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Neubeginn LI

Hello, Freunde des Neubeginns LI,

einmal im Jahr trifft die Kanzlerin ihre medialen Paladine und zeigt ihnen, was sie denken, indem sie ihnen zeigt – was sie selbst denkt. Abgesehen von diversen Kleinigkeiten, die die Langeweile des Wahlkampfes bekämpfen sollen, denken Merkel und „ihr Land“ dasselbe. Nicht Merkel ist das Problem, sondern das Land, das sich von ihr repräsentiert fühlt.

L’etat, c’est moi, intonierte bereits ihr französischer Kollege, der Überflieger, mit Versailler Fanfaren. Da will die deutsche Regierungschefin nicht zurückstehen. Die graue Maus spielt sie nur, sie ist die mächtigste Frau der Welt. „Das ist mein Land“: erklärt sie ihren Besitzanspruch, der wie ein unbehendes Liebesgeständnis klingen soll. In wenigen Wochen wird das Land überschwänglich antworten: „Seht, das ist unsre Kanzlerin. Sie weiß, was wir denken, sie denkt und fühlt wie wir. Wir lassen uns nicht trennen. Wir sind eins.“

Die edelschreibenden Söhne fühlen sich Muttern überlegen, was nicht bedeutet, dass sie anders dächten. Die kritischen Kritiker müssen sie nur für das Publikum spielen. Also mühen sie sich, sich irgendetwas aus den Fingern zu saugen. Ihre Artikel beginnen mit bemühter Skepsis und enden in regelmäßigen Stoßseufzern der Erleichterung: Sie ruht in sich. Sie bleibt gelassen. Noch nie war sie so souverän. Man kann ihr glauben. Keine Antwort bleibt sie schuldig und ist kompetent bis über beide Ohren. Sie lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie ist sachlich, nüchtern und – bescheiden.

Bescheidenheit hat Demut abgelöst, damit niemand den Paladinen Sehnsucht nach dem Reich Gottes nachsagen kann. Der Unterschied zwischen beiden Wörtern – ein Unterschied wie zwischen Jenseits und Diesseits – kennen sie nicht und wollen sie nicht kennen. Wörter sind für sie assoziative Schwarmbildungen, die man eher mit Geschmacksnerven steuert, als mit dem rohen Satz des Widerspruchs.

Ein obligatorischer Satz bei der Berichterstattung aus dem Allerheiligsten lautet: Für einen Lacher sorgte Merkel, als sie …Wer für einen Lacher sorgt, hat das Match

gewonnen. Jene Kollegen, die noch immer heimlich am Thron der Königin sägen, wären mit dem Lacher entlarvt und widerlegt. Befreites Lachen bei jenen, die noch zitterten, ob die einst hinterwäldlerische Mutter den Fallstricken des freien Westens gewachsen ist. Heureka, sie ist und zeigt es allen. Auch sind sie stolz auf sich, dass sie Muttern so wirksam vor den Fallen der Wüstlinge gewarnt haben.

Merkels Aufstieg ist zugleich der Aufstieg der deutschen Presse, die sie mit einem cordon sanitaire umgab, sich als Sparringspartner zur Verfügung stellte.

Deutschland ist zu einem Mutterkuchen zusammengebacken. Die pubertäre Epoche der „dogmatischen Ideologien“ ist vorbei. Auch hier sind sich Macron und Merkel einig: links und rechts sind überwundene Extremismen. Der Sieg der Mitte hat alle radikalen Randläufer verschluckt. Its economy, stupid.

Die Chancen eines einheitlichen Weltbildes steigen mit der ökonomischen Überlegenheit über andere Länder. Hat ein Land eine gesunde Schicht von Tycoons und ausreichende Kohorten von Elitenbeschützern, -erklärern und -rechtfertigern, sind die Scharmützel um Gerechtigkeit endgültig Schnee von gestern. Welterklärungen und Weltdeutungen sind nur für arme Schlucker, die nicht zugeben wollen, dass sie Verlierer sind. Loser.

Loser der Moderne – das sind die Aussätzigen von heute. Sie verstehen nicht, was läuft und angesagt ist. Sie verstehen die Gesetze der Geschichte nicht, verstehen nicht, dass Menschen in der Geschichte nichts zu sagen haben. Sagen jene, die alles zu sagen und zu bestimmen haben. Aber nur, wenn Geschichte ins Reich des Wohlstands führt. Wenn sie in den Kollaps führt, waren sie unschuldig.

