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Neubeginn LVII

Hello, Freude des Neubeginns LVII,

Sensation: endlich Klartext über den homo sapiens. Die Gesamtbewertung über die Menschheit wurde in ehernen Lettern von der deutschen Bundesanwaltschaft verkündet: der Mensch ist ein „eiskalt kalkulierendes Wesen, Menschenleben seien ihm völlig gleichgültig, wirtschaftliche und ideologische Interessen würden bei ihm im Vordergrund stehen. Zeichen einer Abkehr von terroristischem Gedankengut gegen Mensch und Natur gebe er nicht zu erkennen“.

Die Kläger in München beantragten lebenslange Freiheitsstrafe, Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und anschließende Sicherheitsverwahrung – bis in alle Ewigkeit. Als die Forderung verkündet wurde, zeigte der Angeklagte „keinerlei Reaktion“. Uneinsichtig und unbelehrbar wird der Mensch in die Hölle fahren. (SPIEGEL.de)

Wie gut, dass wir ehrgeizige kleine Monstren haben, die sich bemühen, in ihrem bedeutungslosen Winkel das Bestienspiel zu spielen und der Menschheit den Spiegel vorzuhalten. Sie sollten geehrt werden, denn alle Schuld des Menschen nehmen sie auf sich, lassen sich pro nobis als Teufel beschimpfen und verurteilen. Die Menschheit kann wieder aufatmen – und weiter machen wie bisher. Wieder einmal ist der Kelch an ihr vorüber gegangen. Danke, Beate, du Gottselige. Nein, verflucht seist du, wieder einmal hast du der Menschheit die Chance zur Reue, Buße und Selbsteinkehr genommen.

Drei Wochen lang war der Himmel über Deutschland geöffnet. Die Mächtigen und Edlen der Welt, sonst unsichtbar, schwirrten durch Wald und Feld, Marktplätze und Fernsehstudios. Sie standen an Straßenecken, am Eingang zum S-Bahnhof, sprachen die Irdischen an, als wollten sie ihre Freunde werden und schenkten ihnen ihre wertvollsten Gedanken in Form von Broschüren, Parteizeitungen und Flugblättern. Seriöse Gazetten quollen über von Berichten und Bewertungen. Zur besten Sendezeit durften die Kandidaten ihre Meinungen verbreiten. Kurz nach acht gab es

 wundersamerweise keinen quotenträchtigen Schrott. Politik wurde nicht in Spartenkanäle outgesourct. Chefredakteure, vorbildlich neutral, weder identisch mit dem Guten noch mit dem Bösen, verließen ihre anonymen Machtzentralen, zeigten sich in voller Leibesgröße ihrem Publikum und sorgten für vorbildliche Debatten, äh, für erwartbare Fragen, Fragen und Fragen.

Einmal in vier Jahren, wenn Mars in Konjunktion steht mit Venus, darf die schlummernde Nation erwachen und fragen, fragen, fragen. Geduldig und vorbildlich lassen sie die erwartbaren Antworten, Antworten, Antworten über ihren Köpfen abregnen, ja, sie scheinen sich zu freuen, dass sie einmal im Leben im Mittelpunkt des Weltgeschehens stehen. Alle Scheinwerfer sind auf sie gerichtet, wenn sie ihr belangloses kleines Leben ganz groß betrachten, mit ihren privaten Sorgen die Matadore des Weltgeistes ins Grübeln, vielleicht sogar ins Straucheln bringen dürfen. Gelingt es ihnen, dürfen sie ihre Adressen hinterlassen. Schwere Limousinen werden bei ihnen zuhause vorfahren, vor aller Welt werden sie als tolle Menschen gelobt, als Kenner und Experten, die eine Sache besser beherrschten als die Gewaltigen vor Gott.

Wer einen anderen lobt, stellt sich über ihn, sagte ein deutscher Wille- und Machtphilosoph. Wer Fragen des anderen beantwortet, deklassiert den andern. Eine Demokratie ist daran erkennbar, dass das Volk nicht regiert, sondern fragt, fragt und fragt und sich mit Antworten abspeisen lässt, die am nächsten Tag niemanden mehr interessieren.

