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Neubeginn LIX

Hello, Freunde des Neubeginns LIX,

essen, trinken, schlafen und Zähneputzen seien ihre Hauptbeschäftigungen, sagte in einer „Pressekonferenz für Kinder“ die deutsche Lichtgestalt, die ihr Charisma durch Understatement ins Unfehlbare ausweitet.

Nicht durch englisches Understatement, jener Bescheidenheit, die durch griechische Vorbilder inspiriert war. Sondern durch Unbesiegbarkeit, die im Gewande der Demut allen weltlichen Machtgebärden den Schneid abkauft. Die offensive Inszenierung der Schwäche ist das Geheimnis des frommen Triumphs, den man im lutherischen Deutschland als Nüchternheit zu verkaufen pflegt.

Was sie von CSU-Seehofer unterscheide? 30 cm Körperlänge.

Was sie am liebsten täte, wenn sie keine Kanzlerin wäre? Am liebsten würde sie als Astronautin um die Erde kreisen, um von Oben herab den blauen Planeten zu bewundern.

Die Nüchterne kennt nur das Außerordentliche und Abgehobene, das ihr als Durchschnittsmaß zusteht. Nur mit extraordinärer Technik hofft sie, aus himmlischer Überheblichkeit die Vorzüge ihrer irdischen Heimat zu erkennen. Nüchterner und demütiger geht’s nicht, als zum winzigen Kreis derer gehören zu wollen, die die Welt politisch, ökonomisch und technisch beherrschen.

Ihre Antworten an Kinder und Jugendliche bestechen durch aufreizende Unterkomplexität, die den Sinn der Fragen ignoriert und die Fragenden als Aufschneider entlarvt. Sie beschämt die Aura des gehobenen Fragetons, wenn sie in burschikos-lächelnder Bodenhaftung auftritt.

Was soll man als jugendlicher Mensch lernen? Lesen, Schreiben, Rechnen, ein bisschen Computer.

Nichts von demokratischer Zivilcourage, nichts von Humanität, vom Mut, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, nichts von der

Kunst des Lebens und Überlebens.

Wäre sie Erzieherin, müsste man sie sofort entlassen, denn die Psyche der Kinder düpiert sie in dreister Simplizität. Als Physikerin und Pastorentochter ist sie automatisch Expertin für alles: für Pädagogik, Zukunftsschau, Neugierde auf das Unvermeidliche und für knallharte Überlegenheit über Konkurrenten. Auf den politischen Gehalt der Fragen geht sie mit keinem Wörtchen ein.

Die Fragenden, die stolz darauf sind, der Gnade der Audienz teilhaftig zu sein, lässt sie beschämt und ratlos zurück. Von einer Weltfigur überfahren zu werden, muss in deutschen Auen als Huld empfunden werden. Hätten sie sich solche Antworten nicht selbst geben können? Mussten sie die Gunst der Stunde für triviale Wichtigtuereien verschwenden? Eine Lichtfigur antwortet nicht. Sie reduziert die Sterblichen auf das Maß ihrer kreatürlichen Hybris.

Von Kindern hat die Kanzlerin, die Millionen adoptierter Untertanenkinder besitzt, nicht die geringste Ahnung. Doch kein Problem: der Dünkel der Auserwähltheit trägt sie über alle Nichtigkeiten hinweg.

Psychische Probleme? Nu bleib ma‘ aufm Boden. Alles, was die Erziehungslehre des derben Reformators übersteigt, ist neumodischer Humbug. Die Gegenaufklärung rächt sich am Sieg der Aufklärung, indem sie – in unverhofft-verspäteter Machtposition – die sogenannten Erkenntnisse der Welt als Torheit vor Gott zuschanden macht.

Der Mensch habe ein kompliziertes Innenleben? Ach was. Pauken, Arbeiten und die Zehn Gebote halten: das ist alles, was ein Christ zu tun hat. Vernichten wird sie die Weisheit der Weltweisen, die Einsicht der Einsichtigen wird sie verwerfen. Die Klugheit der Welt wird sie in höhnischem Sarkasmus zu Schanden machen. Das ist das Geheimnis ihrer Kastrationskünste an den Weltläufigen, die von der Weisheit der Welt längst Abschied genommen haben – ohne es sich einzugestehen.

