Kategorien
Tagesmail

Neubeginn LXXIX

Hello, Freunde des Neubeginns LXXIX,

gibt es einen Terrorismus des Staates gegen seine Untertanen?

„Es war wohl ein glücklicher Zufall, dass in dieser Woche noch Herbstferien sind. Deshalb befanden sich keine Schüler im Foyer der Spandauer Carlo-Schmid-Sekundarschule, als dort großflächig die Zwischendecke herabstürzte.“ (Berliner-Zeitung.de)

Reines Glück, reiner Zufall, dass Kinder in einer bankrottierenden Schule nicht zu Schaden kamen. Es hätte Verletzte und Tote geben können.

Terroristische Einzeltäter werden als besonders verrucht geschildert, indem man ihnen einen „absichtlichen Tötungswillen“ unterstellt. Der staatliche Terrorangriff gegen Spandauer Kinder wird nur als bedauerlicher Unfall in einem Nebenbericht erwähnt. Unkommentiert.

Ein korrekt böses, bewusst gewolltes Attentat auf Menschen wird von den Medien als Leckerbissen zelebriert. Schlechte Nachrichten sind gute, böse sind die allerbesten:

Was wir über den Ablauf der Ereignisse wissen, was wir nicht wissen. Herkunft, Glaube und Motive des Täters. Die ihn kannten, schildern ihn als unauffälligen, ja netten Zeitgenossen. Mitgefühlsreaktionen aus aller Welt. Wir sind Charley Hebdo. Eine Stadt im Schock. Eine bewusst geplante Tat, die sich gegen unser aller freiheitlichen Lebensstil richtete.

Der biografische Hintergrund des Täters wird in allen Einzelheiten ermittelt: aus welchem Land? welcher Glaube? erfolglos? erfolgreich? Religiöse Motive? Motive eines rachsüchtigen Versagers? Welches Geschlecht? Nein, das Geschlecht steht geradezu a priori fest: Täterinnen sind verschwindende Ausnahmen. Nur eins ist den Medien

unwichtig: die psychische Prägung des Bösen. Teufel dürfen keine Seele haben.

Nach vielen Aufreißerartikeln wird Fazit gezogen. Wer war der Täter? Was waren die Ursachen? Wer ist der Schuldige? Wer hat Verantwortung zu übernehmen?

Die Kommentare ähneln sich wie ein Ei dem anderen. Sie seien neidisch auf unseren Wohlstand, diese Loser und Modernitätsverlierer, diese fanatischen Muslime, diese Abgehängten des Fortschritts. Nein, sie werden es nicht schaffen, unseren Lebensstil zu zerstören. Wir schauen nach vorn. Jetzt erst recht. Fehlt noch eins: Attentäter müssen immer feige sein. Sie selbst betrachten sich als Heroen des Glaubens, die eine gottlose Gesellschaft furchtlos mit dem Zorn ihres Gottes bestraft.

Nichts dergleichen bei unabsichtlich scheinenden „Unfällen“ und „Zufällen“. Keine Ursache, keine Täter, keine Schuld. Keine Verantwortung für niemanden. Glück gehabt, Pech gehabt, das Leben geht weiter. Damit muss man immer rechnen. Schicksalsschläge sind nicht zu vermeiden. Schluss mit Schuldzuweisungen. Alles unübersichtlich, Ursachen und Verantwortlichkeiten gibt es nicht in der Welt des Überkomplexen.

Also gibt es keine Täter, die die internationalen Finanzkrisen, die atomaren Bedrohungen, die Hungerkatastrophen in der Welt, die globale Klimaverschärfung, den drohenden Untergang der Menschheit zu verantworten hätten.

Reiner Zufall, dass bewusst böse Taten im Bereich des „kleinen Mannes auf der Straße“, des Fremden und Unbekannten geschehen. Dass Zufälle und Unglücke im Bereich staatlicher, ökonomischer oder wissenschaftlicher Eliten stattfinden.