Nicht, dass es keine Meinung hätte. So verblödet ist das Volk nicht. Sie müssen aber ihre Meinungen so geschickt in Frageform verpacken – dass die Mächtigen in der gespielten Illusion gewiegt werden, sie könnten die Fragenden noch als Wähler gewinnen. Untersuchungen, die nie gemacht werden dürfen, haben ergeben, dass das ganze Wahltheater fast keine Wirkung zeigt und niemanden mehr dazu bringt, seine Langzeitmeinung zu verändern.

So primitiv ist das Volk nicht, dass es sich von dem ganzen Theater – bei dem es willig mitmacht, denn das Leben ist langweilig – überzeugen ließe. „Sie wissen das besser“, sagte die schnell lernende Kanzlerin, die nicht mehr den Eindruck erwecken wollte, uneinsichtig und besserwisserisch zu wirken. „Sie sind der Experte“, sagte sie zu unbekannten Menschen, von denen sie gar nicht wissen konnte, ob sie wirkliche Experten sind – oder nur etwas dreist behaupteten, um die Ignoranz der mächtigen Frau coram publico zu entlarven.

Und doch wird das Volk mit süßem Gift bestochen. Wer eine Frage stellte, mit deren Beantwortung die Mächtigen hofften, einen Punkt zu machen, durfte auf Belohnung hoffen. „Geben Sie mir Ihre Adresse“ – vereinbart die mächtigste Frau der Welt ein Date mit dem unscheinbaren sozialen Atom, das durch Berührung mit dem Weltgeist jene Bedeutung erhält, von der es schon immer träumte.

Das Frage- und Antwortspiel ist kein Spiel auf gleicher Augenhöhe. Die Fragenden müssen zwar kritisch erscheinen, doch insgeheim hoffen sie auf eine wundersame Belohnung. Wir erleben keinen Streit auf gleicher Augenhöhe, sondern dürfen Zeuge einer monarchischen Audienz sein.

Das Private und Individuelle ist die Konkretion des Generellen. Doch wenn es zur wundersamen Erwählung benutzt wird und nicht als Beispiel des Allgemeinen, verfällt Politik zur Religion. Oder zum Märchen, wo der König in Gestalt eines schlichten Wanderers vor den Sterblichen auftaucht und das Glückshorn über ihnen ausschüttet.

Deutschland befindet sich in feudaler Märchenzeit, wo der Einzelne nicht gleichberechtigt war, sondern sich allein durch Beziehung zur Obrigkeit definierte. Wer Glück hatte, begegnete dem König und hatte für sein Leben ausgesorgt. War er hübsch und weiblich, durfte sie hoffen, vom Prinzen erwählt zu werden.

Demokratie war eine Verabredung von Menschen, die ihr Schicksal nach gleichen Regeln meistern wollten. Weder Zeit noch Zufall sollten ihr Leben bestimmen, sondern rationale Regeln, die für alle gelten.

Das war viel zu schön, um wahr zu sein. Schon haben Märchen und Religionen die Demokratien unterwandert und beherrschen die Massen durch das Versprechen, durch wundersamen Zufall alle anderen zu überrunden.

Ihre allgemeinen Regeln nennen sie Gesetze. Gesetze aber zwingen – jene, die sich für etwas Besonderes halten und sich von Gesetzen nicht dominieren lassen wollen.

Gesetze uniformieren die Menschen und machen sie gleich – sagen die Ausnahmemenschen. Gleichmacherei hassen sie, die ihre Außerordentlichkeit daran erkennen, dass sie sich von allen anderen unterscheiden. Die Differenz macht‘s – in allen Hierarchien und Kastengesellschaften.

Die Mathematiker wussten es schon immer: eine Differenz ist das Ergebnis einer Subtraktion. Nimm eine Größe und ziehe eine andere von ihr ab, dann bleibt der wahre Wert der Größe.