Der Kampf zwischen Weltvernunft und Erleuchtung geht in die nächste Runde. Die Frechheit der autonomen Vernunft muss bestraft werden. Vernunft: was bist du vor Gott? Nichts als eine Hure, sagte die ehrbare Törin vor der Welt – und entblößt die Weisheit der Welt als Dummheit vor Gott. Das aufgeklärte Deutschland applaudiert und lässt sich an Mutters Hand in Gottes Weisheit führen, die vor der Welt eine Torheit ist.

Zeig mir, wie du Kinder behandelst und ich sage dir, ob du aufgeklärt bist.

Kinder stellen keine Fragen, die mit Totschlagantworten zum Verstummen gebracht werden dürfen. Kinder wollen, dass man mit ihnen spricht. Fragen sind für sie ein Versuch, mit Erwachsenen ins Gespräch zu kommen. Fragen sind eine indirekte Aufforderung zum Dialog. Kinder fragen – weil sie selbst befragt werden wollen. Sie wollen die Anerkennung empfinden, dass die Erwachsenen sie ernst nehmen.

Täglich werden sie von atomisierten Informationen und unzähligen Sinnenreizen so überschwemmt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihr Innenleben in stummem Selbstgespräch zu ordnen und zu verstehen. Ein Dialog ist der Versuch, durch Verstandenwerden sich selbst – und den anderen – besser zu verstehen.

Solchen Hebammengesprächen weichen die Erwachsenen aus. Auch mit ihnen hat niemand gesprochen, warum sollten sie ihre kostbare Zeit mit Tand verbringen? Die hyperkomplexe Welt ist für eine Magd Gottes nichts als eine triviale Angelegenheit. Wenn Gott alles lenkt, muss geglaubt, nichts ergründet und verstanden werden.

Einerseits werden die Untertanen durch Komplexität entmündigt, andererseits vermittelt Muttern die tröstliche Botschaft: wenn jeder nur schlicht und einfach sein Leben lebt, seine Arbeit verrichtet und Gottes Geboten folgt – wird alles gut. Das ist der Kern der Symbiose aus Volk und charismatischer Botschafterin. Folgt der Seelsorge der Pastoren – und ihr könnt euch sittenverderbende Psychotherapien und unverständige soziologische Theorien ersparen.

Vergessen wir nicht: Freuds Psychoanalyse galt im Dritten Reich als jüdische Ideologie. Rassenreine Arier kannten keine verderblichen Gelüste nach Vatermord oder inzestuöser Begattung der Mutter. Heute ist die Psychotherapie zur quasi seelsorgerlichen Tröstung im privaten Winkel verkommen. Waren A. Mitscherlich und H. E. Richter noch energische Analytiker der Politik, schrumpfte nach ihnen die therapeutische Durchdringung der Gesellschaft zu einem Fast Nichts. Nicht ausgeschlossen, dass noch immer anti-jüdische Reflexe die politische Psychotherapie vertrieben haben. Hinzu kommt die antipolitische Einstellung von Freud selbst, der einen seiner Meisterschüler – Wilhelm Reich – wegen Mitgliedschaft in der DKP aus seiner Vereinigung ausschließen ließ.

Die 68er-Studentenbewegung war eine Mixtur aus vielen Bewegungen. Feministische, pädagogische, psychotherapeutische und ökologische Gedanken verbanden sich zu einem gewaltigen Gebinde. Doch der heiße Sommer der Ideen währte nur eine kurze Zeit. Die Gewalttaten der RAF waren das Ende der philosophischen Nachholbewegungen im Nachkriegsdeutschland. Ab dann ging‘s bergab.

Heute ist alle psychoanalytische Ursachenerforschung von Terroristen, Gewalttätern und sonstigen Übeltätern ein Sakrileg. Stattdessen dominiert die hasserfüllte Dämonisierung aller Abweichler. „Sie zielen direkt ins Zentrum unseres Lebens“: solche sinnlosen Sätze sollen die teuflischen Taten der Verbrecher verständlich machen – nein, eben nicht –, sondern zur größtmöglichen Rache aufstacheln.

Geschieht irgendwo ein Verbrechen, sind sogleich Politiker zur Stelle, denen nichts anderes einfällt als Verschärfung der Strafen. Gefängnisse bieten kaum noch sozialtherapeutische Fürsorge für die Täter. Nur wer die Entstehung seiner Taten verstanden hat, muss sie nicht mehr wiederholen. Verstehen – nicht nur von Putin – wurde zum Landesverrat. Politische Vorgänge haben heute nichts mehr mit Es, Ich und Über-Ich zu tun.