Die Großen lässt man laufen. Sie gehorchen den Gesetzen einer unvermeidlichen Evolution, eines unergründlichen Marktes, einer unbeeinflussbaren, automatischen Geschichte. Mögen sie auch Subjekte schrecklicher Taten sein, sind sie dennoch unschuldige Instrumente allerhöchster Gewalten. Tragik, schuldlos schuldig. Schlafwandler. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Sie gehorchen nur übermenschlichen Gesetzen – der Natur, des Schicksals oder eines allmächtigen Gottes.

So ergibt sich das groteske Fazit, dass der kleine Mann ein freier Herr ist über alle Dinge, zwischen guten und bösen Taten wählen kann. Der große Mann aber ein dienstbarer Knecht Gottes und seiner Gesetze in Natur und Geschichte.

„Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts bald links, vom Steine hier vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich kaum, woher er kam.“ (Egmont)

Nicht mal dies würden die modernen Eliten einräumen, dass sie vom Steine hier vom Sturze da die Räder hätten weglenken können – vorausgesetzt, die Chose ist schief gelaufen. Ist sie gut verlaufen, war sie ein triumphaler Erfolg. Sie sind die Herren des Universums, die Beherrscher aller Naturgesetze, die Genies des irdischen Geschicks. Der Erfolg hat nicht viele, sondern wenige, exquisite Väter; der Misserfolg ist auf dem Mist der Vielzuvielen gewachsen.

Der Streit um den freien Willen ist uralt. Dennoch tun moderne Gehirnforscher, als hätten sie ihn gerade erfunden. Gemäß ihrer eigenen Theorie können sie nichts für ihre Fehlleistung, sind sie doch selbst von ihren Synapsen ferngesteuert. Ihr eigenes Gehirn hat sie gezwungen, die Theorie vom unfreien Willen mit wissenschaftlichem Pomp in die Welt zu setzen.

Streng genommen müssten sie sofort verhaftet und vom Bundesgeneralanwalt angeklagt werden. Wegen eines verheerenden Anschlags gegen die Grundrechtsartikel des Grundgesetzes, wonach die Würde des Demokraten in seiner Selbstbestimmung besteht. In der Freiheit, sein Tun nach eigenem Gutdünken zu bestimmen. Was soll das ganze BGB, der voluminöse Apparat der Judikative, wenn der Mensch ein Knecht unbekannter Mächte und für seine Taten nicht verantwortlich wäre? Wären die Neurologen konsequent, müssten sie für Abschaffung des gesamten Rechtssystems und für Umwandlung aller Gefängnisse in – psychiatrische Verwahranstalten plädieren.

Tun sie aber nicht. Ist ihr Gehirn etwa nicht ausreichend logisch programmiert? Die brennende Frage der Gegenwart, ob Maschinen die Menschen eines Tages übertreffen könnten, wäre absurd. Wären Menschen doch selbst nichts anderes als Maschinen, erfunden und programmiert von unbekannten Mächten.

Wer sind die gefährlichsten Feinde der Demokratien? Diejenigen, die ihre Grundannahmen negieren. Unter ihnen die Gehirnwissenschaftler.

Eine Grundannahme, ohne welche jede Demokratie ein Unfug wäre, ist die Freiheit des Citoyens, gute oder schlechte Taten zu vollbringen. Ohne Selbstbestimmung kann es keine Moral geben, ohne Moral keine Achtung vor dem Gesetz. Verglichen mit ihrer demokratie-gefährdenden Generalattacke wären individuelle Terrorismusattacken winzige Mückenstiche.

Hätten die Leugner des selbstbestimmten Willens Recht, wäre die Vernichtung der Demokratien ein Fortschritt. Wären diese doch nichts anderes als gigantische Illusionen. Hätten die Leugner nicht Recht, müsste man sie in Handschellen abführen.