Wer an politische Entscheidungen glaubt, ist ein Verschwörungstheoretiker. Entscheidungen fallen, fallen wie von weit. Denn die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Geschichte begann mit dem Sünden-Fall. In Sünden gefallene Geschöpfe sind blinde und taube Autoren einer Geschichte, die keine sein dürfen.

Im frommen Texas bestrafen Sintfluten die sündigen Amerikaner. Gibt es eine Ursache der Fluten? Sollten Menschen mit ihrer Klimaverschärfung etwa die Sintfluten selbst heraufbeschworen haben?

Medien und Politiker veranstalten ein Kasperletheater. Im Grunde haben sie alle dieselbe Meinung, tun aber, als lebten sie in verschiedenen Welten.

Jetzt aber kommt – Tusch – ein neuer Faktor: die Frauen, in Gestalt dreier dominanter Ladys im Kanzleramt, sind den Männern überlegen. Nicht, weil sie mit weiblichen, sondern weil sie die Männer mit deren eigenen Waffen schlagen. Sie überlassen nichts dem Zufall, analysieren peinlich genau, wie Männer ticken – und schlagen blitzschnell zu. Sie jagen die Männer vor sich her, weil diese ihre einstigen Fähigkeiten verloren haben.

Ein Beispiel unter vielen: Journalisten warfen Merkel vor, dass sie ihren Herausforderer ignoriert. In der Pressekonferenz packte Merkel den Stier bei den Hörnern und erwähnte selbst den Namen Schulz. Als sie schließlich gefragt wurde, warum sie ihn mit Schweigen überginge, lächelte sie in innerlicher Überlegenheit: sie habe ihn doch mit Absicht selbst erwähnt.

Unglaublich, aber wahr, die Schreiber konnten sich nicht vorstellen, dass Frauen beobachten, was sie in ihren Gazetten berichten – um mit gezielten Aktionen zurückzuschlagen. Selbstgefällige Männer sind unfähig, sich einen fiktiven Dialog über mehrere Etappen vorzustellen. Schon gar nicht mit Frauen. Immer wieder sind sie erstaunt über die Schlagfertigkeit Merkels, die sie jedoch über viele Jahre mühsam einstudieren musste.

Merkel, wie ihre Vertrauten Baumann und Christiansen, nehmen die Männerwelt wahr und sinnieren auf Mittel, deren Überlegenheit durch planmäßige Gegenaktionen aufs Kreuz zu legen. Die drei Frauen sind keine Feministinnen. Doch zum ersten Mal in der Geschichte haben Männer Angst vor mächtigen Frauen. Machos wurden reihenweise von ihnen degradiert und kastriert.

Was war geschehen? Die weibliche Beschädigungsangst, Männer nicht ernsthaft attackieren zu dürfen – weil sie fürchten, von beschädigten Männern selbst beschädigt zu werden –, hielt sie davon ab, ihre Ernährer und Beschützer ernsthaft über Bord zu werfen. Dieser neuralgische Punkt im Geschlechterkampf scheint überschritten. Immer weniger haben Frauen Angst, die Männer vom Tisch zu fegen. Ihr gestiegenes Selbstbewusstsein fürchtet sich nicht mehr vor den Folgen eines nachhaltigen Vatermords.

Ist die Gesellschaft auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft? Noch nicht. Vor irdischen Männern zwar fürchten sich die Frauen immer weniger – aber nur, weil sie sich mit dem allmächtigen Vater verbündet haben. Das war die Urstrategie der ersten Jüngerinnen Jesu, die sich dem Erlöserglauben ergaben, um die Dominanz der irdischen Unterdrücker und das Elend der Schwachen zu beenden. Es waren ausnahmslos Frauen, die den Messias in gefährlichen Situationen nicht allein ließen. Während die männlichen Jünger sich rechtzeitig aus dem Staube machten, weil sie dachten, ihr Erlöser sei doch nur ein schwächlicher Versager.

