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Natur brüllt! LXXXVIII

Tagesmail vom 14.06.2024

Natur brüllt! LXXXVIII,

Die EU hat gewählt.

Das europäische Ergebnis lautet: noch mal davongekommen. Das deutsche Ergebnis: kurz vor dem Abgrund. Die beiden stärksten Nationen in der Mitte Europas zerlegen sich, die anderen Staaten bleiben stabil oder erholen sich sogar.

Macron will seine grande nation für sich retten – durch einen resoluten Spontanakt.

Scholz will seine Kanzlerschaft retten – durch betäubtes Schweigen und Warten auf ein Wunder.

Wie muss das Wunder aussehen? Es besteht aus elf Recken und heißt Fußball. Werden elf deutsche Fußball-Helden auf dem Rasen gewinnen, wird eine betäubte Nation den Sieg dem unverwüstlichen Hamburger zuschreiben. Der nächste Kanzlerkandidat der SPD heißt mit Sicherheit: Olaf Scholz.

Bleibt die Wiederholung des „Wunders von Bern“ aus, werden die Fetzen fliegen. Tritt der Kollaps der Nation ein, werden woke Propheten auftreten und eine Wiedergeburt der Nation prognostizieren. (woke heißt: dieses oder jenes und das Gegenteil von diesem oder jenem.)

Fast ein dreiviertel Jahrhundert nach der schrecklichen Niederlage wird es Zeit für die nächste – um wieder aufzuerstehen.

Als Alexander Rüstow, einer der universal gebildetsten und kritischsten Ökonomen Deutschlands – längst verdrängt und vergessen – 1949 aus seinem türkischen Exil nach Deutschland zurückkehrte, machte er eine unerwartete Erfahrung:

„… da war ich freudigst überrascht über die Gelöstheit, fast könnte man sagen Fröhlichkeit, mit der sich das deutsche Volk an die Arbeit machte, verbunden mit einer gegenseitigen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die weit über die Atmosphäre der Weimarer Zeit hinausging. Andererseits hätte man auf eine solche Katastrophe der Weimarer Zeit auch mit dumpfer und lähmender Verzweiflung reagieren können, und es gibt Völker, die vielleicht so reagiert hätten. Das liegt uns Deutschen Gott sei Dank gar nicht, sondern wir haben im Gegenteil mit einem Maximum an Aktivität darauf reagiert, mit dem sehr begreiflichen und nur natürlichen Impuls, uns so schnell wie möglich aus dieser scheußlichen Misere herauszuarbeiten.“ (Die Kehrseite des Wirtschaftswunders)

Wusste Rüstow nichts vom philosophischen Pessimismus der Vorkriegsdeutschen: erst Tod, dann Auferstehung?

Die Deutschen waren überzeugte Christen, ergo lebten sie ihren Glauben. Sie waren die Hoffnung der Heilsgeschichte, die den Endsieg der Rechtgläubigen zum Ereignis werden lassen wollten!

Nun da capo – al fine? Wie oft kann man untergehen und wiederauferstehen?

„Es war dieser sprunghafte Übergang von Verzweiflung zu Utopie, der ihre Gedankenwelt so phantastisch machte.“ (Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr)

Dieses Wunder ereignete sich kurz nach dem Krieg – in Form des deutsches Wirtschaftswunders. Gelegentlich kamen ausländische Ökonomen zu Rüstow und sprachen erstaunt:

„Das ist ja fabelhaft, was ihr in dieser kurzen Zeit erreicht habt. … eine Aufstiegskurve von solcher Steilheit hat es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben. Aber über all den Wundern seid ihr ja reine Materialisten geworden. Ständig sagt ihr: Das tun wir nur aus Idealismus. Auf allen anderen Gebieten fault das stagnierende Wasser“, schreibt Rüstow und kommentiert:

„Dadurch, dass die Wirtschaft das einzige Gebiet ist, auf dem es vorwärts geht, dadurch hat die Wirtschaft zu Unrecht diese zentrale Stellung bekommen, die ihr gar nicht gebührt.“

Bis zum heutigen Tag hat sich an dieser zentralen Stellung der Wirtschaft nichts geändert. Bitte keine ideologischen Streitigkeiten, winkte eine Kanzlerin jedes Gezänk der Gedanken ab. Was unklar ist, muss durch objektive Zahlen entschieden werden. Durch Zahlen wachsenden Wohlstands.

Bei den Schreibern der Nachkriegszeit wurden objektive Zahlen zu objektiven Schriftzeichen, mit denen sie heute neutral und unparteiisch in den Abgrund fahren wollen. Das sind Reste des deutschen Idealismus, der nicht den Himmel, sondern die Hölle erobern will.

