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Neubeginn LXXVII

Hello, Freunde des Neubeginns LXXVII,

Beschleunigung ist Erstarren in rasender Geschwindigkeit. Dass alles in Bewegung gerät, zeigt sich an der polaren Entwicklung der Gegensätze. Nicht nur Vernunft drängt nach oben, auch Unvernunft oder Torheit meldet sich dreist zu Wort. Das sorgt für Aufdecken des Verdrängten, für Entlarvung falscher Kompromisse und klärt den Frontenverlauf.

Torheit ist nicht Dummheit, kein Mangel an Intelligenz. Sie ist Leugnung der Wahrheit aus verzweifelter Unterlegenheit, welche – in trügerischer Hoffnung, der Verzweiflung zu entgehen – die Wahrheit beseitigen muss.

Woher die Verzweiflung? Aus vergeblichem Widerstand gegen eine Wahrheit, die sich selbst verriet und mit Gewalt verbündete, um ihre Gegner zu unterdrücken, anstatt durch machtfreies Zeigen, Argumentieren und Überzeugen zur Einsicht zu bringen. Wahrheit besitzt nur eine Macht: die Macht des Erkennens und Widerlegens der Unwahrheit.

Nicht Gewalt ist das Schrecklichste unter den Menschen, sondern Gewalt, die im Gewande der Wahrheit auftritt. Die Wahrheit wird euch freimachen: das johanneische Wort hat sich der Wahrheit des autonomen Menschen bemächtigt, um sie in göttliche Allgewalt zu verfälschen. Wahrheit überzeugt durch sich selbst, nicht durch Verheißung ewigen Lohns und Androhung ewiger Strafen. Nicht Macht, Technik und Fortschritt machen uns frei, sondern Erkennen. Erkennen des friedlichen Zusammenlebens von Mensch und Natur.

Wann begann die Wahrheit? Mit dem Wort Hesiods:

„Vieles Erdichtete wissen wir zu sagen, Wirklichem ähnlich;

Aber wir wissen auch, wenn wir es wollen, die Wahrheit zu künden.“

Homer, Hesiods Vorgänger, war noch dem täuschenden Schein verpflichtet. Mit Geschichten wollte er unterhalten, Hesiod aber wollte lehren und

erziehen. Wodurch? Durch Zurückdrängen phantastischer Geschichten und durch Suchen nach dem Rationalen. Das Rationale war Streben nach Wahrheit, Neigung zur Systematik und Lebensgestaltung mit Vernunft. Mythen müssen keine Lügen sein. Sie schildern die Wirklichkeit in Bildern und Geschichten, die aber keinen Widerspruch dulden und unwiderlegbar sind.

Erst im Übergang zum Begriff werden unterschiedliche Standpunkte streit- und dialogfähig. Mythen sind Bilder und Gleichnisse, nur der Begriff wird zur harten Währung des Suchens nach Erkenntnis. Nur im Kampf der Geister kann sich Wahrheit zu erkennen geben.

Die Moderne ist zurückgekehrt zum Erzählen von Geschichten. Kein Intellektueller, der seine Beiträge zur öffentlichen Diskussion nicht als Erzählen von Geschichten beschriebe. Mit Geschichten kann man dem Kampf der Geister entgehen. Geschichten stehen unter dem Bann der Heilsgeschichte, einem Panoptikum maßloser Phantasien.

Die Epoche der scharfen Begriffe, der diskussionsfähigen Tauschgedanken scheint zu Ende zu gehen. Geschichte sind Offenbarungen. Man glaubt sie oder glaubt sie nicht. Die Zentralgeschichten der Gegenwart sind Phantasmagorien einer grenzenlosen Zukunft, die nahtlos ins Jenseitige übergehen.

„Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft, dieser eigentlich besseren Welt.“ Der Kerngedanke des Novalis ist das Zentrum des modernen Fortschrittswahns. Das Jetzt muss als Altes vernichtet, die technische Zukunft als bessere Welt vergöttlicht werden. Die Moderne ist die Restauration der Romantik auf technischer Basis. Wenn die Romantiker Schwärmer waren, die die Natur zu einem Transitbereich ins Jenseits degradierten, ist die Moderne eine Schwärmerei auf algorithmischer Basis.

Wahrheit ist im Kern dichotom: das Wahre schließt Unwahres aus. Wer etwas behauptet, muss das Gegenteil negieren, nach Möglichkeit widerlegen.

