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Neubeginn LXIV

Hello, Freunde des Neubeginns LXIV,

wo Über-Ich war, soll Trump werden.

1) Deutschland, heteronom, denkt: wenn unser großes Vorbild jenseits des Teiches sich einen Trump erlaubt, können wir das auch. Nun erleben wir das lustige und spannende Wettrennen: Wer wird der erste deutsche Trump? Wer kommt ihm schon am nächsten?

Es sollte einer sein, der von Unten kommt, den Aufstieg in die Edeletagen durch Rütteln an den Gitterstäben geschafft, sich ein faunisches Gesicht zugelegt (Kurbjuweit) und sich soviel Einfluss und Geld angeeignet hat, dass er die faunischen Triebregungen der „Menschen auf der Straße“ und in den Zentren der Macht wie ein Virtuose bedienen kann.

Er begann als Politiker, der das Glück der kleinen Leute befördern wollte – und endet als Bonvivant seines eigenen Schlampampen-Glücks, der von moralischer Bedenkenträgerei Zukurzgekommener nichts wissen will. Nun lässt er die Sau raus, pardon (Sau und Fresse sagt man nicht): nun lässt er das Sus scrofa domesticus heraus, dass die Schwarte kracht. Sein vorbildlicher Aufstieg war ein Abstieg in die Verkommenheit – sagen seine neidischen Anhänger von früher. Im Alter wird er domestizierter Wasserträger eines lupenreinen Zaren und pfeift auf alle, die ihm den moralisierenden Finger zeigen:

„Der ist völlig deppert, der Kerl“, sagt ein Parteikollege hinter vorgehaltener Hand, der ihn als Wahlkampfunterstützer durchaus nicht abgelehnt hatte.

All die Granden und Alten aus der Zunft sozialistischer Menschheitsbeglücker, beweisen ihren ehemaligen Wählern, die einst an sie geglaubt haben: Politik haben wir nicht für euch, sondern für uns gemacht. Im Schulterschluss mit Blair entdeckten sie als erste Sozis die mannigfachen Vorteile des Neoliberalismus. Bevor ihre biedere Basis sie wegen Fremdgehens verabscheuen konnte, verabscheuten sie

 vorbeugend ihre Basis, all diese Nichtaufsteiger und Karriereverweigerer ihrer Hinterwäldler-Partei.

Eine politische Karriere ist noch immer der verlässlichste Fahrstuhl zu Weib, Brioni und Vorstandssitz. Als ehemaliger Kanzler hat man ein verlässliches finanzielles Polster im Rücken und erhält so nebenbei 561 000 Euro „in diesem Jahr allein für die Bezahlung der Mitarbeiter im Berliner Büro.“ Wer gedacht hat, das seien ausreichende Beträge, um pensionierte Staatsführer vor unkeuschen Angeboten aus der Wirtschaft zu schützen, der hat sich geirrt.

Was fehlt ihm noch, um in die Liga Trump aufzusteigen? A) Eine lumpige Milliarde, um einen Wolkenkratzer in Hannover zu errichten. B) Ein lukratives Angebot, um im Dschungelcamp teilzunehmen und anschließend Juror in der Sendung zu werden: wie mache ich aus mir einen Star, ohne in die moralische Falle zu tappen?  

2) Wo Über-Ich war, soll Trump werden – aber bitte schön in deutsch-demütiger Über-Ich-Pose. Schließlich will die ehrgeizige Zöglingin das degenerierte Vorbild in den Schatten stellen.

„Ich kann nicht erkennen, was wir anders hätten machen müssen. Wir haben unsere strategischen Ziele erreicht.“

Dann übernehm ich halt die Verantwortung. Dann bin ich halt Feministin. Dann hab ich halt recht. Ich hab halt die Politik gemacht, die ich gemacht habe. Wenn Sie so wollen, wenn Sie so wollen, wenn Sie so wollen, da capo al fine.

