müsste die vernichtende Selbstkritik der Menschheit in einer deutschen Zeitung nicht zu einem flammenden Aufruf führen:

„Menschen! Bislang wart ihr nur Untertanen der Geschichte. Wie lange noch wollt ihr warten, bis ihr euer Schicksal selbst in die Hände nehmt? Wollt ihr warten, bis es zu spät ist? Bis eure tyrannische Gebieterin mit euch macht, was ihr täglich immer mehr Lebewesen antut, die ihr zum Untergang bestimmt?“

Nein, es war keine zufällige Fehlleistung eines Schreibers, dem das Wort nicht mehr zu Gebote steht. Die Fehlleistung war eine bewusstseinslose Richtigleistung. Ist doch das Normale moderner Fremdbestimmung das Ducken unter übermenschliche Mächte, die von gehorsamen Zeitgenossen Zukunft, grenzenlose Machtausdehnung, Fortschritt und unbegrenzte Genialität genannt werden.

Das auflagenstärkste Blatt der BRD, das sich anmaßt, für das Volk zu sprechen, um es zum Schweigen zu bringen, wird von der Kanzlerin der Deutschen unterstützt:

«Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.» Sagte die Kanzlerin im Bierzelt von Trudering. «Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.»“ (ZEIT.de)

Wie viele Stücke dürfen‘s denn sein, wenn man sich auf andere verlässt? Gar verlassen muss? Werden Freunde, auf die man sich verließ, nicht mehr bei Namen genannt? Werden sie zu namenlosen Verrätern der transatlantischen Freundschaft? Haben Europäer ihr Schicksal bislang nicht in die eigenen Hände genommen? War die gesamte Nachkriegsgeschichte eine Unterwerfung unter den amerikanischen Willen? Dann hätten all jene Recht gehabt, die Westdeutschland als Satellitenstaat der USA bezeichneten. Nicht anders, wie Ostdeutschland ein Satellitenstaat ihrer sowjetrussischen Freunde war.

Waren wir bislang nur unwirkliche Bestimmer unserer Politik? „Ein Stück weit, wirklich“: die Schwammigkeiten ihrer Rede entlarven die denkerische Unschärfe der Kanzlerin, für die Demokratie nur eine andere Attrappe des unwirklichen irdischen Staates ist, dessen Tage gezählt sind. Eine Attrappe unter vielen, mögen sie Sozialismus oder Kapitalismus, Demokratie oder Diktatur heißen.

Übersehen wir nicht den emotionalen Unterbau der Merkel‘schen Rede: leider, leider müssen wir unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Uns bleibt keine andere Wahl. Der Große Freund überm Teich liebt uns nicht mehr, er hat uns verstoßen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen selbständig werden. Lieber wäre uns gewesen, wir hätten unser Schicksal weiterhin anderen anvertrauen können.

Unerwachsen zu sein, ist so bequem. Unmündigkeit – oder „Feigheit und Faulheit“ (Kant) – befreit von der leidigen Pflicht, uns unseres Verstandes ohne Leitung anderer zu bedienen. Templin ist nicht Königsberg, eine Physikerin keine Philosophin, eine Pastorentochter keine Aufklärerin – sondern eine Magd Gottes.

Dass die Deutschen nach dem Krieg unter Kuratel gestellt werden mussten – geschenkt. Dass sie aber mehr als ein halbes Jahrhundert lang ihr Denken an der Garderobe der Befreier abgaben, obgleich sie ihre Vergangenheit – nach Auskunft des Westens – so trefflich bewältigt hätten: das ist ein Schlag in die Magengrube.

Nun wissen wir, was deutsche Christen meinen, wenn sie sich für aufgeklärt halten. Aufgeklärt ist, wer sich christlich nennt, ohne vom Christentum das Geringste zu wissen. Rational ist, wer Wahres und Unwahres, Folgerichtiges und Widersprüchliches unisono für richtig hält. Nach der Devise: niemand darf etwas besser wissen wollen als der denkfaule Ignorant, niemand darf rechter haben als wendige Mitläufer, dreiste Lügner und hasserfüllte Menschenfeinde. Es wird Zeit, dass die Deutschen ihren Verstand entdecken – anstatt zur selig lächelnden Madonna zu flüchten.

Verstand will besser wissen. Demokratischer Verstand will sein Besserwissen im Streitgespräch unter Beweis stellen. Und jeder hat die Pflicht, seinen Anspruch zu prüfen – und es noch besser wissen zu wollen.

