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Natur brüllt! XCVI

Tagesmail vom 12.07.2024

Natur brüllt! XCVI,

Die Menschheit erledigt sich selbst in Satire und Elend.

Riesige Menschenmassen fliehen aus ihrem Geburtsland, erhoffen sich in der Welt eine bessere Heimat zu finden und erreichen – das Gegenteil.

Die Sonne verbrennt ihr Herkunftsland, gigantische Fluten überschwemmen, was übrig bleibt, vernichten die Reste der Mutterböden und verwandeln alles in Wüste.

Die Menschheit mit der prächtigsten Kultur der Geschichte, die es bis zur Eroberung des Mondes und des Mars geschafft hat, will ihre unbewussten Vorbilder übertreffen – und wartet auf das Wunder der Archen.

Doch bislang zeigt sich kein Noah, kein Erlöser. Man wird doch nicht misslaunig und pessimistisch werden, um der Gattung jede Chance zu nehmen!?

Auf zu den Sternen, um wenigstens die Überreste der Erde zu retten. Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht. Sind wir so geistlos, um uns immer nur stumpfsinnig zu wiederholen?

Der mächtigste Mann der Welt verwechselt Freund und Feind, die Verbündete mit dem hassbegierigen Gegner?

Immer mehr Menschen warten darauf, dass der wankende Gigant endlich zurücktritt, um Tüchtigere ans Ruder zu lassen.

Doch der Greis will der Welt beweisen, dass er dem Nachwuchs nicht so vertrauen kann wie seiner eigenen Kraft.

Kommen denn jetzt nicht die glanzvollen Tage der Feste, die dem Pöbel zeigen, was die Menschheit erreicht hat?

Nur wer keine Arbeit hat, verfällt der Gnade der Oberen. Nur, wer nicht mehr arbeiten will, wartet auf die Speisung von Oben.

„In der Hauptstadt überwog das Proletariat, und dieser Pöbel war wilder, roher und verdorbener als in modernen Weltstädten, weil hier wie nirgends der Auswurf aller Nationen zusammenfloss und doppelt gefährlich, weil er großenteils müßig war. Die Regierung sorgte durch regelmäßige Getreideverteilungen für seinen Unterhalt, und die Folge war, dass sie auch die Sorge für seinen Zeitvertreib übernehmen musste. In einer Broschüre über die Neuordnung des Staats heißt es, der Regent müsse darauf bedacht sein, dass der durch Geschenke verdorbene Pöbel seine Beschäftigung habe, durch welche er von der Schädigung des öffentlichen Wohls abgehalten werde.

Die bekannten Worte für diese Staatstätigkeit waren panem et circenses, Brot und Spiele. Brot und Spiele wurden in Rom bald nicht mehr als Gnade der Regierung, sondern als Recht des Volkes angesehen. Jede neue Regierung musste wohl oder übel die Hinterlassenschaft ihrer Vorgänger antreten, und in Pracht und Großartigkeit dieser Feste haben die besten Kaiser mit den schlechtesten gewetteifert. (Friedländer, Sittengeschichte Roms)

Ganz so weit sind wir noch nicht. Noch wollen die Zöglinge des Kapitalismus arbeiten, um nicht unter den Brücken schlafen zu müssen. Noch müssen sie die Obrigkeiten ernähren und den Reichen gestatten, mit luxuriösen Schiffen über die Ozeane zu schippern, um ihren Liebsten die Welt zu zeigen.

Die Welt, die sie zwar nicht erschaffen, aber mit unermüdlichem und technischem Maschinenfleiß in ein Urlaubsparadies verwandelt hatten.

Die Tüchtigen hatten sich die Welt untertan gemacht, nun wollten sie die Früchte ihrer bezahlten Fremdarbeit von morgens bis abends genießen.

Sie selbst arbeiteten nicht mehr, jedenfalls nicht mehr im Schweiß ihres Angesichts: sie ließen arbeiten. Gegen ein schäbiges Entgelt für die abhängigen Massen.

Volksfeste gab es täglich, von morgens bis abends. Selten in Stadien, zumeist in den eigenen vier Wänden, wo sie gemütlich einen Apparat einschalten konnten, um sich an der Lust der Welt zu vergnügen.

Ja, gewiss, sie wussten, dass sie Erben einer ungeheuren Vergangenheit waren, eines außerordentlichen technischen Fortschritts, einer unfassbaren Genialität und einer grenzenlosen Erfindungskraft.

Sie waren die Götter und Herren der Weltgeschichte geworden. Wer die Früchte dieser Entwicklung mitgenießen wollte, musste sich daran beteiligen, sie zu bewundern und zu verherrlichen.