Merkwürdigerweise sprach Rüstow, der vor der nationalsozialistischen Zerstörungsmaschinerie an den Bosporus geflohen war, auch von der „Gutartigkeit und Gutwilligkeit des deutschen Volkes“. Weshalb es einige Jahre später „keine neureiche Protzigkeit, Spesenluxus und Fassadenprotzerei – die einige Zeit geherrscht hatten – geben würde. Schon lange seien sie aus der Mode gekommen.“

Und diese gutartigen Menschen sollen die schlimmsten Verbrechen der Geschichte begangen haben?

Eine Stabilität aber habe sich in allen schrecklichen Zeiten durchgehalten: die Familie. „Die Familie hat sich als das einzige Feste bewährt, das noch hielt, an das man sich noch halten konnte, auf das man noch vertrauen konnte, und zwar nicht nur für die Flüchtlinge, die ja immerhin vierzehn Millionen unter uns darstellen, sondern auch für die anderen. Die ewige Familie ist aus dem Chaos wieder aufgestiegen als Ideal, als Zentrum menschlicher Dinge. Das war die Neugeburt der ewigen Familie.“

Die damaligen Flüchtlinge waren Deutsche aus den Ostgebieten, die vor den Russen geflohen waren.

Die Flüchtlinge der Gegenwart hingegen stammen aus fernen Ländern mit anderer Religion und Kultur – die hier, was sonst, vor allem die deutsche Urfamilie und die unfehlbare deutsche Religion zerstören wollen.

Weshalb verschiedene Parteien der Mitte die Ultrarechten als vaterlandslose Gesellen betrachten, die keine Ethik mehr kennen würden, weil sie Menschen in Not hartherzig zurückwiesen. Während sie selbst die Grenzen sperrangelweit offen lassen würden, um der Humanität gerecht zu werden.

Wie der Pazifismus gehört die Flüchtlingsfrage zu den unerledigten Problemen, die während des Wirtschaftswunders keine Dringlichkeit hatten. Man betrachtete sie als gelöst, weil es weder Kriege noch Flüchtlinge aus Afrika gab.

Inzwischen ist das alles völlig anders geworden. Die „unterentwickelten“ Staaten haben längst aufgeholt und sind durch globale Wirtschaftsprobleme so in Bedrängnis geraten, dass Millionen und Abermillionen hungernde Menschen sich zur Flucht in jene Länder aufmachten, die sie seit Jahrhunderten ausbeuten.

Strikt gesprochen, ist die Lösung dieses Problems auf nationaler Ebene unmöglich. Deutschland – ohnehin schon lange überbevölkert – würde ersticken, wenn es allen Flüchtlingen die Tore öffnete, die hierzulande die einzige Überlebenschance sehen.

Wer den Pazifismus nur nach der himmlischen Simplizität des Bergpredigers ausrichtet, tut zwar das Gebotene – aber nicht, um Frieden auf Erden zu erreichen, sondern um sich einen Platz im Jenseits zu erkiesen. Was auf Erden geschieht, kann ihm gleichgültig sein, dafür ist kein Mensch zuständig.

Dasselbe gilt für das Flüchtlingsproblem. Wer alle Hilfssuchende der Welt in Germanien einließe, würde niemandem dienen und allen Beteiligten schaden. Was wäre das für eine Hilfe?

Dieses Problem gehört zu jenen, die nur auf Weltebene gelöst werden können. Hier müssen alle Länder der Erde zusammenarbeiten, um die Hungernden und Verfolgten dieser Welt so auf dem ganzen Planeten zu verteilen, dass sie eine reelle Überlebenschancen haben.

Ein nationales Entweder-Oder wäre lächerlich. Soll das eine Lösung sein, wenn eine fromme Kanzlerin ein einziges Mal predigt: Das schaffen wir, wir schaffen das – in der folgenden Zeit aber dazu kein Wort mehr verliert und viele Flüchtende im Mittelmeer ersaufen lässt?

Hier ist einmalige Hilfe zum täuschenden Almosengeben verkommen, um seine Seligkeit zu erkaufen, aber nicht, um irdische Probleme zu lösen.

Wie sind die Problemlösungen der deutschen Parteien? Die einen betonen nur emphatisch die Probleme der Anderen, um sich einen Weg ins Himmelreich zu verschaffen, die anderen denken nur an die eigenen Probleme im Innern des Staates, und fürchten ein unlösbares Chaos, wenn die Grenzen offen stehen.

Das ist deutsche Idiotendialektik: beide Lösungen sind nur scheinbar und lassen sich nicht in rationale Hilfspolitik auf nationaler Ebene verwandeln.

Rüstows Eindruck der Nachkriegsdeutschen hatte recht: ihr Wirtschaftswunder hatte das Land der Dichter und Denker – nach dem moralischen Niedergang in der NS-Zeit – endgültig in ein Land der Nichtmehrdenkenden verwüstet.

Hier gilt kein Satz des Widerspruchs mehr. Mehrdeutige Begriffe werden durch die Luft gewirbelt, als ob sie noch etwas zu sagen hätten. Da sie nur noch Angst um ihren Wohlstand haben, sind sie unfähig geworden, die Grundsätze der Demokratie zu beachten.

