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Natur brüllt! LXXXVI

Tagesmail vom 07.06.2024

Natur brüllt! LXXXVI,

Europa – eine wahre Leistung der Abendländer. Dennoch könnte die Beurteilung der Leistung nicht widersprüchlicher sein.

Was halten Sie von Europa, fragen die Menschen mit den Wander-Mikrofonen – kurz vor der nächsten EU-Wahl. Einmal, kurz vor der Wahl dürfen die Normalsterblichen denen, die gewählt werden wollen, eine einzige Frage stellen. Dazu vielleicht eine Zusatzfrage, das war’s.

Die wichtigen Menschen beantworten die Frage der Unwichtigen mit vielen, lang erprobten Redegirlanden. Politische Vernunft verwechseln sie zumeist mit rhetorischer Propaganda.

Eine einzige Frage zur EU- und Weltpolitik: wie nennt man das in höheren Kreisen? Emanzipation.

Die Europäer halten sich für emanzipiert. Sie wissen Bescheid. Sie kennen sich aus. Und wenn nicht, haben sie intelligente Maschinen, die sie über alles aufklären, was sie wissen wollen. Ein Blick nach unten genügt und die Miene erhellt sich.

Dumme Menschen werden klug, wenn sie Hilfsmittel besitzen, die sie klug machen. Wie nennt man das in höheren Kreisen? Fortschritt – oder Fortschritt der Aufklärung.

Selbst im Urwald gibt es keine Menschen mehr, die ohne Hilfsmittel auskommen müssen.

Umso merkwürdiger, dass die Schreie der Verzweiflung rund um den Planeten immer verzweifelter klingen. Täuschen wir uns über den Charakter des unaufhaltsamen Fortschreitens?

Nach dem papistisch regierten Mittelalter begann der europäische Gedanke mit der Französischen Revolution. Die alten Machthaber wurden davon gejagt, nun kamen die neuen mit der Frage: Und was jetzt?

Aus allen Richtungen erschollen die neuen Parolen des Umsturzes. Aber ganz und gar nicht einstimmig. Gab es je eine Zeit, die vielstimmiger und wirrer klang?

„Die Freiheit, die vom Himmel kommt, ist keine Opernschönheit: sie ist auch keine rote Mütze, ein schmutziges Hemd oder ein zerlumptes Gewand. Die Freiheit ist das Glück, ist die Vernunft, ist die Gleichheit, die Gerechtigkeit, ist die Erklärung der Menschenrechte, ist eure wundervolle Verfassung,“ (Desmoulins)

Können wir diesen revolutionären Enthusiasmus heute noch nachempfinden? Wissen wir, was Glück ist, Vernunft, Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte?

Diese Begriffe sind nicht völlig unbekannt, aber sie dümpeln verachtet am Wegesrand. Frag mal deinen Nachbarn, ob er glücklich ist, was er von der Vernunft hält, ob er Gleichheit der Menschen sieht und Gerechtigkeit der Gesellschaft. Der wird dir den Vogel zeigen, sich stumm umdrehen und dich stehen lassen.

Vier Tage vor seiner Hinrichtung schreibt Desmoulins an seine geliebte Frau:

„Ich sterbe mit 34 Jahren, doch über wie viele Abgründe der Revolution bin ich in fünf Jahren hinweggeschritten, ohne zu stürzen, und lebe noch immer, mein Haupt kann auf dem Kissen meiner Schriften ruhen – aber sie atmen alle dieselbe Liebe zu den Menschen, den selben Wunsch, meine Mitbürger glücklich und frei zu machen, das Beil der Tyrannen wird sie nicht treffen. – Ich habe von einer Republik geträumt, die alle begeistert hätte. Nie habe ich glauben können, dass die Menschen so roh und ungerecht seien.“

Das alles war vor mehr als 200 Jahren. Und heute? Haben wir vernünftige, gerechte, gleiche und freie Völker? Freuen die Völker sich gemeinsam ihres Lebens und feiern mit der ganzen Welt das Glück, geboren zu sein?

Welche Partei, die heute gewählt werden will, verspricht ihren Wählern Glück und Gerechtigkeit?

Versprechen es wenigstens die modernen demokratischen Verfassungen? Nehmen wir die deutsche:

„Anders als sozialistische Verfassungen kennt das Grundgesetz keine sozialen Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf eine Wohnung. Immerhin ist Deutschland in Artikel 20 als Sozialstaat definiert. Dies ist aber nur eine nicht einklagbare Staatszielbestimmung. 2010 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil das „Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“ entwickelt. Die Höhe hat das Gericht aber nicht festgesetzt, sondern nur ein nachvollziehbares Verfahren gefordert. 2012 hat das BVerfG das Asylbewerberleistungsgesetz als „evident unzureichend“ beanstandet und eine starke Erhöhung der Leistungen gefordert.“ (TAZ.de)

Grundlegende Wohltaten stehen nicht einmal in den Verfassungen. Gelegentlich stehen Versprechungen drin – an deren Erfüllung niemand mehr glaubt.