Heimtückisch ist ein seltsames Wörtchen aus dem Bereich des Rechts, das die Bösartigkeit diverser Übeltäter bezeichnen soll. Natürlich aus dem Bereich der kleinen Leute. Menschheitsverbrecher würde niemand heimtückisch nennen. Hitler, Stalin & Co waren so böse, dass niemand es wagte, sie mit dem spießigen Wörtchen „heimtückisch“ zu deklassieren. Genie und Wahnsinn, Genie und das Böse: die Gipfelpunkte des Verruchten müssen das Triviale haushoch übertreffen und ans Göttliche reichen, welches bekanntlich aus Gutem und Bösem besteht.

In § 211 StGB wird Heimtücke definiert:

„Heimtücke ist das bewußte Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung (nach h.L. auch besonderer Vertrauensbruch erforderlich).

Arglos ist, wer sich zur Tatzeit keines tätlichen Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben versieht.

Wehrlos ist, wer infolge seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außerstande oder in seiner Verteidigung stark eingeschränkt ist.

Die Wehrlosigkeit muss also gerade auf der Arglosigkeit beruhen.“

Der Fall Zschäpe zeigt, wie schwierig es ist, einen Angeklagten psychisch zu kennzeichnen. Gutachter müssen geladen werden, deren „langjährige Erfahrungen“ den Richtern die Urteilsbegründung erleichtern soll. Nur dumm, dass die Gutachter oft zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen. Wissenschaftstheoretisch ein Sündenfall. Gelten doch im Bereich der Naturwissenschaften nur jene Erkenntnisse als objektiv und gesichert, die beliebig überprüfbar sind und stets zu gleichen Resultaten führen.

Ergo haben die Naturwissenschaftler den Geisteswissenschaften das Recht abgesprochen, objektive Wissenschaften zu sein, weil sie keine Experimente mit nachprüfbaren Ergebnissen liefern. Ihnen bliebe nur das Feld subjektiver Emotionen und schwankender Eindrücke.

Ein Freiburger Psychiater, der der Angeklagten Zschäpe mit wohlwollenden Gefühlen begegnete und sie als Opfer ihrer schrecklichen Genese beschrieb, wurde von allen Fachleuten und Medien in der Luft zerrissen. Anerkannt hingegen wurden jene Experten, die sich für objektiv hielten. Hans-Ludwig Kroeber ist einer der anerkanntesten Vertreter dieser objektiven Seelenkenner, der sich in einem SPIEGEL-Interview als unbeeinflussbaren übersubjektiven Fachmann bezeichnete:

„SPIEGEL: Ist der Gutachter der Freund oder der Feind des Menschen, den er beurteilen soll?

Kröber: Er ist Arzt. Er stellt Diagnosen und Kriminalprognosen.

SPIEGEL: Sie sehen sich als unabhängig – sind Sie auch unbeeinflusst vom Zeitgeist?

Kröber: Gerade die Psychiatrie ist davon nicht frei. Als ich mich 1983 bei dem berühmten Professor Wilfried Rasch um eine Assistentenstelle in der Forensischen Psychiatrie der Freien Universität Berlin bewarb, fragte der mich als Erstes: Wie oft sind Sie denn der Justiz schon in den Arm gefallen? Vielen ging es damals darum, die Angeklagten vor dem Zugriff der Justiz zu retten. Resozialisierung war der Zentralbegriff. Das ist passé. Seit 20 Jahren geht der Mainstream des Fachs in Richtung Sicherheit vor dem Täter.“ (SPIEGEL.de)

Wissenschaftliches Erkennen ist kein Wünsch-dir-was. Es dient keinem anderen Zweck als dem – der Erkenntnis. Ob die Erkenntnis Gutes oder Schlechtes für die Menschen bedeutet, ist ihr gleichgültig. Der Mensch muss sich nach ihr richten, nicht sie nach den Bedürfnissen des Menschen.