Postmoderne Schlaffheit und Wahrheitsallergie waren Todeserklärungen für Menschenrechte und demokratische Lebensverhältnisse. Wenn alle humanen Ideen unterschiedslos „Erzählungen“ sein sollen, keine besser als die andere, können wir ungeniert dazu übergehen, die „Erzählungen“ der Faschisten und Diktatoren für ebenso wahr zu halten wie die von Freiheit und Gleichheit.

„Die Deutschen sind böse, sehr böse, der deutsche Handelsüberschuss schlecht, sehr schlecht“, mit diesen dezenten Worten verstieß Amerika seine bisherigen Musterschüler. Ein Schock für die bislang amerikahörige Kanzlerin. Der zweite Schock ließ nicht lange auf sich warten: Trump beendete seine bisherigen Attacken gegen den Erzrivalen China und zeigt sich vor Ort beeindruckt von der Leistungsfähigkeit des schärfsten Rivalen um die Weltführerschaft.

Damit beginnt die Welt sich in den innersten Fugen zu drehen. Im Selbsthass beginnt Amerika an sich zu zweifeln und seine bisherige Führungsrolle zu verlieren. Zwei Möglichkeiten bieten sich für den wankenden Koloss an:

a) Amerika kann seinen bisherigen Dualismus auf die Spitze treiben und einen christlich motivierten Endkampf Gut gegen Böse provozieren. Das wäre ein atomarer Armageddon oder das Ende der Welt.

b) Es kann versuchen, mit Peking in gutes Einvernehmen zu kommen. Sei es auf demonstrativ gleicher Augenhöhe, sei es in getarnter Unterordnung.

Wenn wir a) fürs erste ausschließen: auch b) wäre für Europa ein Schock, der sich schonungslos im heute beginnenden Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft zeigt.

„Heute ist ein Tag, an dem Europa recht mickrig und ältlich wirken könnte. In Vietnam beginnt der Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft, China nimmt teil, die USA, Russland, Japan, Australien und andere. Es ist die Region mit der größten Dynamik, der größten Kraft. Sie gilt schon lange als die Region der Zukunft, und das war kein Irrtum. China ist die dominierende Macht am Pazifik, und Europa ist bei diesem Gipfel gar nicht mehr vertreten. Bislang hat der Präsident der USA Europa immer ein bisschen mitgedacht, als Anführer des Westens. Aber Trump ist bei seinem Staatsbesuch in China nicht mehr als Anführer des Westens aufgetreten, sondern als Bewunderer eines autoritären Herrschers, als Juniorpartner von Xi Jinping. Er hat die westlichen Werte nicht mehr öffentlich vertreten. Als Typus passt er ohnehin besser zu Autokraten als zu europäischen Staatslenkern wie Merkel oder Macron. Still ruht der Atlantik.“ Schreibt Dirk Kurbjuweit in SPIEGEL.de.

Während die Weltachse sich im Innersten ächzend dreht, ruht nicht der Atlantik still, sondern Berlin. Europa scheint es nicht wahrzunehmen: der alte Kontinent beginnt, aus der ersten Reihe der Weltstaaten abzutreten. Besonders Deutschland, das sich auf seine Wirtschaftsmacht verlassen konnte, müsste das Vorpreschen der asiatischen Staaten als Alarmzeichen erkennen. Wenn nur noch wirtschaftliches und militärisches Machtpotential zählt, dürfte es bald vorbei sein mit der friedlichen Vorbildsrolle Europa.

Viele Staaten – eingeklemmt zwischen amerikanischer und chinesischer Vormacht – hatten orientierungssuchend auf die europäischen Staaten geschaut, die ihre jahrhunderte-alten Konflikte in versöhnlichem Zusammenschluss gelöst hatten. Europa war der Musterkontinent in Demokratie und Verständigung. Doch kaum erschütterten die ersten Kollisionen die Widerstandfähigkeit der Europäischen Union, zeigte sich die Porosität der abendländischen Werte.

Finanzkrise und das über Nacht hereinbrechende Flüchtlingsproblem – so schien es jedenfalls – offenbarten die nicht vorhandene Solidarität in wirtschaftlichen Dingen und im Umgang mit hilfesuchenden Fremden. Sie sprachen von Beistand und hatten dennoch in ihre Charta geschrieben: no bail out, keinerlei Unterstützung in Wirtschaftskrisen.