Trumpismus bedeutet: Worte haben keine Bedeutung mehr. Oft bezeichnen sie das Gegenteil dessen, was sie sagen sollen. Verantwortung übernehmen bleibt ohne Konsequenzen, Denkzettel per Wahlen bleiben ohne Konsequenzen, inhumane Folgen samaritanischer Wendehals-Manöver bleiben – richtig – ohne Konsequenzen. Demokratie ist die Fassade, hinter der gewiefte Experten Politik betreiben, zu der das Volk unfähig ist.

Trumpismus 1) ist das enthemmte Original, Trumpismus 2) die hochmoralische Talarversion von Trumpismus 1). Amerika, geh voran, du hast die größeren Cowboystiefel an. Wir folgen in geziemendem Abstand und in demütiger Gebärde. Irgendwie muss man sich ja unterscheiden. Ohnehin haben wir die Hardcore-version von Trumpismus 1) schon längst hinter uns gebracht, das müssen die Amis uns erst mal nachmachen. Also lasst sie noch ein bisschen üben, bis wir in die entscheidende Zielgerade einbiegen.

Nur so zum Mitschreiben:

a) Ursprung der Demokratie war der Kampf der Moral oder des Naturrechts der Schwachen gegen Amoral oder das Naturrecht der Starken. Moral sollte die Gleichwertigkeit aller Menschen zur Grundlage des Gemeinwesens machen, alle Klassen und Hierarchien abbauen und den Willen der Polis dem Volk übergeben. Nicht die Starken sollten das Sagen haben, die nur den eigenen Vorteil und den ihrer Herrenklasse vefolgen, sondern jeder mündige Bürger, der seine Interessen mit denen der anderen zum Ausgleich bringen und das freudige Leben in der Gemeinschaft als Zweck aller Politik betrachten kann.

b) Als die politische Selbstbestimmung im selben Maße verfiel, wie die wirtschaftliche Macht in unbekannte Höhen wuchs, als die Mischung aus Herrschsucht und Kosmopolitismus zur hellenischen Macht über viele Völker und schließlich zum gigantischsten Kapitalismus der Geschichte in Rom wurde, die entrechteten Massen keinerlei Chancen sahen, ihrem Status des Lumpenproletariats anders zu entfliehen als durch Annahme einer Religion, die die wüsten Weltverhältnisse durch einen finalen Geschichtsakt zu beenden verhieß, an welchem die Despoten in den Pfuhl verdammt und die Leidenden ins Paradies versetzt würden – begann der Siegeszug des Christentums. Die arbeits- und erwerbslosen Massen mussten buchstäblich durchgefüttert (Brot), ihr jämmerliches und ereignisloses Dasein durch Inszenierungen von Kampf, Sieg und Niederlage (Spielen) mit künstlichen Sensationen ausgefüllt werden.

c) Hatte Nietzsche Recht, als er das Christentum als Umwertung aller heidnischen Werte bezeichnete? Nein. Das Christentum war ein ins Grenzenlose und Jenseitige ausgedehntes Naturrecht der Starken. Wettbewerb, Sieg und Niederlage, ins Absolute transformiert, waren auch hier die Prinzipien des richtigen Lebens. In einem Unterpunkt allerdings hatte er Recht: die Mittel zum Erfolg gaben sich als Widerspruch zur heidnischen Moral der Ehrsucht und prahlerischen Stärke. Die Letzten sollten die Ersten sein. Die Schwachen sollten die Starken in Gott sein. Der ungeheure Erfolg des Christentums beruhte auf der Verheißung, nicht nur die böse heidnische Welt zu zertrümmern, sondern am Ende der Tage zum Gesamtsieger der Geschichte zu werden.

d) War die konstantinische Ernennung der neuen Sekte zur Staatsreligion der Sündenfall der Kirche, ab der sie ihre ursprünglich hehren Ideale verriet? Nein. Da ihre moralischen Endzwecke dieselben waren wie die der Heiden – ja, durch Ausdehnung ins Ewige noch bombastischer –, ihre Methoden jedoch widersprüchlich schienen, musste die Kirche nur die weltliche Gelegenheit erhalten, um ihr wahres Gesicht zu entlarven. Die unendlichen Bettlermassen des Mittelalters, die von den Kirchenfürsten als mobile Privatarmeen benutzt wurden, waren Nachfolger des römischen Lumpenproletariats. Wie in Rom eine winzige Clique die damalige Welt besaß, besaß der winzige römische Klerus fast den gesamten Grund und Boden von Europa.