Kröber will objektiver Arzt sein, der es für richtig hält, dem subjektiven Mainstream zu gehorchen. Der Täter muss so dargestellt werden, dass die Gesellschaft maximal vor ihm sicher sein kann. Mit anderen Worten: er muss als so gefährlich dargestellt werden, dass er für lange Zeit hinter Gefängnismauern verschwindet. Auf keinen Fall darf Resozialisierung angestrebt werden, der Angeklagte zum Opfer seiner Verhältnisse verharmlost werden. Kröber handelt parteiisch im Namen der Rache- und Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft. Ausdrücklich gegen das Ziel einer früheren Justizreform, die sozialtherapeutische Anstalten einrichten ließ, um den Tätern eine zweite Chance zu geben.

„Kröber: Wer sich als Richter oder Gutachter für fortschrittlich hielt, musste zum Ergebnis kommen, der Angeklagte sei schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig – auch wenn nichts Krankheitswertiges vorlag. Dafür zog man oft die traurigen Lebensumstände heran. Für die Betroffenen bedeutet das unbefristete Entmündigung, deklariert als Therapie. Ich habe das nie als fortschrittlich betrachtet. Wer psychisch gesund ist, hat eine Strafe verdient, die seiner Schuld entspricht.“

Interessant, dass Therapie für einen Seelenkenner eine unbefristete Entmündigung sein soll. Jeder Psychotherapeut wäre ein systematischer Entmündiger seiner Patienten.

Was ist psychisch gesund? Kröber setzt voraus, was er beweisen sollte: ist der Angeklagte psychisch gesund oder nicht?

Was ist psychisch gesund? Massenneurose schützt vor Einzelneurose. Im Dritten Reich empfanden sich jene als gesund und normal, die einem Massenverbrecher folgten. Fast jeder Widerständler musste sich mit der Frage quälen: sollte ich alleine Recht haben, wo die Majorität der Gesellschaft es ganz anders sieht?

Luther wurde als Vorbild der „Zivilcourage“ (so Bedford-Strohm) gerühmt, weil er dem Kaiser und seinem Hofstaat mit der Formel widerstand: Hier steh ich, ich kann nicht anders. Wäre Kröber in Kaisers Diensten gestanden, hätte er den rasenden, die Einheit des Reiches gefährdenden Mönch als heimtückischen Amokläufer einstufen müssen. Wäre Kröber in Führers Diensten gestanden, hätte er die Geschwister Scholl als Volksverbrecher dem Schafott übergeben müssen. Besaß Luther zivile Courage oder war er ein von Gott getriebener religiöser Fanatiker? Hätten die Amerikaner Bin Laden lebend gefangen und vor einen öffentlichen Untersuchungsausschuss geschleppt, hätte er sich exakt wie Luther verhalten.

Ein Geisteswissenschaftler, der seine Erkenntnisse nicht nutzt, um den Menschen zu dienen, ist nicht objektiv, sondern ein Menschenfeind. Was keinesfalls bedeutet, er dürfte seine Erkenntnisse absichtlich so einrichten, dass sie dem Anderen in falscher Weise nützen. Falsch wäre es, einem Angeklagten hinterlistig die Freiheit zu verschaffen, damit er ungestört weiteren Schaden anrichten könnte. Einsichten haben den Zweck, die Täter über sich selbst aufzuklären, dass sie verstehen, weshalb sie fehl gingen – um nie wieder fehl zu gehen.

Auch Geisteswissenschaftler haben den Ehrgeiz, zu objektiven Erkenntnissen zu gelangen. Da ihnen mathematisch-experimentelle Methoden fehlen, bleibt ihnen nur die Darlegung ihrer Erkenntnisse unter dem Vorbehalt des Subjektiven, der Appell an das Einfühlungsvermögen der Gesprächspartner und die Methode logischer und psychologischer Folgerichtigkeit. Das klingt nicht sonderlich eindrucksvoll und ist doch das gleiche Verständigungsmittel wie in jedem politischen Streitgespräch. Wer Würde und Mündigkeit des Menschen hasst, wird durch nichts dazu gebracht werden, die Grundwerte der Demokratie anzuerkennen.