Philosophie entstand als Kampf gegen eine unwahre Tradition. In der Moderne hat sich die dichotome Streitkultur des sich aufklärenden Denkens in Nichts verflüchtigt. Sie haben keine Gegner mehr und kreisen nur um sich selbst. Selbst das „wilde Denken“ hat nach Levy Strauß eine dichotome oder binäre Struktur. Das Denken der Hochkultur hat das Niveau des wilden Denkens verloren.

Da die Deutschen sich einbilden, das Unverträgliche und Kontradiktorische längst überwunden und versöhnt zu haben, sind ihnen die Gegner abhanden gekommen. Sie nörgeln und zanken um Nichtigkeiten. Dass Aufklärung eine Gegenaufklärung als Kontrastprogramm hatte, scheint niemandem bekannt. Wer aber das Programm der Aufklärungsfeinde nicht kennt, wie will der Aufklärung verstehen?

Wer kennt Pastor Johann Georg Hamann, eine Gründerfigur der neuzeitlichen Gegenaufklärung, einen Vorläufer der Romantiker? Wer kennt de Maistre, den erbitterten, erzkatholischen Feind aller Voltaires, Rousseaus und Diderots? Carl Schmitt, der NS-Jurist, hat sich mit de Maistre und anderen französischen Gegenaufklärern intensiv beschäftigt, um die europäische Ahnengalerie der nationalsozialistischen Vernunfthasser nicht der Vergessenheit zu überlassen.

Wenn sich in den Tiefen des kollektiven Es etwas in Bewegung setzt, wenn etwas ins Rumoren und Gären kommt, drängen die verleugneten Dichotomien ans Licht. Wenn der Begriff Aufklärung sich zurückmeldet, zieht er unvermeidlich seinen antagonistischen Pol mit nach oben. Gegensätze müssen offenbar werden, damit jeder vom Furor des Selberdenkens gepackt wird.

Die Ironie der Geschichte will es, dass justament Sokrates zu einem der Gründerväter der Gegenaufklärung gekürt wurde:

„Hamann ging vom sokratischen Nichtwissen aus und deutete dies als ein Plädoyer für den Glauben. Eine höhere Einheit könne nicht durch den trennenden Verstand erfasst werden. Er kritisierte die Aufklärung, Goethe nannte ihn einen der hellsten Köpfe seiner Zeit.“

Goethe, Bewunderer eines Gegenaufklärers – ein veritabler Aufklärer? Auch für Kierkegaard, der sich von der Selbstherrlichkeit des Denkens abwandte und zum Urchristentum zurückkehrte, war sokratisches Nichtwissen Anlass zum bedingungslosen Glauben. Dabei übersahen die neuen Glaubenshelden, dass Sokrates religiöse Dinge für belanglos hielt. Ob es Götter gebe oder nicht, war ihm gleichgültig. Sollte er in der Unterwelt auf Götter treffen, werde er sie genauso in ein Streitgespräch verwickeln, wie früher die Menschen auf der Agora. Das Jenseits war für ihn ohne Interesse. Ob man Gott beweisen kann oder nicht: an solchem Unsinn hätte er sich niemals beteiligt. Ob es Götter gibt oder nicht: der Mensch muss sein Leben in Eigenregie gestalten.

Kaum fängt die Gegenwart an, den Begriff Aufklärung wieder zu buchstabieren, beginnen die Attacken der Gegenaufklärung.

„Die Dummheit ist nicht nur technikbezogen, nein, genaugenommen verstehen wir auch die Politik und Wirtschaft nicht. Wir wissen von allem etwas, und von nichts das Richtige. Das Christentum verstand den Menschen als Gegenpol zu einem allmächtigen Gott, den der Mensch grundsätzlich nicht verstehen kann – er musste lernen, demütig zu glauben. Das Entscheidende war, dass kein Mensch Gott begreifen konnte. In Bezug auf die göttliche Weisheit waren alle Menschen gleich, gleich dumm, ob Prophet oder ein einfacher Hirt, ob Genie oder Idiot. Es hat zwar Jahrhunderte gedauert, bis dieser revolutionäre Gedanke zu unserem modernen Verständnis der demokratischen Gleichheit herangereift ist – aber der Ursprung der Égalité der Französischen Revolution liegt hier. In Analogie zur Politik beachten auch die Techniker bewusst die Dummheit des Menschen in den Pflichtenheften ihrer Innovationen. Man weiß, dass außer ein paar Technikfreaks niemand die Manuals liest und komplizierte Geräteinterfaces bedienen kann. Hätte man die Strategie befolgt, der Gesellschaft zuerst das Verständnis der Technik beizubringen und erst danach technikbasierte Geräte bereitzustellen, hätte man auf die technische Zivilisation verzichten müssen.“ (WELT.de)