Es gibt keine Ursachen mehr, also kann es auch keine Ursachenforschung geben. In der Ökonomie sind Verbrechen aus unbewussten Gründen ausgeschlossen. Der homo öconomicus ist ein rationales Wesen, das seine Vorteile mit vollem Bewusstsein verfolgt. Der Shitstorm hat keine psychischen Gründe, sondern folgt bösartigen Antrieben, die nicht zu analysieren sind.

Auch hier gilt das Spaltungsgesetz der Klassengesellschaft. Massen sind von Neid, Rachsucht und Trägheit verseucht; Eliten folgen dem edlen Willen, Arbeitsplätze zu schaffen und dem Staat zur Weltgeltung zu verhelfen.

Der jetzige Wahlkampf wird von der Verteufelung der AfD bestimmt, die anderen Parteien werden vor allem nach Koalitionsmöglichkeiten berechnet. Von der CDU, der Partei der Kanzlerin, ist so gut wie keine Rede mehr. Da es uns gut geht, gibt es keine Gründe, das Gutgehen in Frage zu stellen. Wer das Paradies leugnet, muss von bösartigen Motiven getrieben sein.

Unter anständigen Menschen gibt es nichts zu verstehen. Die Kategorie Verstehen wurde mit Verzeihen identifiziert, sodass jedes Verstehen zum schändlichen Billigen einer Untat wurde. Den Begriff Psychologie gibt es nur noch in der verächtlichen Formel der Küchenpsychologie.

Die Despotien der rechnenden Ökonomie und quantitativen Technik haben dazu geführt, dass nicht-rechnende und qualitative Motivforschungen verschwunden sind. Die Dogmatisierung roher Fakten, die unverständlich bleiben, weil sie gedeutet werden müssten, hat zur digitalen Dichotomie geführt: entweder ist Null oder Eins: alles andere ist von Übel.

Das Ideal der Gesellschaft besteht in der Maschinisierung der Persönlichkeit und der Personalisierung der Maschine, der man zutraut, ein bewusster Mensch zu werden und den Menschen – besonders die Frau – zu ersetzen. Die wahren Kinder der Menschen sind nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern aus digitaler Materie, die den Menschen in allen Dimensionen übertrumpft. Kreativität ist nicht mehr das Zeugen von Kindern, sondern von Ideen, die in wissenschaftlichen oder profitmäßigen Fortschritt verwandelt werden. Der gottähnliche Mann will nicht länger von Mächten abhängig sein, die seinem „Es werde“ widerstehen.

Kein Wunder, dass die Phantasie der maskulinen Kanzlerin einzig darin besteht, als Maschine die Erde aus gottähnlicher Perspektive zu betrachten. Ihre Neugierde ist einzig auf die Verlängerung und Erweiterung der alten technischen Selbstglorifierung des Mannes fixiert. Technische Visionen scheinen sie zu faszinieren, humane Visionen hingegen sind für sie größenwahnsinnige Versuche des Sünders, seine irreparable Minderwertigkeit zu überwinden.

Da die meisten Eltern nicht kontinuierlich mit ihren Kindern sprechen, lernen die Kinder nicht, ihre Situation aus eigenem Erleben wahrzunehmen und darüber zu berichten. Kommen sie in die Schule und erleben Rivalität, Missgunst und autoritäres Gehabe, sind sie nicht in der Lage, ihre Probleme den Eltern anzuvertrauen. Auf die besorgte Frage: na, wie war‘s heute in der Schule? folgt ein stereotypes: alles gut.

Die Kinder spüren die Schwäche hinter den besorgten Fragen und müssen ihre Eltern vor der Last ihrer negativen Erfahrungen schützen. Ohnehin haben sie längst bemerkt, dass ihr Wille nichts zählt, wenn es um die Frage der Eltern geht, wer von den beiden zu Hause bleiben muss und wer arbeiten darf.

Warum ertragen Väter die unwürdige Situation an ihrem Arbeitsplatz? Weil sie froh sind, den familiären Verpflichtungen entflohen zu sein. Bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird niemand nach seiner Meinung gefragt. Die Kinder überhaupt nicht. Kinder, deren Willen und Wahrnehmungen nichts gelten, werden der Maschinerie der Gesellschaft unterworfen.

Wer auf die psychischen Defekte der Kinder aufmerksam macht, gilt als Vertreter der heilen Familie. Offensichtlich sind unheile Familien von höherem Unterhaltungswert.