Die Französische Revolution hat zwei elementare Strömungen über Europa ergossen, die widersprüchlicher nicht sein könnten. Bis heute haben diese beiden nicht zueinander gefunden. Keine Dialektik hat sie zusammengeschmiedet, keine Kompromisspolitik sie zusammengequetscht.

Haben wir Hegel nicht verstanden? Sind wir kompromissunfähig?

Das letztere befürchtet Dirk Kurbjuweit und greift die „Krawallmacher“ Hofreiter und Strack-Zimmermann an:

„Persönlich haben die Krawallmacher wenig zu gewinnen, allenfalls mehr Aufmerksamkeit, als ihrer jeweiligen Position im politischen Betrieb entspräche. Besonders beliebt sind sie nicht. Ihre Karrieren bleiben verdientermaßen mittelmäßig, weil sie zum ernsthaften Regieren nicht zu gebrauchen sind. Beide bespielen das gleiche Thema: mehr deutsche Militärhilfe für die Ukraine. Beide singen das gleiche Lied: Sie sind die Unbeugsamen, die Verteidiger von Demokratie und Freiheit. Beide haben denselben Lieblingsgegner: Bundeskanzler Olaf Scholz. Beide sind zuletzt durch missratene Wortwahl aufgefallen: Hofreiter nannte Scholz »naiv«, Strack-Zimmermann beschrieb ihn als »autistisch«. Entgleisung liegt im Wesen dieser Figuren. Die Krawallmacher müssen drastisch werden, weil sie sonst nicht auffallen würden. Damit nützen sie aber ihrer Sache nicht. Wer nicht ein bisschen beugsam, nicht kompromissfähig ist, kann in einer Koalition nichts erreichen. Und wer aggressiv auftritt, verschließt die Debatte, macht andere eher bockig als nachdenklich.“ (SPIEGEL.de)

Wer hätte das vom SPIEGEL gedacht, der einst selbst als Krawallmacher beschimpft wurde? Ist Augsteins Magazin zum Regierungsorgan verkommen?

Hätte es zur Französischen Revolution kommen können mit endlosen Kompromissen?

Die Welt braucht eine kompromisslose Revolution, um ihre Naturzerstörungen rund um den Planeten sofort, auf der Stelle, zu beenden. Ohnehin haben wir alle roten Wegmarken schon längst leichtsinnig überschritten.

Würden die Milliarden Menschen noch überleben können, wenn es uns gelänge, die jetzigen Verbotsschilder zu berücksichtigen? Oder wäre der Planet nur noch fähig, wenige Auserwählte, Mächtige und Reiche auf versteckten Inseln und abgehobenen Bergen vor dem kollektiven Tod zu bewahren?

Demokratie muss eine permanente Krawallmacherei sein – solange an ihrer Überlebensfähigkeit an allen Ecken und Enden gerüttelt wird.

Um es gewichtig zu sagen – was heute verboten ist, damit das Gefasel der Ist-Beschreiber nicht entdeckt wird –, müssten wir zur Philosophie greifen:

Kompromisse sind Vergehen an der Wahrheit, zwar kurzfristig zu ertragen, um über unerträgliche Meinungsverschiedenheiten hinwegzukommen. Doch die Sünden an der Wahrheit müssten – wenn es nicht gelungen wäre, die Debattanten in vernünftigem Dialog zu versöhnen – so schnell wie möglich repariert werden.

Heute gibt es nur noch Kompromisse, die einst faule genannt wurden, um die erlittenen Wahrheitsverluste nicht zu verdrängen. Heute gibt es nur noch faule Kompromisse, die aber wie heilige Gebote eingehalten werden, damit die mit ihnen verbundenen Gefahren niemanden alarmieren.

Notwendige Kompromisse sind möglich, manchmal unerlässlich, wenn nach einer festgesetzten Zeit die Sünden an der eigenen Wahrheit schonungslos aufgedeckt werden.

In der Zwischenzeit, so die Hoffnung vitaler Debattenkulturen, sollten die Differenzen sich so weit aufgelöst haben, dass neue, wahrheitsgemäßere Kompromisse möglich wurden. So könnten lebendige Demokratien ihre Lernfähigkeit unter Beweis stellen.

Natürlich sind das irreale Wunschträume, denn moderne Gesellschaften sind Maschinen, die immer schneller laufen müssen, um immer behänder die Natur zur Strecke zu bringen.

Nicht die Wahrheitsgemäßheit einer Gesellschaft bezeichnet ihre Qualität, sondern ihr Produktausstoß, ihr absurder Reichtum und ihre Macht über die Welt.

Es geht um mathematische Quantitäten, nicht um gefühlte Qualitäten dessen, was uns nützt und was uns schadet. Hartgesichtigen Managern geht es nicht um Wahrheit, sondern um endlose Profite und Fortschritte im Meucheln der Natur.