In wahren Demokratien gibt es keine Differenzen und Subtraktionen. Jeder ist gleich dem anderen – und bleibt gleich in alle Ewigkeit.

Nicht so in Gesellschaften, wo die einen groß sein wollen, indem sie die anderen klein machen. Der wahre Wert der Großen ergibt sich, wenn die Kleinen zu Null gemacht worden sind. Weshalb unser Grundgesetz ein Märchen sein muss – diesmal ein gutes –, weil man dort nachlesen kann: die Würde des Einzelnen ist nicht subtrahierbar, pardon, ist unantastbar.

Subtrahiert man alle Menschen von allen, bleiben jene übrig, die das meiste Kleingeld haben und auf wunderbaren Inseln glücklich vor sich hinleben. Wenn … wenn nicht demokratisch gesinnte Tornados und Hurricane vom obersten Gott der Gesetze geschickt werden, um die Inseln der Glückseligen ins Meer zu fegen. Das, liebe Kinder, war kein Fake, wie man heutzutage zu sagen pflegt, weil man das hässliche moralische Wort Lügen nicht benutzen will. Das geschah wirklich.

Fragestunden sind Hulderweisungen mit verstecktem Angebot, durch Zufall different zu werden. Die Mächtigen erscheinen als Almosengeber, die ihr goldenes Horn ausschütten, wie der Zufall es will. Das arme Volk ist so ausgehungert, nein, nicht nach Mecklenburger Rotkraut mit handgemachten Klöpsen, sondern nach etwas, was selbst Demoskopen fast nie zu Gesicht bekommen (weil sie es auch gar nicht sehen wollen): nach erfahrbarer, gefühlter, verlässlicher Würde. Manche sprechen von Anerkennung, Pathetiker von Liebe. Doch Liebe wird überschätzt, vor allem als Liebe zum Nächsten, die nur selbstliebend benutzt wird, um in Ewigkeit different zu werden.

Allgemeine Gesetze sind für Deutsche ein Gräuel, weshalb sie Gesetze als Froninstrumente beargwöhnen – und zur drakonischen Strafe benutzen. Besonders bei denen, die Gesetze en miniature verletzt haben. Wer hingegen das Gesetz der Gleichwertigkeit durch gnadenhafte Almosen verletzt, kommt als Menschheitsbeglücker in das Pantheon.

Gesetze sind für freie Kinder Gottes unpersönliche, gefühllose Imperative. Sie halten nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerecht gesprochen werde ohne Werke des Gesetzes. In allgemeinen Gesetzen gibt es keine Schlupflöcher für Auserwählte und Differente. Durch ausnahme-lose Gesetze fühlen sich Deutsche geknebelt und gefesselt. Lieber zahlen sie Steuern nach willkürlichem Liebesprinzip als nach kalter Gerechtigkeit. Liebe ist für sie göttlich, Gesetz eine Notwendigkeit der verderbten Welt.

All dies zeigt, dass hierzulande Demokratie noch immer mit Theokratie verwechselt wird, wo Priester ihr willkürliches Regiment der Gnade und Ungnade, des Bevorzugens und Verfluchens, exekutieren.

Gleichwertigkeit ist das Gegenteil von Gleichmacherei. Sie konstatiert keine Tatsachen, sondern bewertet sie. Der Unterschied zwischen Tatsachen feststellen und bewerten, ist modernen Tagesberichterstattern unbekannt. Faktencheck – das hässlichste Wort unter der Sonne – ist für Journalisten der Inbegriff des Alten und Neuen Testaments. Indem sie Fakten konstatieren, glauben sie: a) sie hätten sie schon bewertet oder b) sie hätten es gar nicht nötig, sie zu bewerten.