Nachdem auch die Frau fast vollständig dem kapitalistischen Moloch einverleibt wurde, muss das Kind – über die kapitalismusgesteuerten Schulen und Universitäten – so lange modelliert werden, bis humane Alternativen als Wettbewerbsminderungen eingestuft werden. Es ist derselbe Diskriminierungsfaktor wie bei der Moral. Wer für moralische Erneuerung der Gesellschaft eintritt, wird als idealistischer Gutmensch abgeschrieben. Gutmensch ist ein verschämtes Ersatzwort, um den Begriff Moral aus Gründen der Pietät zu schonen.

Das Kind wird so früh wie möglich im Stich gelassen und an fremde Mietlinge – deren Qualität niemand überprüfen kann – abgeschoben. Wenn früher ein Kind geschlagen wurde, hieß es bei Vertretern der Prügelstrafe: uns hat es auch nicht geschadet. Ähnlich heute. Kinder haben alles zu überstehen, was der Kapitalismus von den Eltern fordert. Psychische Defekte und Charakterverkrümmungen, mangelnde demokratische Autonomie werden als Belanglosigkeiten unter den Teppich gekehrt.

Fast alle Artikel der Edelschreiber über Erziehungsprobleme schieben die Ursachen der Fehlentwicklung den Einzelnen zu. Der maligne Faktor der Gesellschaft bleibt im Dunkeln. Dass auch die Erwachsenen unter dieser Entwicklung leiden, gilt als Schwäche übermotivierter Helikoptereltern oder idealistischer Lehrer.

Es gibt Experten, die nicht davor zurückschrecken, die Erziehung so früh wie möglich auf Training zum Aufstieg zu organisieren. Frühzeitig haben Kinder die schwärmerische Moral ihrer ersten Jahre abzulegen und sich harten Realitäten zu beugen. Sie müssen lernen, den Stress des Wettbewerbs auszuhalten und ihre schärfsten Konkurrenten abzuhängen. Die humane Moral der frühesten Kinderjahre wird abgedrängt und muss harter Bandagen-Rüpelei der Erwachsenenwelt weichen.

Weichen aber kann sie nicht, denn die Kinder haben sie allzu sehr verinnerlicht. Also muss sie ins Unbewusste verdrängt werden: der normale Mensch wird zum gespaltenen Wesen, das ein Leben lang ein schlechtes Gewissen hat, weil es seiner kindlichen Urmoral untreu wurde, ohne sich Rechenschaft über sein schlechtes Gewissen ablegen zu können.

Versteht sich, dass auch Lehrer und Erzieher unter der Last dieser kollektiven Moralverdrängung leiden. Immer mehr Lehrer sind ausgebrannt:

„Etwa jeder dritte Lehrer in Deutschland leidet im Lauf seines Berufslebens an Burn-out, unabhängig vom Alter. Die unter 30-Jährigen klagen genauso häufig über Erschöpfung, Unruhe, Traurigkeit und Leere wie die über 50-Jährigen. Die Lehrer fühlen sich ausgelaugt durch unmotivierte und undisziplinierte Schüler, durch Streit mit der Schulleitung und den Kollegen. Sie werden krank, weil ihre Vorstellung vom Beruf der Wirklichkeit in der Schule nicht entspricht.“ (SPIEGEL.de)

Wer ist schuld am Leiden der Lehrer? Die widersprüchlichen und maßlosen Anforderungen des Staates, der keine Humanisten ausbilden will, sondern mobile Massen von Nachfolge-Maschinisten und Machthungrigen?

Auf keinen Fall. Es sind die Lehrer selbst, die zu viel Erwartungen an sich und die Schulen hatten. Auch Lehrer können Helikopter-Moralisten sein:

„Die zweite Gruppe besteht aus Idealisten. Das sind Studenten, deren Motivation es ist, jeden einzelnen Schüler entsprechend seiner Begabung zu fördern, jedes Kind individuell pädagogisch begleiten zu wollen. Ihnen wird die Kluft zwischen Wunsch und Realität eines Tages zu schaffen machen. Diesen Lehrern mangelt es an Distanz zu ihrem Beruf, sie überschätzen sich, haben zu hohe Ansprüche. Sie zeichnet ein maßloses Engagement aus, das der Lebenswirklichkeit nicht entspricht.“