„Ihnen war das Erbteil einer unfassbaren Vergangenheit zugefallen, noch immer gehorchte ihnen die Welt, das Ungeheure war ihnen geläufig, das Unglaubliche alltäglich, und das größte Wunder der alten und neuen Welt, das ewige Rom, hatten sie stets vor Augen.“

Das ewige Rom ist heute zu einer allpräsenten Maschine geworden, die man beliebig aus- oder einschalten kann. Denn das ist das Geheimnis der Maschine geworden, dass sie heute die Welt mit all ihren Schönheiten und Merkwürdigkeiten präsentieren kann. In dieser Hinsicht ist der Pöbel von heute dem einstigen Volk von Rom weltenweit überlegen.

Früher traten Gladiatoren Mann gegen Mann an. Aber auch förmliche Schlachten wurden geliefert, in denen Tausende fochten und nach welchen der Boden mit Leichen bedeckt war, und historisch berühmte Seeschlachten, teils auf größeren Wasserflächen, teils in der überschwemmten Arena des Amphitheaters wurden in voller Wirklichkeit dargestellt.

Doch bei solchen Harmlosigkeiten blieb es nicht. Die abgestumpften Nerven des vornehmen und niederen Pöbels mussten immer mehr gereizt werden: „Das Seltsamste musste erdacht, das Unsinnigste und Widernatürlichste hervorgesucht werden, um dem kannibalischen Schauspiel neue Würze zu geben. Domitian gab Tierhetzen und Gladiatorenspiele bei Nacht und die Schwerter blitzten beim Schein von Lampen und Kandelabern. So waren im Lauf der Jahrhunderte die Gladiatorenspiele aus kleinen Anfängen ins Ungeheure gewachsen.“

Der Reiz der damaligen Gladiatorenspiele wird heute ersetzt durch die „unvorstellbaren Wunder des Fortschritts“, sei es in sensationellen Erfindungen oder unfasslichen Entdeckungen.

Die besten Unterhalter der Welt beteiligten sich am Wettbewerb, welche Nation ihr träges Publikum am besten über die lästige Zeit bringen konnte. Die Unterhaltungsmaschinerie des Staates bedurfte ständig neuer Reize und Höchstreize. Der Kopf, das Denken – wurde täglich mehr vernachlässigt.

Philosophische Gespräche oder literarische Sendungen mit geistiger Anstrengung gibt es immer weniger.

Immer öfter Sport, Politik nur noch dann, wenn sich Sensationen ankündigen.

Bestand die Gesellschaft vor allem aus Pöbel? Gab es keine geistigen Beobachter des Zeitgeschehens mehr? Oh doch, die gab es – noch eine gewisse Zeit, bis das Christentum den Staat überwältigt und die Weisheit der Welt gegen die Weisheit des Himmels verloren hatte.

Die Weisen hatten es schwer. Viele hatten sich – im Gegensatz zu Athen – zurückgezogen, um ein stilles Leben für sich zu leben. Die Stoiker hatten sich in der Begründung der allgemeinen Menschenrechte „ohne Beleidigung eines Mächtigeren“ aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen.

In einem Brief hieß es, man müsse mit der Philosophie nicht prahlen, denn für viele sei sie eine Ursache der Gefahr geworden: „Sie solle deine Fehler tilgen, nicht andern die ihren vorwerfen. Sie entferne sich nicht von der allgemeinen Sitte, und scheine nicht das zu verdammen, was sie vermeidet. Man kann ohne Prunk, ohne Gehässigkeit weise sein.“

Schon der Name der Philosophie sei verhasst, auch wenn er mit Bescheidenheit ausgesprochen werde. Man solle die Philosophie nicht als Aushängeschild benutzen, selbst seine Zurückgezogenheit sollte man verbergen und vermeiden, dass sie zum Gegenstand des Gesprächs werde oder die Aufmerksamkeit der Menschen errege.

Der Masse musste die Philosophie wegen ihrer hohen sittlichen Anforderungen, ihrer strengen Verurteilung laxer Moral in höchstem Grade unbequem, ja lästig gewesen sein. Die meisten Menschen hatten die Philosophen in Verdacht, dass sie alle Nichtphilosophen im Stillen verachteten wegen ihres Erkenntnismangels.

Ebenso gründlich verachteten die Geld- und Geschäftsleute die Philosophen. Trimalchio hatte angeordnet, auf seinen Grabstein zu schreiben:

„Er hat klein angefangen und ist groß geworden; er hat 30 Millionen Sesterzen hinterlassen und nie einen Philosophen gehört.“

Der Vorwurf der Nutzlosigkeit wurde auch aus gebildeten Kreisen erhoben und zwar im Namen des gesunden Menschenverstandes, der sich damals schon zutraute, dieselben Resultate zu erzielen wie die Spekulationen auf mühsamen Umwegen.