Doch die einfallsreiche Strategie, sich mit dem himmlischen Vater zu verbünden, um irdischen Vätern aufs Haupt zu schlagen, schlug schrecklich fehl. Der Tyrannei des irdischen Mannes wollten sie entkommen – und landeten in der Tyrannei des himmlischen. Sie glaubten den Sirenengesängen: „Da ist nicht Mann noch Frau“. Konträre Stellen nahmen sie nicht zur Kenntnis. „Dein Verlangen gehe nach dem Manne, doch er soll dein Herr sein. Die Frau schweige in der Gemeinde“.

Das Bündnis mit dem Vater im Himmel wurde zur verheerendsten Falle in der Geschichte des Feminismus. Die Erwartung der Frauen, der allmächtige Mann werde das Regiment ungerechter irdischer Männer zum Teufel jagen, erwies sich als schreckliche Täuschung. Das römische Reich versank zwar im Nichts der Geschichte, doch das politische Regiment des jenseitigen Vaters wurde tyrannischer als alle Regimes irdischer Männer zusammen.

Im Hellenismus und im Römertum hatten sich die Frauen bereits in hohem Maße emanzipiert. Die Philosophie der Menschenrechte ermutigte sie, die Bastionen der Männer zu schleifen. Als aber der Papst in Rom zum Erbe des riesigen Reiches wurde, verschwanden die Frauen wieder im Nichts der Geschichte – schlimmer denn je zuvor.

Es dauerte 1000 Jahre, bis die Frau wieder ein wenig das Haupt erheben durfte. Selbst die Französische Revolution dachte nicht daran, die Rechte der Frau mit den Rechten des Mannes gleichzustellen.

Noch heute wird die Frau dafür bestraft, dass sie noch immer Kinder zur Welt bringt und erzieht – und nicht imstande ist, ihre Welt mit der Welt des Kapitalismus in Einklang zu bringen. Immer noch muss sie sich nach dem Manne sehnen, weil er der Hauptverdiener ist, von dessen Geld sie abhängt. Was sie tut, ist immer minderwertig im Vergleich mit dem Tun des Mannes, der für den heiligen Fortschritt sorgen darf und Geld für seine Erwerbsarbeit erhält.

Nur jene Frau gilt heute als frei, die sich der Naturbeschädigungsarbeit widerstandslos unterstellt. Der Mann muss seine entfremdete Arbeit nicht mit den Bedürfnissen seiner Familie verträglich machen. Die Frau hingegen darf nichts unterlassen, um sich der Welt der männlichen Arbeit einzuordnen.

All dies geschieht auf Kosten der Kinder, die nie gefragt werden, welches Leben sie leben wollen und sich den Zwängen ihrer Eltern unterordnen müssen.

Nein, es ist keineswegs so, dass Kinder nicht mit anderen Menschen auskommen könnten. Ja, sie brauchen ein ganzes Dorf, um das Kaleidoskop menschlicher Charaktere kennenzulernen und sich in der Welt zu orientieren. Doch es ist ein fulminanter Unterschied, ob Kinder sich freiwillig entscheiden, sich in die Obhut anderer Menschen zu begeben oder ob sie dazu gezwungen werden.

Von freier Entscheidung kann heute keine Rede sein. Kinder werden abgeschoben. Ein großer Teil ihrer Erziehung wird outgesourct. Sie müssen sich in fremde Welten begeben, ob sie wollen oder nicht. Gäbe es noch intakte Großfamilien, gäbe es auch genügend Großeltern, Verwandte und Geschwister, die sie in Obhut nehmen könnten. Doch Familien müssen zerschlagen werden. Elementare Beziehungen müssen sich frühzeitig lösen, um die Manipulationsmacht über die Vereinzelten und Isolierten ins Unermessliche zu treiben.

Immer unterstützt von Psychoexperten, die das Wort Gesellschaft oder Kapitalismus nicht mit der Zange anfassen. Für sie sind alle seelischen Defekte Produkte der Kleinfamilie. Dass Familien unter dem Druck der Gesellschaft selbst neurotisch werden, wollen Seelenklempner nicht zur Kenntnis nehmen.

Es ist zu einer großen Dichotomie gekommen. Die Vertreter der Ökonomie kennen keine Menschen mit Innenleben, die Vertreter der Psychotherapie keine Gesellschaftswesen. Wie Trump von Experten mit lächerlich apolitischen Diagnosen verniedlicht wird, kennen Ökonomen keine Menschen mit einem gefährdeten Innenleben. Für sie ist der Mensch eine ökonomische Rechenmaschine – ein homo oeconomicus rationalis –, die nichts als ihren egoistischen Interessen folgt und sie selbst am besten zu befriedigen weiß.