Kein kritisches Wörtchen zur monströsen Situation der Gesellschaft, die jeden „Moralisten, Idealisten und Gutmenschen“ zum psychischen Wrack erklärt. Wer nicht mitkommt, ist selber schuld. Gibt es nicht genügend Beispiele von Menschen, die es nach oben geschafft haben? Wenn ein Bruchteil der Gesellschaft es bis zur Spitze schafft, indem er die Meisten hinter sich lässt, soll dies der Beweis sein, dass „jeder es schaffen kann.“

Pervers wird es, wenn ein Streiter für Gerechtigkeit – wie SPD-Schulz – seine Biografie vom jugendlichen Scheitern bis zum großen Aufstieg nutzt, um dieselbe Chimäre in die Welt zu setzen wie ein Milliardär namens Trump. Wenn von hundert Teilnehmern eines Wettlaufs nur ein einziger zum Gewinner des Laufs werden kann – soll das ein Beispiel dafür sein, dass alle es schaffen können.

Bei solchen Wahngebilden der Eliten wundern sie sich, dass die Abgehängten sich immer weniger mit Schuldzuweisungen abspeisen lassen und immer mehr nach einer anderen Wirklichkeit fragen – auch wenn sie diese Wirklichkeit noch nicht mit Leben füllen können. Es kann kein Zweifel herrschen, dass der Westen in eine Grundlagenkrise geraten ist. Der Konsens der Wohlstands- und Wiedergutmachungsjahre der Nachkriegszeit ist dabei, sich in Luft aufzulösen.

Wahrlich, jede Krise ist ein Fortschritt, jedes Krankheitssymbol beleuchtet eine Wunde, die nicht unter den Teppich gekehrt werden darf. Damit das Krankheitspotential aber nicht bösartig wird, müssen seine Gründe erkannt und abgestellt werden. Eins ist klar: die jetzigen Machteliten, die sich nur bedroht fühlen, werden den Teufel tun und sich an der Erforschung der Ursachen beteiligen. Alles, was sie tun, ähnelt dem Dissimulanten, der alle Symptome seines Unbehagens als Phantastereien verwirft.

Die Deutschen kreisen nur um sich selbst. Ihre Politiker äußern sich so gut wie nicht über die Lage Europas oder der Welt. Wenn jemand Gerechtigkeit fordert, meint er nationale Gerechtigkeit. Nicht mal die: sondern die Gerechtigkeit seiner Wählerkohorten.

Die SPD will Gerechtigkeit nur für Besitzer von Arbeitsplätzen. Alles andere ist für sie, was Marx Lumpenproletariat nannte. Auch Schulz ist, wie Schröder und Clement, für harte Sanktionen bei Hartz4-Menschen. Was völlig fehlt, ist der globale Aspekt der Gerechtigkeit, der globale Aspekt ökologischer Notwendigkeiten, der globale Aspekt jeder Wirtschaftsreform. Denn jeder Staat hängt mit jedem zusammen.

Der Weg ins Verhängnis des Dritten Reiches war nur möglich, weil die Deutschen, in Abgrenzung von West und Ost, sich für einen Sonderweg entschieden. Die Gesetze der Weltpolitik galten nicht für sie. Ihre messianische Erwählung musste einem Sonderweg folgen, um sich von Krethi und Plethi zu unterscheiden.

Wer anderen überlegen sein will, darf sich mit Plagiieren nicht begnügen. Von anderen lernen gilt hierzulande als epigonales Imitieren. Eine Genie-Nation hat ihren eigenen unvergleichlichen Weg zu finden. Den fanden sie auch: in der unvergleichlichen Bösartigkeit ihrer Welterrettung durch Weltvernichtung. Das war die perfekte Imitation eines gütigen Vaters im Himmel, der die Menschheit rettet, indem er sie zu 99% in die Hölle schickt.

Es ist durchaus nicht so, dass die Führungsklassen aus ihren barbarischen Selektionsplänen ein Geheimnis machen würden. Nach dem genialen Motto: nichts ist geheimer und geschützter als das Offenbare, legen sie dem Publikum deutlich genug ihre Pläne vor:

„Scharf auf junges Blut: Silicon-Valley-Milliardär und Trump-Fan Peter Thiel will den Tod überlisten.“ (ZEIT.de)

Diese phantastische Idee – eine Art fundamentalistischer Creationismus in technischer Form – wird es nie als Wirklichkeit geben. Würde sie realisiert, käme nur eine winzige Clique in Frage, um dieser Unsterblichkeit teilhaftig zu werden. Fast die gesamte Menschheit müsste ins Gras beißen. Glaubt jemand, dass solche höllischen Geschichtsziele veröffentlicht werden können, ohne die Leser in latente Panik zu versetzen?