Der Wettbewerb – das Evangelium des neoliberalen Marktes – darf durch Hilfeleistungen nicht gemildert und verfälscht werden. Echter Wettbewerb ist gnadenlose Konkurrenz beim Erobern von Märkten auf aller Welt zur Erhöhung des eigenen Wohlstands. Die Ratio des homo öconomicus weiß am besten, wie er seine Interessen gegen die der Mitbewerber durchsetzt. Ökonomie ist eine machina mundi, eine von Gott geschaffene Maschine, die nach dem Gesetz optimaler Eigensucht funktioniert.

Moral hat hier nichts zu suchen. Das Maschinenmodell war sowohl für die Begründer des Kapitalismus wie für Marx, den Begründer des Sozialismus, eine unwiderlegbare Wahrheit. Es gab nur einen winzigen Unterschied in der Bewertung: erst am Ende der Geschichte wird, nach Marx, die bewundernswerte Profit- und Produktionsmaschine sich selbst auffressen und explodieren. Die Kapitalisten hingegen überließen das Ende der Geschichte den Theologen, gehörten sie doch selbst nicht selten zu den Frömmsten der Frommen.

Für calvinistische Kapitalisten war der Kampf um Reichtum und Armut synchron mit Gottes Selektion: der erwählte Weizen in die himmlische Scheune, die gottlose Spreu ins Feuer. Bei Marx mussten die erwählten Proleten solange ihre Leiden ertragen, bis sie durch revolutionären Kampf nur noch ihre Ketten verlieren konnten. Selig die Ausgebeuteten, denn sie werden den Endkampf gewinnen.

Marxisten und Kapitalisten widersprechen sich nur in der Zeitangabe der Selektion. Was der Kapitalismus als Sieger und Verlierer produziert, ist identisch mit Gottes Schuld- oder Freispruch im Jüngsten Gericht. Bei Marx hingegen müssen Proleten bis zur Selbstdestruktion des Kapitals warten, um durch Revolution die wahren Verhältnisse herzustellen.

Moral – hier sind Marxisten und Kapitalisten ein Herz und eine Seele – hat beim sachgemäßen Bedienen der machina mundi nichts zu suchen. Nicht der Mensch, die weltliche Gottesmaschine, bestimmt das Schicksal des Menschen. Natur und Geschichte sind wie große Uhren, die Gott, der Uhrmachermeister, hergestellt hat. Die Gesetze der Uhr kann der Mensch nicht verändern.

Zwischen Newton und Leibniz gab es nur einen Streitpunkt: funktionierte die Uhr vollautomatisch und perfekt bis ans Ende der Zeiten, wie Leibniz annahm – oder musste sie durch den Großen Uhrmacher öfter nachgestellt werden, wie Newton behauptete? Die These, die göttliche Uhr sei unvollkommen und müsse ständig nachjustiert werden, war für den Deutschen eine Blasphemie. Seine Vorstellung vom Großen Uhrmacher war überirdische Vollkommenheit.

Marxens Modell war ein Kompromiss aus deutsch-idealistischer Perfektion und englisch-nüchternem Pragmatismus. Lange läuft der Kapitalismus auf perfekt scheinendem Erfolgskurs, bis er eines Tages seine innere Morschheit erbricht und die Proleten sich aus Verlierern der Geschichte in strahlende Endsieger verwandeln können.

Diese Problematik zeigt das Elend Europas. Einerseits will es eine moralische Staatenunion sein, andererseits durch moralfreies Wirtschaften an der Weltspitze mitspielen. Dieser Grundkonflikt zerreißt die EU. Deutschland wiegt sich noch als stärkste Wirtschaftskraft in Sicherheit. Nicht mehr lange. Wenn sich Amerika und China jetzt zu einer ökonomischen Weltkoalition verbinden sollten – mit Amerika in der zweiten Reihe –, wird Europa keine Rolle mehr spielen. Deutschland, das auf gnadenlosen Wettbewerb unter Freunden setzt, wird im Alleingang à la longue nicht die geringste Chance haben, seine bisherige Weltgeltung zu verteidigen.

Bislang sprachen wir nur von Wirtschaft. Was aber wird aus der Demokratie, wenn selbst Amerika, die bisherige Musterdemokratie, durch innere Zersetzung und Übergang zu autoritären Strukturen das Lager aufrechter Demokraten verlässt?  