Noch immer ist die Frau mehr vom Manne abhängig als der Mann von ihr. Dennoch scheint die Angst der Frau vor dem Verlust des Mannes lange nicht mehr so groß zu sein, als dass Frauen es nicht immer mehr wagten, ihr Leben auch ohne Männer zu leben. Im männermordenden Trio Merkel, Baumann, Christiansen beweisen Frauen zum ersten Mal in der politischen Geschichte der Deutschen, dass sie keine Angst mehr haben, die Männer zu entmythologisieren. Wie diese weibliche Dreieinigkeit die Geschicke des Landes lenkt, indem sie die Männer wiegt und zu leicht befindet, sie gegeneinander ausspielt und dem Gespött preisgibt, das ist ein historisches Datum.

Die Dummheit der Männer zieht nicht einmal in Erwägung, dass Frauen ihnen überlegen sein könnten. Nur seltsam, dass Männern in der Nähe des Kanzleramts die Knie zu schlottern beginnen. Dass Merkel & Co sie nach Strich und Faden einseifen, das geben sich deutsche Männer nicht zu. Noch immer glauben sie, dass es ihr jovialer Großmut ist, der die Mutter im Amt hält. Doch es ist wie bei Hase und Igel. Immer wenn Männer eine Schwachstelle bei der Kanzlerin zu sehen glauben, ist sie schon dabei, sie blitzschnell auszuwetzen. Nicht in Taten, sondern in Worten. Taten gehen ungerührt ihren schiefen und bigotten Weg.

Das kümmert hierzulande niemanden. Niemand, der hier auf sich hält, ist Anhänger einer politischen Moral. Anstand – unbedingt. Aber nur privat. Im persönlichen Leben versteht sich Anstand von selbst. Doch Moral in der Welt des Hasses und der Feindschaft? Das wäre eine Illusion, dazu eine gefährliche. Entweder liefert sie den „Idealisten“ der Bosheit der Welt aus, oder sie greift zum Zwang, ihre Normen zu verallgemeinern – und wird totalitär.

Dem Schein nach bewerten die Deutschen ihre Kanzlerin nach Kriterien reiner Moral. In Wirklichkeit sind sie davon überzeugt, dass eine solche Moral zur Lebensunfähigkeit führt – und rechtfertigen Merkel vor sich selbst, sie könne gar nichts anderes tun, als à la longue Flüchtlinge im Meer sterben zu lassen. Würden sie denn, wenn sie an der Macht wären, auch nur im Geringsten anders handeln? Wenn Beobachter und Beobachtete dasselbe amoralische Korsett tragen, wie sollte es da zu einer glaubwürdigen Kritik kommen?

Also tun beide Seiten, als wollten sie moralisch sein. In Wirklichkeit sind sie überzeugt, dass es selbstmörderisch wäre, dem kategorischen Imperativ zu folgen. Ein Kasperlespiel besteht darin, dass sich alle mit Moral dekorieren, während sie Moral im politischen Raum geradezu für gefährlich halten. Was wir heute sehen, ist ein Pendant zum Bauernstadl, eine Art Elitenstadl, das seit Jahren vor den tumben Augen des Publikums aufgeführt wird. Merkels Stadlmethoden zeigen sich am unverhülltesten an ihrem Verhalten gegenüber Kindern und Heranwachsenden:

Als Kinder die Kanzlerin nach besonderen politischen Erlebnissen im Guten und im Schlechten fragten, antwortete Merkel: neulich habe sie eine Bonbonfabrik besuchen dürfen. Ewiges Fliegen im Hubschrauber hingegen würde ihr Ohrensausen verursachen. Einer Studentin, die sie befragte, was man lernen solle, antwortete sie: lesen, schreiben und rechnen. In beiden Fällen werden junge Menschen nicht ernst genommen und infantilisiert.

Genau genommen traktiert Merkel die Journalistenmeute keinen Deut anders. Die Frage nach dem Ignorieren von Schulz beantwortet sie mit der Frechheit, sie habe heute extra den Namen erwähnt. Eine Antwort ist das nicht. Das ist dreistes Übersmaulfahren: ich weiß, dass ihr keine echten Antworten erwartet und ihr wisst, dass ich es weiß.