e) Warum erklären die Modernen den Kapitalismus zur Erfindung der Moderne – unfähig, ihn in seiner schlimmsten Version im Altertum zu entdecken? Weil sie technische und ökonomische Methoden als Kern des Kapitalismus betrachten. Den Kapitalismus aber erkennt man vor allem an seinen Ergebnissen – die Methoden können sein, wie sie wollen. Der Kapitalismus ist ein legitimer Sohn des Naturrechts der Starken. Sein einziges Ziel ist Erringung der Macht über die Schwächeren mit Hilfe ökonomischer Gesetze, die sie zu ihren Gunsten erfinden und dem ungebildeten Pöbel als unveränderliche Naturgesetze verkaufen.

f) Marx hatte seine Doktorarbeit über zwei griechische Denker geschrieben – und war dennoch davon überzeugt, dass im Streit zwischen Alten und Modernen die letzteren die Oberhand gewonnen hatten. Zudem schmeichelte es seiner Eitelkeit, Prometheus der Neuzeit zu sein, der das Geheimnis der kapitalistischen Götzen entdeckt und den Menschen verraten hatte, um sie von der Fron ihrer Ausbeuter zu erlösen. Er negierte die Rolle der Menschen, bestritt ihre moralische Autonomie und übergab das Schicksal der Proleten und Kapitalisten einer automatischen Heilsgeschichte. Durch seine moralische Entmündigung des Menschen wurde er zum Feind der Aufklärung – was er durch revolutionären Scheinfuror geschickt zu verdecken wusste.

g) Die Deutschen verehren Marx wie ihre Religion: blind und unwissend. Es genügt ihnen, stolz auf ihre Leitkultur zu sein – ohne sich darum zu kümmern, was Marx und Evangelium wirklich lehren. Marx und die Bibel werden als Heilige Schriften deutscher Nation betrachtet – das Jüdische wird verdrängt oder geleugnet –, die man nach Belieben auslegen kann. Hemmungslos werden Stellen selektiert, der dogmatische Zusammenhang des Ganzen geleugnet. Marx und Jesus haben immer Recht, obgleich im täglichen Leben kein Deutscher Marxist oder unaufgeklärter Jesuaner mehr sein will. Die Hymnen auf Marx stehen im scharfen Kontrast zu seiner heutigen Relevanz. Die Deutschen beten ihre Heroen des Geistes an, ohne einen kritischen Schimmer ihrer Lehren zu besitzen. Ihre Bildung ist rudelhafte Angeberei, hinter der sich das Grauen verbreitet. Das Volk der Dichter und Denker ist zum Volk aufgeblasener Schwätzer geworden. Das betrifft am wenigsten das „niedere Volk“, das sich ohnehin kaum erdreistet, etwas zu wissen. Sondern vor allem die intellektuellen Führungsklassen und edelschreibenden „Meinungsführer“.

Sie zerfetzen ihre Sprache, verbiegen ihre Begriffe und schreiben nach dem Motto Nietzsches: wer wird so pöbelhaft sein, Widersprüche zu vermeiden? In der Wirtschaft gibt es unveränderliche Gesetze, im Denken hingegen sind Gesetze der Logik verboten.