Besonders die Philosophie wurde von denen angegriffen, welche die Beredsamkeit als Ziel ihrer Bildungsbemühungen ansahen. Der alte Streit zwischen Rhetoren und Philosophen führte oft zu unersprießlichen Zwistigkeiten.

Die viel erörterte Frage, ob Tugend gelehrt werden könne, wurde verneint. Zudem seien die Bemühungen derer, die Philosophie studieren, gar nicht auf den wirklichen Zweck gerichtet, sondern auf unselige Wortklaubereien, Syllogismen und Trugschlüsse.

Hier kommen wir der Gegenwart näher. Anstatt nach der Frucht zu streben, arbeiten sich die meisten an der Rinde ab und schütten die Blätter übereinander.

„Feuilleton ist abgeleitet von frz. feuillet ‘Blatt von einem Bogen’, gebildet zu frz. feuille ‘Blatt, Bogen, Papier, Zeitung’ (aus vlat. folia ‘Blatt‘).“

Hier bildet sich der gefährliche Charme des modernen Feuilletons, der mit Glamour seine Leser einfangen will, ohne den er nicht paradieren kann.

Es war eine außerordentliche Leistung der Philosophie, von Athen bis Rom durchgehalten zu haben. Doch ohne Substanzverlust war der Wechsel in ein Weltreich nicht zu machen.

Dann kam der Zusammenstoß zwischen heidnischem Denken und christlichem Glauben.

Ursprünglich hielten die Urchristen nichts von der weltlichen Philosophie. Doch je mehr sie das Leben des römischen Reiches bestimmten, umso mehr Kompromisse schlossen sie.

Vor allem Aristoteles wurde für die Gläubigen umso interessanter, je mehr der Vatikan Argumente benötigte, um seine wachsende Weltgeltung in allen Dingen unter Beweis zu stellen.

Thomas von Aquin übernahm Aristoteles als Lehrer der Naturwissenschaft – im unteren Bereich der Natur. Im Bereich der Gnade hatte der Heide nichts zu suchen. Hier waltete der Heilige Geist.

Die Trennung der beiden Welten herrscht noch heute – als naturwissenschaftliche und als geistige Welt.

Die naturwissenschaftlich-strenge Welt ist heute die positivistische, die andere ist

die geisteswissenschaftliche, in der jeder herumpfuschen kann, wie es ihm gefällt. Der Geist des Menschen, einst der Geist Gottes, ist an keine Gesetze gebunden.

Das ist der Grund, warum Geisteswissenschaftler sich daran machten, ihren empirischen Gesetzen so viel Determinierung beizufügen, wie ihre statistischen Gesetze sich den strengen Gesetzen der Naturwissenschaft näherten.

Strenge Gesetze sind mathematisch exakt und beliebig zu berechnen. Psychologische Gesetze hingegen sind Wahrscheinlichkeitsereignisse und nur annäherungsweise statistisch zu erfassen.

Weil sie nicht mathematisch determiniert ist, galt Psychologie lange als unwissenschaftliche Geisteswissenschaft. Doch die Statistiker wehrten sich gegen diese „Herabwürdigung“ und erkämpften sich die – die relative – Verlässlichkeit ihrer Gesetze.

Hayek berief sich auf die biblische Kennzeichnung der Ökonomie als Zeit und Zufall. Das war auf keine strenge Wissenschaft. Aber seine Schüler kümmerten sich bis heute nicht um die Seriosität seines Positivismus. Sie berufen sich auf Gesetze, die sie für streng empirisch halten, aber alles andere als solche sind.

Allein der Begriff Zufall sollte jeden Wissenschaftstheoretiker aufhorchen lassen.

Vor Jahrzehnten wurde noch die Frage gestellt: ist Psychologie eine Wissenschaft? Dasselbe gilt für alle Umfragen und Tests. Sie alle bieten keine korrekten Ergebnisse. Solche Unklarheiten sind auch der Grund für schwankende Erkenntnisse der vielen Untersuchungen.

Inzwischen ist Unsicherheit selbst in die Quantenphysik eingedrungen. Wie sich Heisenbergs Unschärferelation mit Einsteins strenger Präzision verträgt, weiß niemand.

Sollten wir ergo nicht lieber sagen: Natur würfelt – aber in großer Zuverlässigkeit?

Fortsetzung folgt.