Emil Kowalski, Schweizer Physiker, Befürworter der Dummheit, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Dummheit, eine Erfolgsgeschichte“. Weil Menschen ihre technischen Creationen nicht verstehen, wird die Geschichte des Fortschritts zur Erfolgsgeschichte. Die Menschen sind nicht nur dumm, sie müssen es sein, damit Fortschritt überhaupt möglich ist. Wollten sie alles begreifen, was sie tun und lassen, wären sie über die Herstellung der Axt nicht hinausgekommen. Eine Elite ersinnt die verstandesübergreifenden Maschinen – die sie selbst nur unzulänglich versteht – und serviert sie den normalen Dummköpfen, welche sie notdürftig und verständnisfrei hantieren lernen.

Das gilt nicht nur für Technisches, sondern auch für die Ideen der Demokratie und Menschenrechte, die keineswegs im alten Griechenland ersonnen wurden, sondern auf dem Boden des christlichen Glaubens: „Die Ignoranz liegt auch am Ursprung der Menschenrechte – so kann man jedenfalls den Übergang zum christlichen Denken am Beginn unserer Zeitrechnung interpretieren. Das antike Weltbild war elitär, hierarchisch, der Gedanke der Gleichheit war der Antike fern. Die von uns Epigonen viel bewunderte Athener Demokratie störte sich nicht an der totalen Entrechtung der Sklaven.“

Man muss wohl Ökonom oder Physiker sein, um die Chuzpe zu besitzen, eine absolute Lüge als Wahrheit zu propagieren. Bücher zu lesen und sich auch nur einigermaßen zu informieren, muss wohl das Selbstwertgefühl strenger Naturwissenschaftler unterhalb der Gürtellinie tangieren. Dabei trifft der Physiker unwissentlich das Wesentliche der paulinischen Aussage, dass alle Weisheit der Welt vor Gott eine Torheit sei. Tertullian glaubte, weil – nicht, obwohl – es absurd und unverständlich war. Vor Gott sind alle Menschen gleich – dumm, blind und taub. Abgesehen von jenen Auserwählten, die von Gott mit der Gnade der Erleuchtung bedacht werden.

Gleichheit, bei den Griechen eine Errungenschaft der aufgeklärten Demokratie, die zur stoischen Menschenrechtslehre führte und sehr wohl alle Menschen umfasste, wird bei Kowalski zur Gleichheit der Dummheit. Ein vernichtenderes Urteil über die Erfolgsgeschichte des Abendlandes hätte nicht geschrieben werden können. Macht und Erfolg bei absoluter Verblödung sind die einzigen Kriterien westlicher Überlegenheit. Von zynischer Ironie des Schreibers kann wohl keine Rede sein. Das würde eine Intelligenz erfordern, die der Schreiber entrüstet von sich weisen müsste.

Wenn ein Chefredakteur eine solche Apotheose der Dummheit veröffentlichen lässt, kann sein Blatt nicht mal als Lügenpresse bezeichnet werden. Denn Lügen setzt eine gewisse Form der Intelligenz voraus. Lügner pflegen zu wissen, was sie verleugnen. Die WELT wird zum frivolen Organ der Gegenaufklärung. Die Quelle aller rechten Hassparolen gegen ratio und humanitas ist die elitäre Mitte der Gesellschaft.

Als Hamann die Vernunft des Menschen vernichtet hatte, empfahl er die Rückkehr zum Glauben. „Dem Erfassen der Wirklichkeit mit dem Verstand stellte er Empfinden und Glauben gegenüber, die den ganzen Menschen unausweichlich verpflichteten. Unser eigenes Dasein und die Existenz aller Dinge außer uns müsse geglaubt und könne auf „keine andere Art ausgemacht“ werden. Dem Glauben komme so eine größere Gewissheit als der Vernunft zu.“

Ökonomen und Naturwissenschaftler gerieren sich als Universalgelehrte der Gegenwart. Eine Kanzlerin muss deshalb die beste sein, weil sie Physikerin ist. Neoliberalismus wie Marxismus erdreisten sich, die Naturgesetze wirtschaftlichen Handelns und somit der gesamten Geschichte gefunden zu haben.