Ursprung der mentalen Verwüstungen ist die biblische Deutungskunst ihrer Gottesmänner, die per heiliger Intuition aus jedem X ein Y machen können. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist die Hochpreisung des Neuen Testaments zur ultimativen Moral durch die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken:

„Nach der Lektüre weiß man, wie mit dem Anderen umgehen? Wie mit Grenzen und Flüchtlingen umgehen? Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben: ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gereicht; ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt; ich bin ohne Kleidung gewesen und ihr habt mich bekleidet, ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht, ich habe im Gefängnis gelegen und ihr seid zu mir gekommen. Conclusio: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan.“ Offen bleibt die Frage, ob ich das schaffe? Ob wir das als in unserem Eigeninteresse versteinerte Gesellschaft schaffen? Aber sicher nicht wählen: AfD, FDP.“ (Sueddeutsche.de)

Sollte Vinken mit weltlicher Literatur ebenso liederlich umgehen wie mit der Bibel, müsste sie ihren Uni-Job an den Nagel hängen. Dass Jesus die Majorität in die Hölle verdammt, scheint die Professorin nicht zu stören. Dass von Christen Glaubensgehorsam, nicht neutrale Moralität gefordert wird, können „aufgeklärte“ Deutsche nicht verstehen. Auch nicht, dass jede Unmoral göttlich ist, wenn sie nur im Glauben geschieht. Alles soll allein um Seinetwillen geschehen – ist das eine höhere Form des Altruismus?

Warum hat Gott die Welt erschaffen, seine Kreaturen einer unerbittlichen Heilskonkurrenz ausgesetzt? Nach Auskunft der Kirchenväter: allein um Seinetwillen. Wie die römischen Kaiser regelmäßig Zuschauer im Amphitheater waren, den Daumen zum Leben hoben und zum Tode senkten, so schaut Gott seinem Welttheater zu, hebt den Daumen zur Seligkeit und senkt ihn zur ewigen Verdammnis.

Vinken fordert Uneigennützigkeit im Namen göttlicher Vorbilder, die alles um Ihretwillen erwarten und heidnische Moral als goldene Laster brandmarken. Ein kleines Beispiel für den Bankrott der intellektuellen Redlichkeit der deutschen Intelligentsia. Was unterscheidet CSU von der AfD, CDU von der FDP? Wenn die Kanzlerin eine spontane Liebestat in ihrem Amt vollbringt, werden all ihre Sünden vergeben. Moralisches Dekor genügt. Sündige tapfer, oh Angela, wenn Du nur glaubst.

Ist Trumpismus die vulgäre Ausgabe des vornehmen deutschen Nihilismus? Nach Nietzsche ist Nihilismus die Entwertung aller obersten Werte. Über-Ich ist der Freud‘sche Begriff für moralisches Gewissen. Wenn die Instanz des Über-Ich trumpistisch geschleift wird – erleben wir dann die Schleifung christlicher Werte?

Christentum und Marxismus gehören zum Moralkodex der Deutschen – den sie nicht im Geringsten ernst nehmen. Vielleicht im Privaten, bestimmt nicht in der harten Realität. Ist es nicht eher umgekehrt, dass der weltweite Protest gegen Trump ein verschärftes Gewissen, ein selbstbewussteres Über-Ich verrät?

Überhaupt: sind denn abendländische Grundwerte christliche Werte? Die Geschichte des Abendlands ist ein unaufhörlicher Kampf zwischen griechischer und christlicher Moral. Es gehört zu den Kollektivlügen der Frommen, die Werte der Demokratie seien christlicher Herkunft und hätten ihren Grund in der Gottähnlichkeit des Menschen. Wer einem Gott ähnlich sein will, der die meisten seiner Kreaturen ins Verderben schickt und nur wenige rettet, der muss über den Löffel balbiert sein, wenn er ein menschenfeindliches Monstrum zum Urheber der Demokratie machen will.

Alles Demokratische, Menschen- und Völkerrechtliche ist griechischer Herkunft, alles Gegenteilige lässt sich auf heilige Schriften zurückführen.

Versteht sich, dass es in einer antagonistischen Kultur nicht nur faule Kompromisse und unverträgliche Synthesen gibt. Es muss auch Überlappungen und ähnlich scheinende Phänomene geben.

Die Maxime Erkenne dich selbst, gibt es in beiden Kulturen. Bei Sokrates heißt das: erkenne deine urtümliche Vernunft, die durch Verwüstungen der Tradition verschüttet wurde. Im wahrheitssuchenden Dialog kann sich jeder seiner naturgegebenen Vernunft erinnern, um die Lügen und Wirrungen des Zeitgeistes zu durchschauen.