Wann begann der Rechtsruck der Gesellschaft? Auf jeden Fall da, als man das Ziel der Bestrafung eines Täters nicht mehr als Chance zur Resozialisierung definierte. Der Täter wurde zum Monstrum dämonisiert, das keine Chance haben sollte, sich nachträglich zu verstehen und zu verändern. Anstatt die Täter ebenfalls als Opfer einer inhumanen Gesellschaft darzustellen, die andere zu ihren Opfern machen mussten, wurden sie individuell verteufelt, damit die Gesellschaft unschuldig bleibe. Die Gesellschaft wollte Rache, um ihre verborgenen kriminellen Elemente nicht wahrzunehmen.

Eine Gesellschaft, die human werden will, muss sich im Spiegel ihrer Kranken, Schwachen und Verbrecher betrachten. Nicht, dass Eliten frei wären von Defekten. Im Gegenteil. Allerdings besitzen sie die Fähigkeit, ihre Defekte hinter Maskeraden des Legitimen zu verbergen. Da sie Macht haben, können sie ihre Defekte als Gesetze der Natur und Geschichte präsentieren.

In der Definition der Heimtücke fehlt gänzlich die Aufklärung des Tatmotivs. Nur die Mittel werden erwähnt, mit denen ein Täter sein Motiv in die Tat umsetzen will. Es ist wie mit der Definition des rationalen wirtschaftlichen Tuns als effiziente Erfüllung egoistischer Interessen. Interessen aber können in allen Nuancen schillern. Sie können anderen und einem selbst schaden. Das kann bis zur panischen Selbstauslöschung führen.

Ein Auftragskiller mag noch so rational zu Werke gehen. Warum er andere Menschen liquidiert, darüber weiß er entweder nichts zu sagen oder er rechtfertigt sich mit einer Ideologie, die böses Handeln zur gerechten Tat stilisieren muss. Jeder, der sich als Opfer ungerechter Verhältnisse betrachtet, wird eine Weltanschauung ersinnen, die ihm das Recht gibt, seine Rachephantasien als Gerechtigkeit zu preisen.

Wir stehen am psychischen Ursprung des Totalitären. Platon wollte seinen Landsleuten eine gerechte Utopie bringen. Da sie sich seinen Plänen verweigerten, musste er seine Beglückungsideen in faschistische Beglückungszwänge verwandeln. Da sie ihn nicht als Führer ins Paradies anerkennen wollten, musste er die Weisen zu politischen Zwangsbeglückern machen.

Der Heimtücke-Paragraph gibt keine Auskunft über die Ursache des Bösen. Er beschreibt nur die Instrumente einer bösen Absicht. Woher aber kommt die Absicht? Entweder gibt es psychische Gründe, die man verstehen und nachvollziehen kann (Ich bin ein Mensch, nichts Unmenschliches ist mir fremd), dann ist das Böse nicht abgrundtief böse. Denn jeder, der sein Selbst erforscht hat, weiß um die hasserfüllten Motive seiner Seele. Oder es ist nicht verstehbar, dann ist es erst recht motivlos böse. Motivlos böse: ist die Definition des theologisch Bösen.

Gott ist die allmächtige Ursache der Welt und aller Menschen. Doch an der Misere seiner Geschöpfe will er unschuldig sein. Was er tat, war sehr gut. Erst die Koalition aus einer ungehorsamen Frau und dem Widersacher brachte das Böse in die Welt.

Ursprünglich war der biblische Gott nicht allmächtig. Unter nationalen Göttern war er einer unter vielen. Erst nach und nach gelang ihm die Karriere zum einzigen, allwissenden, allpräsenten und allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden.

Am Anfang galt für alle Taten der Menschen: Deus lo volt. Ob Gutes oder Böses, Gott ist Urheber von allem auf Erden wie im Himmel. Als aber das Denken zunahm und Gottes Allmachtsansprüche kritisch unter die Lupe nahm, begann die Aufspaltung in das Gute, das von Gott kam und das Böse, das der Mensch verantworten musste. Ein Gott, der gütig und gerecht sein wollte, musste von aller Schuld freigesprochen werden. An diesem Punkt entstand die Lehre vom freien Willen, die keine andere Funktion hatte als Gott zu entlasten und den Menschen mit dem grundlosen Willen zur Bosheit zu belasten.