Doch nur Gleichwertigkeit kann Unvergleichlichkeit würdigen und verteidigen. Sie bewahrt die unermessliche Schöpferkraft der Natur, welche Individualitäten und keine Plagiate hervorbringt. Der Satz: Jeder Mensch ist eine Welt für sich, kann nur zur Geltung kommen, wenn jedwede Verschiedenartigkeit von gleichem Wert sein darf.

Wird different gewertet, kommen Gleichmacher ans Ruder, die alles über den Löffel der Zahl balbieren. Sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen: die Reichen und Mächtigen, die alles nach dem gleichen Maßstab bewerten. Wer nicht hab- und machtgierig ist wie sie, ist minderwertig.

Wer nur über Tatsachen spricht, meidet Bewertungen wie die Pest. Bewerten hieße, Tatsachen philosophisch zu durchdenken und zu beurteilen. Es genügt nicht, Zahlen zu nennen. Zahlen müssten nach Würde, Selbstbestimmung, Entfaltungsmöglichkeit und Gerechtigkeit beurteilt werden. Was wiederum hieße, nach „abstrakten Theorien“ zu fragen.

Abstrahieren heißt Loslösen vom Faktischen, nicht, um es zu ignorieren, sondern um eine allgemeine Bewertungsperspektive oberhalb aller Fakten zu finden, um sie nach gleichem Maßstab zu bewerten. Das Abstrakte ist das Allgemein-Verbindliche aller konkreten Fakten.

In einer Demokratie ist das allgemeine Gesetz nicht das Gegenteil des Konkreten. Ein zoon politicon kann seine private Situation im Licht der allgemeinen Gesetze bewerten und die allgemeinen Gesetze nach ihren individuellen Folgen beurteilen.

Das ist der Unterschied zur Religion, in der das göttliche Gesetz jede Ausnahme im Glauben zulässt, sodass das Allgemeine das Individuelle nicht erfassen kann. Gott lässt sich auf allgemeine Gesetze nicht ein. Er müsste sich ja selbst daran halten. Das lässt seine omnipotente Freiheit nicht zu. All dies soll der Mensch nicht erfassen. Die Beurteilung des Menschen und seiner Angelegenheiten soll das Privileg des Himmels bleiben.

Die Menschen auf Erden haben wie Blinde durch die Nacht zu torkeln. Nur ein plötzliches Licht von Oben soll die irdische Lage sporadisch beleuchten – bevor es unvermittelt erlischt. Das Göttliche muss schlechthin akzeptiert werden. Kein Mensch darf verlässlich darüber bestimmen. Selbst Priester haben um Erleuchtung zu bitten und zu flehen. Allerdings haben sie im Verlauf ihres jahrtausendelangen Regiments Tricks erfunden, um sich das Unberechenbare berechenbar unter den Nagel zu reißen. Nach außen Hokuspokus, nach innen eiserne Regeln der Macht.

Die Deutschen spielen Ohnsorg-Theater mit politischen Anleihen. Alle Medien bersten von Politik. Sie scheinen nachholen zu wollen, was sie vier Jahre lang unterlassen haben. Fragen– und Antwortspielchen mitten in der Legislaturperiode? Undenkbar. Stattdessen klerikale Worte zum Neujahrswechsel. Das Predigen können sie nicht lassen.

Besser wären Streitgespräche, wo die Streitenden ohne moderierende Anstandswauwaus ihre Themen selbst festlegen und begründen, selbst herausfinden, wie und worüber sie streiten. In einem echten Dialog sind alle Beteiligten autonom und lassen sich von Dritten nicht vorschreiben, worüber, wie lange und nach welchen Anstandsregeln sie debattieren sollen. Das Publikum allein sollte über die Qualität des Disputierens entscheiden.

Doch hier wird’s eng. Wie soll man den Sieger eines Streitgesprächs feststellen, wenn Besserwissen verboten ist? Wie will man die Qualität von Argumenten bewerten, wenn niemand durch argumentative Unterlegenheit sein Gesicht verlieren darf?

A: Okay, beginnen wir mit der Frage: Was ist gerecht?