Solche sinnleeren Antworten gibt sie permanent. Klingen sie kess, lachen beide Seiten – und halten die Öffentlichkeit zum Narren, die mit solchen Schmarren abgespeist wird. Merkel ist sich für völlig sinnfreie Sätze nicht zu schade: „«Jetzt werden wir nicht auf einmal alles verbessern können, aber deshalb einfach nichts zu tun, halte ich für falsch», betonte die Kanzlerin.“ Wer, bitte schön, glaubt, dass alles auf einmal verbessert werden kann? Wer glaubt das Gegenteil?

Warum wird Merkels leere Rede nicht bemerkt und gerügt? Weil für die meisten Deutschen die Zeiten sinnvoller Reden passé sind. Niemand kann rechtfertigen, was geschieht. Alle werden vom schlechten Gewissen geplagt, dass wir gewissenlos durch die Geschichte wildern. Umso dankbarer sind wir Merkel, wenn sie das kollektive schlechte Gewissen der Nation auf sich lädt und dennoch den Eindruck erweckt, als handele sie frisch, fromm und frei im Auftrag Gottes. Als Magd Gottes ruht Merkel nicht in sich, sondern in ihrem Gott.

Da die meisten Deutschen sich Christen nennen, aber nicht wissen, was sie vom Glauben halten sollen, sind sie dankbar für die Frau, die Gottvertrauen pro nobis zelebriert. Lutherisch müsste man von Rechtfertigung sola matre (allein durch Mutter) sprechen. Die Kirche muss im Dorf bleiben – auch wenn die Welt im Argen liegt. Eben dies ist das stellvertretende Opium des deutschen Volkes. Man möchte nicht mehr selbst inhalieren, sondern legt Wert auf eine Obrigkeit, die solche Selbstentmündigungen unauffällig durchführt.

In welch exorbitantem Maß die Kanzlerin ihre Untertanen für unmündig und politikunfähig hält, entlarvt ein Satz, der in einem Kommentar von Jakob Augstein nachzulesen ist:

„Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen.“ (SPIEGEL.de)

Streng genommen sind diese Sätze das Ende der Demokratie. Wer glaubt, alles allein machen zu müssen, weil er einer höheren Erkenntnisschicht angehört, der hat sich von der Herrschaft des Volkes verabschiedet. Er hält seine Untertanen für sündige Hohlköpfe, denen man vorgaukeln muss, man lege Wert auf ihre Meinung. In Wirklichkeit hält man sie für gemeingefährliche Bestien, die man subkutan betäuben muss, um sie am törichten Agieren zu hindern.

In diesem Zitat entlarvt sich Merkel als Nachfolgerin von Honecker. Im real existierenden Sozialismus war es immer eine erleuchtete Funktionärselite, die alles in die Hand nehmen musste, um das Reich der Freiheit anzusteuern. In Merkel hat der Sozialismus christlicher Färbung die westdeutsche Demokratie unterwandert und in Besitz genommen. Da die Deutschen Merkel für alles absegnen, erklären sie die Form einer palliativen Theokratie für genau das, was sie für ihr Heil benötigen.

Und dennoch spürt das Publikum den Schwindel des frommen Kasperletheaters. Doch es ist unfähig, ihn schonungslos zu desavouieren. Der wabernde Unmut schafft sich Raum in den Katakomben der sozialen Medien. Je mehr die Öffentlichkeit dem elitären Seifensieden auf die Spur kommen wird, umso weniger wird sie genötigt sein, ihr Unbehagen in ungefilterter Brutalität zu ventilieren.

Es gibt keine Revolution als perfektes Umkippen eines Bösen in ein Gutes. Viele Aufklärer blieben noch lange von religiösen Elementen kontaminiert, ohne dass sie es wahrnehmen konnten. Nicht anders in der Geschichte der Emanzipation. Ausgeschlossen, dass Frauen, die sich von der Vorherrschaft der Männer befreien, über Nacht ganz neue Wesen werden könnten. Selbst die Stärksten zeigen die Wundmale ihrer Vergangenheit.