Der Heimtücke-Paragraph kennt keine Ableitung des Bösen aus der Biografie des Menschen, der seine psychischen Mängel zum Anlass nähme, um seine Benachteiligung zu rächen.

Es gibt kein unergründliches Böses. Das Böse ist der Irrweg schwer geschädigter Menschen, die mit Gewalt und Verbrechen ihre Defizite an Anerkanntwerden kompensieren müssen.

Im deutschen Recht ist die Schuld des Menschen identisch mit dem theologischen Bösen. Die Rachebedürfnisse des rechten Rands der Gesellschaft sind Rachebedürfnisse von Schichten, die materiell und psychisch zu kurz kommen. Was nicht bedeutet, die Eliten seien nicht zu kurz gekommen und würden im Glück schwimmen. Auch die Mächtigen sind Benachteiligte, die es verstehen, ihre Rache an der Welt zu befriedigen, indem sie sich mit dem Schein des Glücks umgeben, um den Abgehängten den Status der Loser aufzuzwingen. Ihr Privileg besteht darin, sich im Kontrast der Unglücklichen als Tüchtige zu preisen.

Immer mehr setzt der Staat auf Unterstützung der Leistungsstarken, um mit wirtschaftlichen Erfolgen sein Ansehen in der Welt zu stärken. Das Schicksal von Frauen und Kindern wird ihm immer gleichgültiger. Das ist ein allgemeiner Trend in der Innenpolitik der Völker.

Kein Zufall, dass die Zahl hungernder Kinder wieder zunahm, als die Zahl gleichberechtigter Frauen stagnierte oder abnahm. Die Machos haben sich dem Weiber- und Kindergedöns erfolgreich entzogen und befestigen ihre Macht mit vielen Trumps, Putins, Dutertes, Kim Jong Uns, Xi Jinpings, Maduros, Erdogans und anderen Stellvertretern Gottes.

Wie lange schon wird gefordert, dass der Staat die maroden Schulen reparieren muss? Das Vorbild der passiven Kanzlerin setzt sich immer mehr durch. Wer kein öffentliches Erregungspotential zustande bringt, kommt im Kanzleramt nicht an. Eine bleierne Lähmung liegt über dem Land.

Wer sich humane Ziele verbietet, muss die Zukunft den Allmachtsphantasien der Techniker überlassen. Das Leben der Machtlosen und Abgehängten wird ausgeblendet. Die deutschen Paradiesbewohner wollen sich ihre Wohlgefühle nicht rauben lassen. Wer hat, dem wird gegeben; wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat: das ist der Kern abendländisch-christlicher Politik.

Wer ist schuld an den einstürzenden Altbauten der Schulen? Am desolaten Leben auf dem Land, am Elend zerrütteter Kleinfamilien, an der grassierenden Bindungsunfähigkeit der Männer, an der Zunahme depressiver Mütter, die an der   Verträglichkeit von Beruf und Familie scheitern und die Schuld allein bei sich suchen?

Während die unteren Klassen immer schuldiger werden, verschwinden die Kategorien Ursachen und Verantwortlichkeit aus den Etagen der Oberen. Ist bei ihnen doch alles viel zu komplex, als dass sie die Urheber der Weltübel sein könnten.

Eliten haben die Rolle Gottes übernommen. Alles Gute geht auf ihr Konto. Alles Böse ist Werk des Zufalls oder des gottverlassenen Pöbels. Wie sollen die Übel der Welt behoben werden, wenn deren Ursachen abhanden kommen?

Nicht vereinzelte Nobodys gefährden die Stabilität der Nationen. Es ist der elitäre Terrorismus teilnahmsloser Gleichgültigkeit, der die Gesellschaften zu erschüttern beginnt.

 

Fortsetzung folgt.