Der normale Mensch glaubt es einfach nicht, dass solche Ungeheuerlichkeiten von wenigen geplant werden und seriöse Gazetten darüber berichten, als seien es Sportnachrichten. Die Reaktion des Lesers ist: ich muss verrückt sein, wenn ich solchen Wahn ernst nehme. Und dennoch: wenn es aber nicht verrückt wäre? Muss ich mich tatsächlich an den Gedanken gewöhnen, dass fast alle Menschen ins Gras beißen müssen, nur damit einige wenige davon kommen? Der psychische Irrealis, der sich als technische Realität vorstellt, ist die Spannung, die fast jeden Zeitgenossen in der Mitte zerreißt.

Solche Zumutungen geschehen alltäglich und malträtieren den Leser ins Unerträgliche. Fast kein Tag vergeht, ohne dass ökologische Katastrophen im Stil der Sensation berichtet werden. Gleichzeitig lassen die wirtschaftlichen Artikel keinen Zweifel an der Notwendigkeit eines Wachstums der Wirtschaft ins Unendliche. Auch hier die Double-Bind-Situation: Menschen, eure Chance auf Überleben geht gegen Null – nichtsdestoweniger tut weiter, als könntet ihr die Erde grenzenlos ausbeuten.

Hannes Stein hat die ultimative Katze aus dem Sack gelassen. Er hält eine überschwängliche Lobrede auf Elon Musk, der im Jahre 2024 die ersten Menschen auf den Mars schicken will.

„Gut so. Denn unsere Erde wird eines Tages kein guter Ort für die Menschheit mehr sein. Wir Menschen sind das Komplizierteste und Kostbarste, was es gibt: Wir sind die einzige Spezies, die eine Marie Curie, einen Johann Sebastian Bach, eine Harriet Tubman hervorgebracht hat (und einen Hitler und einen Stalin und einen Mao Tse-tung, aber das steht auf einem anderen Blatt). Unsere Gehirne sind die komplexesten Strukturen, die die Evolution produziert hat; durch unsere Augen fängt das Universum endlich an, sich selber anzuschauen. Und darum müssen wir unsterblich werden. Die Erde ist die Wiege der Menschheit, sie darf nicht zu ihrem Grab werden.“ (WELT.de)

Die Menschheit ist einzigartig im Universum, die absolute Krönung der irdischen Evolution – oder gar eines göttlichen Willens? Sie darf Planeten für Planeten zum Zweck ihres Vagabundierens verheizen. Denn sie hat unvergleichliche Genies hervorgebracht. Dass unter ihnen auch Völkerverbrecher sind – was soll‘s: das „steht auf einem andern Blatt“.

Das Geniale in seiner Bösartigkeit muss als Kollateralschaden akzeptiert werden. Auch auf dem Mars droht die Gefahr eines Dritten Reiches. Solche Kleinigkeiten müssen riskiert werden. Der Mensch ist so einzigartig, dass er die gesamte Flora und Fauna eines Planeten für seinen Fortschritt in Nichts zerstäuben kann.

Auf eine delikate Kleinigkeit geht Stein nicht ein: wer wird beim Schlange stehen vor den Mars-Raketen von wem auserwählt und wer wird dem Genocid überlassen? Hier wird die Offenbarung des Johannes zur realen Sciencefiction. Solche Super-Faschismen dürfen in seriösen Zeitungen veröffentlicht werden, die sonst alles dran setzen, den Umschlag einer Demokratie in ein totalitäres System zu verhindern. Man fragt sich: ist das eine neue Form eschatologischer Satire – oder ist das ernst zu nehmen?

Kann die Menschheit ohne Gesundheitsschäden im feindlichen Weltall überhaupt überleben?

Antwort: die Exkremente des Menschen werden ihn retten:

„Wie verhindert man, dass die kosmische Strahlung dazu führt, dass sie bei ihrer Ankunft alle unheilbar an Leukämie erkrankt sind? (Vielleicht müssen ihre Exkremente das Raumschiff umgeben wie ein schützender Kokon. Im Weltraum stinkt nichts, und Kohlenstoffverbindungen sind ein hervorragender Strahlenschutz.)“

Freuet euch, Menschen. Eure Scheiße wird euch retten.

 

Fortsetzung folgt.