Nicht der Mensch hat sein Geschick in vielen Schritten zu einem Gesamtgebäude zusammengetragen. Er ist nichts als die bewusstseinslose Marionette einer gottgleichen Heilsgeschichte. Alle moralischen und psychischen Kategorien des Menschen sind Abkömmlinge der Naturgeschichte des Menschen. Für die meisten Ökonomen ist der Mensch ein perfekter homo oeconomicus. Wie allerdings die globalen Verwerfungen der Finanzwirtschaft zustande kommen, wenn alles mit rationalen Dingen zugehen soll: diese Kinderfrage stellen sich die Ökonomen nur, wenn sie vor dem Scherbenhaufen ihrer Selbstverblendungen stehen. Aber nur zwei Tage lang. Dann ist der Schock vorüber und die Banken dürfen weiterhin ihr Unheil treiben.

Ein schlauer Weltökonom hatte ein Einsehen mit dem ökonomisch dummen Menschen und erklärte endlich dessen Irrationalität. Doch keine Sorge. Um die Vernunftlosen im Zaum zu halten, sollten sie durch unauffälliges Lenken in die Bahn der Vernunft geleitet werden. Die Dummheit des Pöbels wird durch die Weisheit der Weisen zur Vernunft gezwungen.

Wann ist, nach Auskunft der Ökonomen, ein Mensch rational? Wenn er seine Interessen mit rationaler Effizienz realisiert. Dass Interessen selbst irrational sein können, solche Trivialitäten sind Ökonomen wesensfremd.

Um eine Wiederholung der Finanzkrise zu vermeiden, sollten die Banken zerschlagen werden, damit ihr Konkurs nicht mehr zu Lasten der Völker gehen kann. Too big to fail, das sollte der Vergangenheit angehören. Denkste:

„Die Europäische Kommission hat eine wichtige Reform im Bankensektor beerdigt. Am Dienstag zog sie den Vorschlag für eine seit Jahren diskutierte Richtlinie einer Bankenstrukturreform in einer kurzen Mitteilung zurück. Sie sollte das Too-big-to-fail-Problem lösen.“ (TAZ.de)

Marc Beise frohlockt in der SZ, dass es Ökonomen endlich gelungen sei, die so oft behauptete Religionsabhängigkeit der Wirtschaft mit „statistischen und feldforschenden“ Methoden zu widerlegen. Ergebnis: Max Weber war schief gewickelt, als er den Protestantismus calvinistischer Ausprägung zum Vater des Kapitalismus erklärte. Nicht Religion war der Grund einer effizienteren Wirtschaft, sondern beispielsweise eine bessere Bildung, eine geordnete öffentliche Infrastruktur:

„In einer anderen anglo-amerikanischen Studie wird nachgewiesen, dass der wesentliche, wirtschaftsfördernde Beitrag des Protestantismus in Deutschland die Einführung von städtischen Kirchenordnungen war. Das waren theologische Regeln für die Funktionsweise und Struktur der neuen, protestantischen Kirchen. Es ging um Gottesdienste, religiöse Feierlichkeiten, Eherecht – aber eben auch um die weltliche Sozialordnung: Schulbildung, Armenfürsorge, teilweise sogar das Steuerrecht. Und der Clou: Städte mit einer solchen Kirchenordnung hatten langfristig größeren wirtschaftlichen Erfolg als jene ohne, fasst Cantoni zusammen: „Die Bereitstellung öffentlicher Güter, nicht die Frage der Staatsreligion, war wesentlich für den wirtschaftlichen Erfolg. Protestantische Städte ohne Kirchenordnung waren historisch gesehen nicht anders als katholische Städte.“ (Sueddeutsche.de)

Voraussetzung dieser abenteuerlichen Thesen sind angeblich homogene katholische oder evangelische Provinzen. Als ob in 500 Jahren nicht längst alle dogmatischen Gegensätze zu einem christlichen Einheitsbrei verschwommen wären. Nicht nur mussten alle Frommen durchs Feuer der Aufklärung, durch endlose Auseinandersetzungen und ökumenische Annäherungen verdampften die scharfen Gegensätze zu Phrasen des Klerus, die mit der Realität der Gläubigen nichts mehr zu tun haben. Es gab katholische Theologen, die lutherischer dachten als die Lutheraner. Im Dritten Reich waren beide Kirchen von einem fast uniformen Fanatismus für den gottgesandten Führer erfüllt. Die meisten Christen kennen die Dogmen ihres Glaubens nicht und vermuten humanistische Prinzipien in der Schrift.

Vor allem aber: auch Bildung und sonstige „weltliche“ Ordnungen sind in christlichen Staaten Früchte des Glaubens. Kein Winkel der Welt, der nicht vom Sauerteig der Erlöser durchzogen wäre.