Wenn sie streiten, dürfen sie nicht mehr Recht haben, denn sie dürfen sich nicht über Verlierer erheben. Demokratie wird zum Nestverhalten einer realitätsfeindlichen Familie.

Selbstbewusstsein im Agon um die Wahrheit muss anscheinend barbarisch sein. Nur noch Friede, Freude, Eierkuchen darf gemurmelt gelten.

Doch was in einer überbehüteten Partnerschaft gelten soll, muss auch auf dem Marktplatz Geltung haben.

„Wie man seine Partnerschaft ruinieren kann: „Wer harte Kritik übt, löst einen Gegenangriff aus oder schlägt den anderen in die Flucht. Wer seine Position rechtfertigt, nimmt die des anderen nicht ernst. Wer die Partnerin oder den Partner abwertet, wird sie oder ihn vertreiben. Und wer sich hinter Mauern verschanzt, ist nicht mehr erreichbar.“ (SPIEGEL.de)

Je sensibler und verletzlicher die kleinsten Zellen der Gesellschaft, umso katastrophaler und brutaler darf die wüste Welt übereinander herfallen. Hauptsache, die Kleinfamilie kann die Außengrenzen gegen das Böse in der Welt abdichten.

Wer nicht den Mut hat, seine Meinung sachlich gegen Widerstand zu verteidigen, dem fehlen alle demokratischen Qualitäten. Wehrhafte Autonomie ist jene Fähigkeit, an der man die Reife eines Humanisten entdecken kann. Wer anderen überlegen ist, muss sie verstanden haben. Wer den anderen verstanden hat, trampelt ihm nicht mehr auf dem Kopf herum.

Der Westen wird immer verwegener in Fortschritt, der die Existenz der Welt aufs Spiel setzt. Doch er macht sich in die Hosen, wenn er schlicht und einfach seine Meinung gegen aggressive Gegenmeinungen verteidigen soll?

Atombomben können die Erde zertrümmern, das muss wohl legitim sein. Doch mäeutische Standfestigkeit soll des Teufels sein?

Wenn Feigheit das Signum der Moderne wäre, hätte alle Erziehung zur humanen Bildung versagt: das wäre die Schande des Westens, die Katastrophe jedweder Bildung zur Reife mutiger Demokraten.

Parteien können keinen sachlichen Streit mehr, sie sind besoffen von alkoholisierten Wortfragmenten, die allüberall in der Luft herumschwirren, um den Menschen das Gehirn zu benebeln.

Auch in der jetzigen EU-Wahl gab es nicht das Minimum an Klarheit, sondern nur links, rechts, woke, Mitte, halbrechts, halblinks und so fort in alle Ewigkeit. Kein Medium der objektiven Art, das einmal nachfragen würde, was diese verbalen Umweltverschmutzungen eigentlich zu bedeuten haben.

Was für perverse Entwicklungen: Fähigkeiten des Fortschritts dürfen die Erde zerlegen, mäeutische Unfähigkeiten aber können nicht mal ihre Meinung sagen, um die Überlebensqualitäten der Menschheit zu retten?

Gab es je Umfragen, die wissen wollten: Was haben Sie beim letzten Talk bei Maischberger, Illner oder Lanz gelernt? Hat der Osten Deutschlands verloren oder der Westen – und ähnliche sinnlose Schuldzuweisungen. Man weist personelle Schuld zu, um die desaströse Sache des Abendlandes zu vertuschen. Ist es wirklich leicht gesagt: wir alle sind schuld an der Verwahrlosung des Planeten?

Avraham Burg gab den Deutschen eine angemessene Zensur:

„Es ist unmöglich, das moderne Deutschland ohne die permanente Opferrolle der Juden zu verstehen. Sobald Juden nicht mehr die Opfer sind, dann kollabiert etwas in der intellektuellen, moralischen und psychologischen Struktur der Deutschen. Deutschland hat nicht die intellektuellen Mittel, um Juden außerhalb einer Opferrolle zu verstehen.“ (SPIEGEL.de)

Was ist der Hauptgrund der sachlichen Umdrehung aller Überlebenswerte? Schauen wir nach bei Rüstow:

„Sieht man genauer zu, so besteht der tiefste Grund der großen Erfolge, die mit der freien Marktwirtschaft verbunden waren, in der ganz außerordentlichen Rücksichtslosigkeit dieser Wirtschaftsform, in ihrer nicht leicht wiederkehrenden Unbekümmertheit, mit der sie alles, was nicht wirtschaftskräftig war, niedertrat und es ohne Erbarmen umkommen lässt.“

Hat irgendjemand die Schlammwörter links und rechts entdeckt?

Sprecht deutsch, Schwestern und Brüder. Die Sprache als Rettungsmittel der Welt müssen wir wieder neu entdecken.

Fortsetzung folgt.