Bei Paulus hingegen führt das Selbsterkennen unausweichlich auf die Urstruktur des Sünders, der sich allein nicht retten kann. Nur Gottes Gnade kann ihn erlösen:

„Ich bin mir nichts bewusst, aber darum bin nicht gerechtgesprochen.“

In beiden Kulturen gibt es ein Unbewusstes. Der griechische Wahrheitssucher kann durch eigene Kraft seine Vernunft herausarbeiten. Der christliche Wahrheitssucher findet auf den ersten Blick auch nichts Böses. Erst im Glauben an Gottes Wort entdeckt er in sich, was er entdecken muss: seine sündige Struktur. Der sich auf sich selbst besinnende Christ findet nichts Böses in sich. Das Böse muss er glauben – das von Gott eines fernen Tages ans Licht gebracht werden wird:

„Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der HERR komme, welcher auch wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rat der Herzen offenbaren; alsdann wird einem jeglichen von Gott Lob widerfahren.“

Einem jeglichen? Mitnichten. Nur jenen, die der Herr nach unerfindlichen Kriterien erwählt hat. Den Erwählten wird der Herr ein frommes Herz, den Verdammten ein teuflisches bescheinigen.

Nietzsche behauptet, seine Kritik am Christentum sei erst durch gewachsene Wahrhaftigkeit ermöglicht worden, die die Abendländer dem Christentum zu verdanken hätten. Kann aber das Christentum eine Schule der Wahrhaftigkeit sein, wenn religiöse Selbstbesinnung von der Willkür Gottes abhängt? Den Seinen bescheinigt er ein reines Gewissen, den Verdammten einen Abgrund an Verworfenheit.

Amerikaner sind Biblizisten und Demokraten gleichzeitig – eine zum Scheitern verurteilte Synthese. Als Christen besitzen sie ein göttliches Über-Ich, das sie ständig ermahnt, die heidnische Demokratie mit fundamentalistischer Frömmigkeit zu Fall zu bringen. Als Demokraten besitzen sie ein demokratisches Über-Ich, das durch ihr biblisches Über-Ich permanent unter Druck gesetzt und bedroht wird. Mit anderen Worten: der typisch puritanische Amerikaner besteht aus zwei Wesen, die ununterbrochen im Clinch liegen.

Die Deutschen, immer auf der Spur mächtiger Vorbilder, nähern sich dem Zwiespalt ihrer Befreier. Im Dritten Reich erlebten sie noch einen ganz anderen Über-Ich-Konflikt: sie hatten zwei biblische Über-Ichs. Das Über-Ich der ecclesia patiens und das Über-Ich der ecclesia militans. Einerseits waren sie davon überzeugt, im 1000-jährigen Reich angekommen zu sein und in ihrem Führer den wiederkehrenden Christus zu erleben. Das aber bedeutete andererseits, zum apokalyptischen Schwert greifen zu müssen und die Mächte des Antichrist mit Feuer und Flamme zu vernichten.

Obgleich sie ihre Kriege als heilige definierten, mussten sie im privaten Leben friedfertig sein. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Söhne Gottes heißen, also Herren der Schöpfung werden.

Es bedurfte erheblicher innerer Kämpfe, um ihre Leidensbereitschaft als notwendigen Gegenpol eines erbarmungslosen heiligen Zorns zu begreifen. Himmlers Posener Rede sollte diese Skrupel der zwei widerstreitenden Seelen in der Brust seiner Helden beheben.

Die oft gestellte Frage: wie konnten normale Durchschnittsdeutsche zu solchen Schergen der Vernichtung werden, lässt sich nur durch Rekurs auf die zwei konträren Über-Ichs jedes Deutschen erklären. Im gewöhnlichen Leben anständig, unauffällig und leidensbereit, beim Läuten der eschatologischen Sturmglocken aber müssen Untertanen und Befehlsempfänger zu apokalyptischen Reitern des Jüngsten Gerichts werden.

Ist der Freud‘sche Begriff des Über-ich überhaupt tauglich, um abendländische Verwirrungen unterhalb des Bewusstseins zu erfassen?