In Berlin haben listige Frauen die Macht übernommen und bekämpfen die Männer mit überlegener Intelligenz. Allerdings – mit Methoden männlicher Intelligenz, die von heutigen Männern nicht mehr beherrscht werden. Kaum ein Mann weiß, dass Merkel eine christliche Machiavellistin ist. Ihre amoralische Politik entstammt zwei Quellen: vor allem der christlichen Antinomie, nach der alles erlaubt ist, was aus Glauben geschieht. Auch die größten Sünden. Dann der griechischen Naturrechtslehre der Starken, die sich keinen sittlichen Einschränkungen beugen wollten, weil sie von der Natur mit Macht und Stärke begabt worden seien. Dem Pöbel Rechenschaft abzulegen: das gehöre nicht zu den Pflichten derer, die außerhalb von Gut und Böse stehen. Das waren die griechischen Vorläufer von Nietzsche.

Machiavelli war kein Anhänger der Tyrannei. Er wollte die beste Regierungsform für das Volk, die aber nur von klugen und listigen Fürsten erhalten werden könne. Ein idealer Herrscher ist erfüllt von Entschlossenheit, Großmut, Klugheit und Gerechtigkeit. Also alles bestens?

Woher dann die Aufregung beim Erwähnen des berüchtigten Namens? Der Renaissance-Autor war kein Demokrat. Das Volk hielt er für eine unberechenbare räudige Masse, die der Fürst mit List und Tücke unter Kontrolle halten muss. Dazu muss er viele Rollen spielen können. Vor allem die Rolle des gütigen, freundlichen Landesherrn, der alles zum Wohle seines Volkes unternimmt. Politik aber wird er mit Moral nicht verwechseln. Mit reiner Moral wird ein Volk zum Opfer seiner habgierigen und gehässigen Nachbarn. Moral ist nur für das private Leben. Im überprivaten Kampf aller gegen alle hilft nur Tücke, List und Gewalt. Der Fürst soll alles unternehmen, um sein Volk zufriedenzustellen – aber mit Mitteln, die dem ethischen Gefühl des Volkes nicht entsprechen können. Also müssen die Untertanen – zu ihrem eigenen Vorteil – hinters Licht geführt werden. Machiavelli propagiert einen patriarchalen Amoralismus, dessen notwendige Brutalitäten dem Volk verborgen werden müssen.

Fast alle deutschen Dichter und Denker waren emphatische Bewunderer des Florentiners. Friedrich der Große schrieb in seiner jugendlichen Kritik an Machiavelli den von reiner Moral geprägten Satz: „Machiavelli verdarb die Staatskunst und unternahm es, die Lehren der gesunden Moral zu vernichten.“ Im Alter war er desillusioniert und revidierte seine jugendliche Torheit: „Es tut mir leid, aber ich bin gezwungen zu gestehen, dass Machiavelli recht hat.“

Hegel, Fichte, Nietzsche waren Bewunderer der raffinierten Kunst, das Volk mit allen bedenklichen und unbedenklichen Mitteln zu beglücken. Bei der Belagerung von Mainz äußerte Goethe, ohnehin kein Freund des Pöbels: „Es liegt nun einmal in meiner Natur: Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen.“ Nicht zu Unrecht wurde der Olympier von Börne als Fürstenknecht bezeichnet.

Merkel ist die erste Frau in der Geschichte der Deutschen, die das Männerhandwerk der Macht so exzellent beherrscht, dass sie die degenerierten Männer zu folgsamen Statisten verurteilt. Doch dies hat sie nur dadurch erreicht, dass sie in die verhängnisvolle Tradition des deutschen Machiavellismus zurückgekehrt ist.

Als Frau hat sie es geschafft, die Männer an den Rand zu drängen. Doch der Preis ist hoch, den sie für diesen Triumph bezahlen muss. Sie besiegt den Mann, indem sie selbst zum amoralischen Übermann wurde.

Aung San Suu Kyi, die burmesische Friedensnobelpreisträgerin, ist der deutschen Kanzlerin durchaus vergleichbar. Lange Jahre setzte sie sich mit weiblichem Friedenswillen den Generälen ihres Landes entgegen. Kaum an die Macht gekommen, überidentifiziert sie sich mit den Brutalitäten ihrer ehemaligen Gegner – und schweigt zur Völkervertreibung der Rohingya. (SPIEGEL.de)

Merkels Regiment hat nur noch auf der legalen Ebene mit Demokratie zu tun. Wie könnten ihre Wahlkampfmethoden urdemokratische sein?

 

Fortsetzung folgt.