B: Gott bewahre, jeder hat seine eigenen Vorstellungen. Solche Fragen gehören in den Bereich der Schwätzerwissenschaften. Bleiben wir bei den Fakten.

A: Langsam, oh Freund und Kupferstecher. Kann man nicht miteinander debattieren, wenn man verschiedene Meinungen hat? Würde das nicht bedeuten: streiten könnten nur die, die derselben Meinung sind? Sind sie aber derselben Meinung, worüber sollten sie streiten?

B: Hab ich‘s nicht gesagt. Kaum lass ich mich auf ein Gedöns-Gespräch ein, schon sind wir mitten im Schlamassel. Noch einmal: halten wir uns an die Fakten.

A: Fakten sind eine Sache der Deutung. Für die Reichen ist der Sozialstaat ein Dekadenzphänomen, wo Loser die Langmut des Staates ausnutzen. Für Loser ist der Staat ein knausriger Obertan, der jede Wohltat benutzt, um die Empfänger der Wohltaten zu schikanieren. Für die einen ist das Glas halbvoll, für die anderen halbleer. Ein Land kann statistisch reich sein, nur weil es wenige, aber unendlich vermögende Reiche, aber viele Arme hat. Tat-Sachen sind keine rohen empirischen Fakten, sondern Sachen der Tat. Sie müssen historisch und moralisch bewertet werden. Wer sie als rohe, vom Himmel gefallene Fakten betrachtet, ist nicht fähig, sie politisch zu verwerten. Eine Demokratie, die auf die rohen Fakten gekommen ist, ist auf den Hund gekommen.

B: Mit Verlaub, Genosse. Wenn Sie Recht hätten, müssten wir hier einen philosophischen Diskurs beginnen. Das kann doch nicht wahr sein. Den Wahlkampf müssten wir in ein Proseminar, viertes Semester, verwandeln. Das glauben Sie doch selbst nicht.

A: Geben Sie zu, dass es in den Menschen gärt und brodelt? Wie hoch schätzen Sie den Brodel-Faktor der Bevölkerung? Kommt das Unbehagen nicht daher, dass viele die allgemeine Situation nicht einschätzen können, weil ihnen die nötigen Begriffe und Kenntnisse fehlen? Warum fehlen sie ihnen? Weil Eliten dumme Bürger leichter führen können als wissende und selbstdenkende. Eben dies wäre die Sache der Bildung. Bildung aber ist abgeschafft worden zugunsten der Ausbildung, die nur künftige Maschinisten und Geldscheffler ausspuckt.

B: Stopp, da kann man ja nicht mehr zuhören, wie Sie die Fundamente unserer wirtschaftlichen Überlegenheit in Frage stellen. Und Sie wollen Politik machen? Gehen sie nach Asien und werden Sie buddhistischer Mönch in der Versenkung.

Solche Gespräche sind in den Talkshows nicht in Ansätzen zu hören. Stattdessen werden die Dispute zu Wahl-O-maten, Zoff-O-maten und sonstigen Automaten. Je automatischer, umso objektiver. Silicon Valley hat bereits Beobachter nach Neugermanien entsandt, um die Digitalisierung der Politszenerie zu explorieren. Nicht lange und sie werden perfekte Politautomaten auf den Markt werfen.

Zu jedem Thema hat der Einzelne 20 Sekunden Zeit, Stellung zu nehmen, kommandiert Plasberg in seiner Zack-Zack-Sendung. Wir sind wieder im Land des Stechschritts. Nicht nur der Leib, auch der Geist hat dem Kommando der Stechuhr zu gehorchen. Avanti, avanti, Schwätzen ist Zeitverschwendung. Wir müssen das Tempo beschleunigen, wenn wir unseren Wohlstand verteidigen wollen.

Keine einzige Frage nach der Übergriffigkeit der Religion, der klerikalen Parallelgesellschaft, wo Kirchen ihren exklusiven Gesetzen gehorchen, islamische Parallelgesellschaften aber angeklagt werden.