„Und wiederum sprach er: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter einen halben Zentner Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war.“

Was aber ist der Clou dieser Absonderlichkeiten, die sich wissenschaftlich gebärden? Man könnte von einer ökonomischen Variante des Creationismus sprechen. Wenn Wirtschaft nichts mit Religionen zu tun hat, sollte es endlich zur Abrüstung zwischen ihnen kommen. Liebt euch, religiöse Freunde aller Couleur: it‘s economy, stupid, nicht Differenzen zwischen Jesu und Mohammed.

„Summa summarum ist das eine wunderbare Erkenntnis in dieser Jahreszeit, in der ein protestantischer und ein katholischer Feiertag unmittelbar aufeinanderfolgen und Deutschland sich obendrein um die Integration von häufig andersgläubigen Migranten bemüht: dass es nämlich für Wachstum und Wohlstand und Frieden nicht um die „richtige“ Religion geht. Sondern um die richtigen Rahmenbedingungen, um Bildung und Sozialordnung.“

Rahmenbedingungen? Sind keine Ursachen. Beise drückt sich um die Frage, welche Gründe für die verschiedenen Wirtschaftserfolge verantwortlich sind. Nach Hayek ist es der gottgleiche Markt, der den Menschen dominiert. Nach Marx die gottgleichen materiellen Verhältnisse oder die Naturgesetze. Vivat, die Religionen sind unschuldig. Mit den Verhältnissen auf Erden haben sie nichts zu tun. Beise und Kollegen retten die Religionen durch den Nachweis ihrer weltlichen Belanglosigkeit. Da werden sich die Popen aller Glaubensrichtungen freuen, dass sie zur Gestaltung der Welt nichts beitragen. Wer nichts bewirkt, kann nicht schuldig sein.

Wie die prästabilierte Harmonie zwischen Ökonomie und Klerus noch immer funktioniert, zeigte eine Diskussion in ARD-alpha. Zuerst referierte Clemens Fuest, coolster aller neoliberalen Glaubensfürsten, über den verderblichen Populismus, der den Menschen vorflunkere, es gebe Lösungen für die heiligmäßige Überkomplexität der Wirtschaft. Fuest hätte auch den Begründer des Christentums als gefährlichen Populisten attackieren müssen, der für alle Probleme dieser Welt die einfache Lösung fand:

„Werfet alle Sorgen auf ihn, denn er sorgt für euch. Und alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr glaubet, werdet ihr’s empfangen. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“

Fuest hätte allen Grund gehabt, den dogmatischen Erlösungspopulismus der Kirchen anzugreifen.

Nach ihm betrat Kardinal Marx das Podest und hätte allen Grund gehabt, die Gier der Reichen zu geißeln – wenn er die Herz-Jesu-Marxisten des linken CDU-Flügels hätte unterstützen wollen. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr … Genauso biblisch allerdings hätte er den Reichtum der Reichen als verdienten Lohn für wahren Glauben auszeichnen können. Was tat Marx? Er hüllte sich in vage Weihrauchschwaden, sagte weder Ja noch Nein.

Weder fiel in den Redebeiträgen der Begriff Neoliberalismus noch der Begriff Gerechtigkeit, geschweige die bekannten Zitate, die die deutsche Demutskirche von der amerikanischen Triumphkirche trennen. Wer aber nicht Nein sagt zum Kapitalismus, hat Ja zu ihm gesagt.

Das Publikum erlebte die alte Herzenskoalition zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Wenn es den Klerus nicht gäbe, der jede Obrigkeit und Wirtschaftsform mit dem Segen des Himmels absegnete, hätte sich kein menschenfeindliches Regime in der Geschichte je halten können. Für Gott sind alle Menschen unfähig, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Nur Er ist der einzige Populist, der sagen darf: nicht durch eure Werke werdet ihr selig, sondern durch bedingungslosen Glauben an Mich.

Es tut sich was in der Welt. Lange verschüttete dichotome Begriffe strudeln an Land. Gegensätze werden radikaler formuliert. Die Nachkriegszeit als Erschütterungs-, Reue- und Wiedergutmachungsphase der Völker ist vorüber. Die Vorbild-Gesten derer, die alles besser machen wollten, werden ausgemustert.

Die Welt beginnt ihr wahres Gesicht zu zeigen. Weiter, als sie sich zeigen, sind die Völker nicht. Und dennoch: die schonungslose Wahrnehmung dessen, was ist, ist die unentbehrliche Voraussetzung für alle Bemühungen, über das Ist hinauszukommen.

 

Fortsetzung folgt.