Trump vertritt keine demokratischen Werte mehr. Im Gespräch mit Xi Jinping war von chinesischen Verletzungen der Menschenrechte keine Rede. Kritische Fragen der Journalisten – ein Grundrecht der Meinungsäußerung – waren bei öffentlichen Auftritten der beiden Weltherrscher nicht mehr zugelassen. Durch Trump hat Amerika den Konsens des Westens verraten und verkauft.

Strategisch war die neue Allianz mit Peking ein geschickter Schachzug Trumps. Die Gefahr einer militärischen Kollision im pazifischen Raum scheint vom Tisch. Den über 200 Milliarden schweren Wirtschaftsdeal mit China wird er als riesigen Erfolg verkaufen, mit dem er die ohnehin boomende Wirtschaft der USA weiter anheizen kann. Damit steigen die Chancen, die geplante Steuerreduktion für die Superreichen geräuschlos über die Bühne zu bringen.

Trotz unzähliger Verstöße gegen die demokratische Korrektheit hat Trump ein Jahr lang erstaunlich gut überlebt. Der harte Kern seiner biblizistischen Herzenswähler lässt keine Zweifel an der luziferischen Messiasgestalt zu. Nur treue Bibelleser wissen, dass Antichrist und Christ kaum zu unterscheiden sind.

Wer die bisherigen Attacken aus dem Lager demokratischer Gutmenschen überlebt hat, wird auch die abflauenden Stürme der Zukunft überleben. Schon treten die ersten Propheten auf, die dem Champion reelle Chancen einräumen, erneut gewählt zu werden.

Je länger er Amerika in eine launische One-man-Show verwüsten kann, umso mehr wird das sauertöpfische, von Geschwisterrivalität zerrissene, verschlissene Europa ins globale Nichts versinken.

Kurbjuweit bewundert den dynamischen Charakter der asiatischen Staaten und tadelt Europa, es würde sich vor allem mit seiner Vergangenheit beschäftigen:

„Europa dagegen beschäftigt sich mal wieder mit seiner Vergangenheit. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht Paris und weiht dann zusammen mit seinem Kollegen Emmanuel Macron das deutsch-französische Museum zum 1. Weltkrieg im elsässischen Hartmannswillerkopf ein. In den Schlachten von damals sind fast 30.000 Soldaten gefallen. In der „Süddeutschen Zeitung“ von heute habe ich gelesen, der ehemalige australische Premierminister Kevin Rudd habe gesagt, Europa sei „ein endloses Seminar über sich selbst“. Falsch ist das nicht, und während in Vietnam heute mit Sicherheit viel über Gegenwart und Zukunft geredet wird, redet Europa über seine Vergangenheit.“

Gewiss, durch Beschäftigen mit der Vergangenheit habe Europa den stabilen Frieden der Nachkriegszeit gewonnen, so Kurbjuweit. „Deutsche und Franzosen haben auch heute durchaus Grund, ein bisschen stolz auf sich zu sein.“ Ein bisschen? Klingt fast wie „ein Stück weit“ Merkels. Kurbjuweit bleibt ambivalent, zur Priorität des Moralisch-Demokratischen kann er sich nicht entschließen. Ambivalent auch sein Satz, Europa befasse sich wieder mal mit sich selbst. Das habe zwar zum Frieden geführt, aber auch zur Schwächung der wirtschaftlichen Potenz. Tja, was denn nun? Stärkung des Friedens durch Beschäftigung mit der Vergangenheit – oder Erhöhung der technisch-ökonomischen Potenz mit Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens der Völker?

Bis vor kurzen wurde von Wirtschaftsapologeten noch die dreiste These vertreten, unbehinderter Freihandel sei das probateste Mittel zur Herstellung optimaler Völkerbeziehungen. Mittlerweilen mussten sie zugeben, dass der Run auf die letzten Ressourcen der Welt, die Dominanz der Starken beim Aushandeln der Verträge die Schwachen immer mehr schwächt und die Starken immer mehr stärkt. Die nationalen und internationalen Klüfte zwischen Oben und Unten sind zu Äquivalenten von Völkerverbrechen geworden.

Unermüdlich predigen sie, die bestehende Ökonomie sei die beste aller möglichen. Auftretende Kollateralschäden seien unvermeidlich. Sie reden wie Leibniz, der die Mängel der Welt nicht verleugnete. Gottes Macht sei nicht so perfekt, dass er alle Übel ausschließen könne. Dennoch sei die bekannte Welt die beste aller möglichen. Ökonomen sprechen wie Leibniz: der Kapitalismus ist die beste aller denkbaren Wirtschaftsformen, inklusive schreckliche Nebenfolgen. Göttliche Maschinen kann man nicht verändern, menschengemachte hingegen müssen verändert werden.