Kein Gespräch über Laizismus, dem Beginn der Demokratie durch Trennung von Kirche und Staat.

Kein Gespräch über den Sinn des Fortschritts. Wer bestimmt den Fortschritt? Ist er ein unvermeidliches Phänomen der Evolution? Oder wird er von bestimmten Geniedespoten und kreativen Zirkeln in Kooperation mit politischen Mächten der Welt aufoktroyiert?

Kein Gespräch über den Verfall der demokratischen Idee. Woher kommt der globale Rückfall ins Religiöse, der Hand in Hand geht mit Friedlosigkeit, Hass und Feindschaft?

Kein Gespräch über die ökologische Katastrophe. Wie kann der Schutz der Natur funktionieren, wenn die Wirtschaft ins Unendliche wachsen muss?

Warum müssen die Untertanen immer die Oberen befragen? Warum nicht umgekehrt? Wie wär‘s, wenn die Kandidaten jene Menschen interviewen müssten, die sie nicht wählen? Überall Gefälle. „Auf gleicher Augenhöhe“ ist zur elenden Phrase verkommen. Wenn alle den Aufstieg machen sollen, was geschieht mit dem Bodensatz? Gefälle wurde zum immanenten Gesetz der Gesellschaft. Jeder soll pauken, trainieren, werkeln und hasten, um nach Oben zu kommen. Niemand soll sich bemühen, ein guter Demokrat zu werden.

Kein einziges Wörtchen zum Thema: wo eigentlich in der Gesellschaft kann man Demokratie lernen? Nirgendwo. In der Schule am wenigsten. Hier wird alles von selbstgefälligen Bürokraten festgelegt.

Geradezu unglaublich: wenn ein Spitzenfußballer wie Lewandowski ein kritisches Interview gibt, wird er von den Putins seines heiligen FC Bayern – Rummenigge und Ex-Häftling Hoeneß – in aller Öffentlichkeit wie ein Unmündiger zusammengestaucht. Keinerlei Reaktion in der „demokratischen Öffentlichkeit“. Gehört Meinungsfreiheit nicht zur Würde des Menschen? Warum werden die beiden Fußball-Chefs nicht mit Schimpf und Schande aus dem Stadion gejagt?

Warum darf ein wunderbar mutiger Kämpfer um eine überwachungsfreie Demokratie wie Snowden von Merkel & Co als Spion beschimpft werden? Warum sitzen Merkel & Co wegen antidemokratischer Umtriebe nicht längst in Abschiebehaft?

Warum lässt man den religiösen Opportunismus Merkels aus windigen Phrasen und Immunisierungen davonkommen: ich bemühe mich, wir haben mit aller Kraft versucht, dann bin ich auch Feministin, ich verspreche Ihnen, ich kann Ihnen nicht versprechen, es ging nicht anders, ich halte an der Obergrenze fest, obgleich ich alles unternehme, um die Untergrenze so klein wie möglich zu machen, Sie kennen mich, mein Standpunkt ist bekannt, wir müssen über den Tellerrand schauen, wir müssen neugierig sein, Politik soll die Bevölkerung uns Politikern überlassen, wir können das besser?

Kein einziges dieser Schlag-Wörter wird der Mutter der Nation vorgehalten. Niemand wagt es, in aller Öffentlichkeit den Muttermord zu begehen. Warum? Gab es doch bislang keine einzige Mutter von politischem Rang. Kein Journalist will Muttern wirklich in Bedrängnis bringen. Immer wenn‘s brenzlig wird, weichen sie auf Nebengleise aus. Fast alle Berichte über die Kanzlerin beginnen mit Scheinkritik und enden mit der erleichterten Bemerkung: sie blieb erstaunlich gelassen, gefasst, unaufgeregt.