Nein. Freuds Über-Ich ist auf keinen Fall das Unbewusste der Griechen, das durch Anamnesen entbunden werden kann. Eher ähnelt es dem Über-Ich der Erlöser, deren göttliches Über-Ich bedingungslos bedroht und bestraft. Bei Freud ist das Gewissen eine Instanz, die das „sündige Triebleben“ kontrolliert und bedroht. Angst auslösen durch Versagen und Verbieten, ständiges Schüren des Schuldbewusstseins: das sind die Mechanismen eines durchschnittlichen Über-Ichs.

Vor allem aber ist Freuds Kontrollinstanz keine Summa abendländischer Wertekonflikte. Freuds Patient ist ein Opfer privater Erfahrungen. Welche Rollen spielen die weiche Mutter, der strenge Vater, die angeborenen Instinkte nach Vatermord und Mutterbegattung? Freuds Unbewusstes ist keine vernünftige Natur, sondern ein Abgrund an Bosheiten, die im Prozess des Bewusstwerdens nur mühsam gebändigt werden können.

Als junger Aufklärer hatte Freud die Losung ausgegeben: wo Es war, soll Ich werden. Das Treiben der Begehrungen kann durch die Macht des aufgeklärten Ichs bezwungen werden. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs aber verschwand der Ich-Optimismus und verwandelte sich zunehmend in einen unbesiegbaren Todestrieb. Das war das Ende der Aufklärung in der Psychoanalyse, die heute zu dem wurde, was ihr Urheber unbedingt verhindern wollte: zur Domäne der Priester und Mediziner.

Die 68er-Studenten wussten, dass alles Private politisch sei. Sie wussten aber nicht, dass alles Politische auch privat sein muss. Der Mensch wird geprägt durch die psychischen Erfahrungen seiner Familie, die Familie durch die Gesellschaft, die Gesellschaft durch die Geschichte. Die Geschichte ist die Kollektivbiographie der ganzen Nation.

Je verwirrter und bedrohlicher die psychopolitischen Probleme der Gegenwart, umso unfähiger ist die Psychozunft, sich an der Enträtselung der Tiefenprobleme zu beteiligen.

Wer autonom werden will, bearbeitet seine private und gattungsmäßige Biografie. Seine Geprägtheit will er aufdecken, um seine dunklen Triebkräfte zu beherrschen. Das schließt die Wahrnehmung seines Über-Ichs mit ein, das ganz und gar nicht transparent vor ihm liegt. Indem er sein Über-Ich abbaut, um es mit dem Ich zur Stimme der Vernunft zu vereinigen, wird er zum mündigen Menschen. Was er selbstbestimmt tut, ist keine Folge des Es, kein Gehorsam gegen ein indoktriniertes Über-Ich.

Die gegenwärtige Entwicklung im christlichen Westen hat viele psychische Seiten. Die beiden wichtigsten sind: Die Abschaffung des international kodierten Über-Ich ist zweifellos die Wirkung gewachsener Ich-Kräfte und einer autonomer werdenden Mündigkeit. Gleichzeitig jedoch wächst die Gefahr, durch nachlassende Kontrolle unterdrückter Bosheiten nationale und internationale Aggressionen auszulösen, die ins Auge gehen können.

Auf jeden Fall wäre es ein echter Fortschritt in Selbsterkenntnis, wenn die Menschheit lernte, die autoritären Instanzen ihrer vielen, sich gegenseitig bekämpfenden Über-Ichs abzubauen, um die Vernunft-Kräfte ihres Ichs zu stärken.

Der Prozess wachsender Ehrlichkeit und Selbstbestimmung sollte uns nicht bange machen: jede Krise ist eine Chance. Der Mensch ist keine Bestie, die man durch religiöse Bedrohungen und leere Verheißungen an die Kette legen muss.

Und deshalb jetzt erst recht, dennoch und auf jeden Fall: packen wir‘s an. Alles andere wäre unverzeihliche Feigheit – vor uns und allen kommenden Generationen.

 

Fortsetzung folgt.