Eben dies ist die Crux aller Demokraten, die festhalten wollen an Menschenrechten und Humanität, andererseits aber den amoralischen Konkurrenzkampf der Wirtschaftssubjekte nicht aufgeben wollen. Aus Angst, sie könnten durch Wirtschaftsgiganten der Welt eingestampft werden.

Dieses Grunddilemma der Demokraten lässt sich durch Digitalisierung und grenzenlos wachsende Konjunkturzahlen nicht lösen. Hier hülfe nur jenes Mittel, das die urgriechische Demokratie aus der Taufe hob: der Wettkampf der Geister um die Wahrheit, um die beste Moral. Das gelänge nur durch Lernen aus der Vergangenheit.

Stimmt Kurbjuweits These, Europa würde sich viel zu sehr mit seiner Vergangenheit beschäftigen? Nicht die Bohne. Politiker erinnern an Kollektivwunden oder nationale Siege. Die Beschäftigung mit Fehlentwicklungen, die korrigiert werden müssten, mit illustren Denkern der Vergangenheit, denen wir die Demokratie zu verdanken haben, sucht man vergebens. Europaweite Debatten über solche Grundlagenthemen – undenkbar. Nicht mal die nationalen Talkshows beschäftigen sich mit Problemen, die über den Tellerrand des heiligien Vaterlands hinausblicken.

Sich mit sich selbst beschäftigen gilt bei Edelschreibern als Gift. Wenn Parteien ihre internen Querelen besprechen, heißt es vernichtend: sie betreiben wieder Nabelschau. Flugs schreiben sie die Sätze nieder, um am nächsten Tag auf der Couch eines Therapeuten durch Nabelschau mit sich ins Reine zu kommen.

Zum ersten Mal haben Menschen ihre Geschichte gemacht. Wer hat sie vorher gemacht, wer wird sie danach wieder machen? Wer sind die Subjekte der Geschichte, wenn nicht die normalen Menschen? Es sind die Übernormalen, Heroen, die Genies, die Erwählten, die Brillanten, die Tüchtigen – und die Amoralischen und Skrupellosen. Mit einem Wort: die Männer. Männer machen die Geschichte.

„Männer machen die Geschichte. Wäre die Geschichte eine exakte Wissenschaft, so müßten wir im Stande sein die Zukunft der Staaten zu enthüllen. Das können wir aber nicht, denn überall stößt die Geschichtswissenschaft auf das Räthsel der Persönlichkeit. Personen, Männer sind es, welche die Geschichte machen.“ Schrieb Heinrich von Treitschke, der machtbewundernde Historiker der Bismarckzeit.

Erstaunlich der Umbruch zwischen Anhängern der machina mundi, für die Geschichte keine Rätsel bilden kann – und Intellektuellen des kraftstrotzenden neuen Bismarckreiches, die das Mechanisch-Unveränderliche durch das Abgründig-Unfassliche ersetzen. Dort ein unveränderlicher Mechanismus, der Marx die Gelegenheit bot, Prophet auf naturwissenschaftlicher Basis zu spielen; Männer waren berechenbare Maschinisten einer berechenbaren Geschichte. Hier, in der deutschen Nationalgeschichte, verwandelt sich die Maschine in eine unberechenbare Super-Bombe, die jederzeit explodieren und die Völker ins Verderben stürzen kann.

Bei Mechanisten, die sich für rational halten, ist Moral ausgeschlossen. Bei Irrationalisten, die sich für Herrenmenschen halten, ist sie – lächerlich. Was geschieht, wenn eine mechanistisch-unmoralische Wirtschaft sich paart mit einer irrational-unmoralischen Politik, die sich zudem demokratisch organsiert?

Dann geschieht – die Gegenwart. Hier stehen wir und können nicht anders. So wahr uns Satan helfe.

Bislang haben große Männer die Geschichte gemacht. Frauen (wie Merkel), die sich gelegentlich in den Machtbereich der Männer einschleichen konnten, taten nichts anderes, als männliche Imponiergesten zu imitieren. Männer haben Geschichte nicht verschieden interpretiert, sie haben sie unisono gepeinigt.

Es kömmt aber darauf an, die Männer zum Teufel zu jagen.

 

Fortsetzung folgt.