Der Grund der Symbiose zwischen Mutter und Nation liegt in einem Tabuthema: der Religion. Ein Volk, das sich christlich definiert, aber nicht mehr weiß, was Christentum ist, noch nie eine Bibel in der Hand hatte, braucht eine fromme Mutter, die ihm gibt, was es benötigt: Trost der Seelen in der Not der Zeit. Wie sexueller Inzest zu den verschwiegensten Tabus der Zeit gehören, so der religiöse Inzest. Eine fromme Mutter stillt vor aller Augen und doch im Geheimen die religiösen Bedürfnisse ihrer Untertanen – worüber niemand reden darf. Über Sex in allen Variationen darf in sämtlichen Gazetten geschrieben werden. Über religiös verseuchte Politik kein einziges Wort. Dass der Westen seine christliche Religion in eine einzige apokalyptische Selbstzerstörungspolitik verwandelt hat, davon kein Muckser – in Deutschland. In Amerika passt zwischen beide Themen kein Blatt Papier.

In zwei Wochen kommt es zum Desaster. Alles wird weiter gehen in trostlosem Schritt und Tritt. Die wenigen Optionen sind hinter den Kulissen schon startbereit. Kaum werden die Stimmen ausgezählt sein, werden die Heroen mit steinernen Mienen vor die Kameras treten und ihre patriotische Pflicht bekennen: Merkel: Kanzlerin, heftige Auseinandersetzung zwischen Gabriel und Schulz, wer Außenminister spielen darf.

Die Deutschen denken gar nicht daran, zu wählen. Zwar machen sie ihr Kreuzchen, aber so hinterlistig feige, dass sie es den Parteien überlassen, welche Schlussfolgerungen sie aus dem Zahlensalat ziehen. Sie wählen, indem sie nicht wählen. Getreu dem Spruch: wenn Wahlen entscheiden würden, hätte man sie längst verboten. Die Deutschen hungern nach Anerkennung, nach moralischer Rehabilitierung – das elementare Bedürfnis, immer bessere Demokraten zu werden, ist ihnen unbekannt.

Dass Europa in der Krise ist – woran die Deutschen nicht ganz unschuldig sind –, davon kein Wörtchen im Wahlkampf. Dass die EU sich nur neu konstituieren kann durch einen Demokratisierungsschub der Völker, die den Geist der athenischen Urdemokratie wiederbeleben müssten, sagte – weder Merkel noch Schulz. Sondern der französische Präsident Macron dort, wo die athenische Polis einst die Grundlagen der Volksherrschaft erdachte und erarbeitete.

„Der französische Präsident Emmanuel Macron hat bei einem Besuch in Athen zu einer Neugründung Europas aufgerufen. Dazu müsse die EU „demokratischer und souveräner“ werden, sagte Macron am Donnerstag bei einer Rede in der griechischen Hauptstadt vor der Akropolis. Andernfalls werde der Staatenverbund auseinanderbrechen, warnte er. Der Prozess dazu müsse bald eingeleitet werden: Sechs Monate lang sollten die europäischen Völker über die Zukunft Europas beraten und reden, sagte er. Danach müsse offen politisch entschieden werden, „nicht hinter verschlossenen Türen“. Der Neugründungsprozess sollte in Athen, der Wiege der Demokratie, beginnen, fügte er hinzu. An die Jugend Europas gewandt sagte er: „Die Eule von Athen schaut leicht nach hinten. Tun Sie es nicht – schauen Sie nach vorne.“ (Berliner-Zeitung.de)

Eine solche Rede, ein solcher Besuch an den Stätten der athenischen Urpolis: bei Merkel undenkbar. Die Deutschen hassen das neue wie das alte Griechenland, nachdem sie eine kurze Zeit Kunst, homerische Helden und Götterglauben vergötterten. Solon, Perikles und die Agora waren ein Alptraum für germanische Dichter und Denker.

Die Deutschen, unter der Ägide einer lutherischen Pastorentochter, feiern ihr Lutherjahr. Welche Namen müssten sie feiern, um sich aus eigenen Ursprüngen demokratisch zu regenerieren?

 

Fortsetzung folgt.