Beweis: liest man noch den Begriff Wahrheit in den Gazetten? Gazetten schreiben, was ist. Das aber ist nicht mal die Hälfte der Wahrheit. Denn das Ist ist entstanden aus dem, was war und dem, was aus ihm werden soll. Also nicht nur aus Gegenwart, sondern aus Vergangenheit und projektiver Zukunft.

Wenn Politiker immer mehr lügen, so sind ihre Lügen das, was ist. Und dennoch verkommen die Menschen, um ihre Macht zu zementieren. Das müssten kritische Beobachter der Zeit unnachgiebig ihren Lesern mitteilen.

Schon vergessen? Demokratien leben von Kritik und wahrheitssuchenden sokratischen Dialogen. Doch die Medienzunft rühmt sich ihrer „Objektivität“, als ob objektive Wahrheit keine Kritik enthalten dürfte. Objektivität mit Kritiklosigkeit gleichzusetzen, ist haarsträubend.

Medien werden immer mehr zu starr blickenden Parasiten, aber nicht zu kritisch mitdenkenden demokratischen Köpfen.

Gewiss gibt es auch mitdenkende Kommentatoren, aber auch sie sind nicht in der Lage, das Geschwätz vom Ist vom Tisch zu fegen. In einer Demokratie gibt es keine schreibende Klasse auf der Beobachtertribüne, die nur „positivistisch“ notierte, aber weder klatscht noch pfeift.

Medien hassen moralische Bewerter ihres Tuns, doch wehe, es gibt Vorgänge, die sie selbst hassen wie die Pest und die von Zeitgenossen nicht sofort in den Boden gestampft werden, dann kannst du mal sehen, zu welchem bigotten Moralpathos etwa die BILD fähig ist.

Was, Netanjahu angreifen, aber Putin in Ruhe lassen? Was, Israel kritisieren, aber ähnlich verbrecherische Völker nicht mal erwähnen?

Amoralische Moralhasser haben auch eine Theorie, wie moralhassendes Tun entsteht. Dennoch ist das Verstehen des Menschen nicht ihr Ding. Wobei wir nicht vergessen dürfen: verstehen heißt nicht verzeihen.

Verstehen ist die einzige Methode, das Tun aller Menschen vom Ursprung bis zur Tat nachzuvollziehen – zu welchem Zweck? Um herauszukriegen, wie „gute“ und „schlechte“ Menschen entstehen. Keine Demokratie kann überleben, wenn immer mehr ihrer Mitglieder die Grundlegen einer humanen Ethik verletzen. Räuberhorden können nur mit der Peitsche dressiert werden.

Da sich die heutigen Gesellschaften immer mehr dem Hobbes-Spruch zu nähern scheinen: Krieg aller gegen alle, wird der Ton der Entrüsteten immer schärfer. „Ich bin entsetzt, ich bin entrüstet, ich bin fassungslos.“ Die Fassungslosen tun, als hätten sie noch keine „sündige oder böse Tat“ erlebt. Die ganze Zeit scheinen sie wie im Paradies gelebt zu haben.

Verurteilungen wollen nichts mehr verstehen. Ursachen des überall anschwellenden Bürgerkriegs interessieren sie nicht. Stattdessen setzen sie immer mehr auf scharfe Gegengewalt: auf steigende Härte des Gesetzes, mit der die Bösewichte getroffen werden müssen.

Das Böse wird immer mehr zum satanischen Bösen der Religion. Dagegen anzukämpfen sind Menschen machtlos, analytisch wie therapeutisch. Bösewichte können nicht mehr nacherzogen werden. Da es keine natürlichen Ursachen gibt, sind Verstehensversuche sinnlos. Wer nichts mehr versteht, darf grenzenlos hassen. So steigt der Pegel des gesellschaftlichen Hasses von Tag zu Tag.

Ergo darf niemand versuchen, das Böse mit pädagogischen Prophylaxen zu verhindern. In diesen Gesellschaften gibt es auch keine sozialen Strafanstalten, um den Tätern eine zweite Chance zu vermitteln. Das Böse ist nicht natürlich, sondern dämonisch-übernatürlich.

Sowohl der Glaube an das Gute im Menschen wie das Gegenteil, der Glaube an das unverbesserlich Böse, wird von der Französischen Revolution in moderner Fasson weitergeleitet.

Der schärfste Gegner der Revolution ist in den ersten Jahren der französische Papist de Maistre. Mit außerordentlicher Energie agitiert er gegen die verbrecherische Revolution mit seinem falschen Glauben an das Gute im Menschen:

„Die Französische Revolution besitzt einen satanischen Charakter, der sie von allem, was man bislang gesehen hat, unterscheidet.“ ( de Maistre) Den Konvent der Revolution schildert er bewusst mit Miltons Höllenschilderungen: „Wahnsinnige, Narren, Verbrecher haben die Französische Revolution und die neue Verfassung geschaffen. Die Republik ist durch und durch schandbar, elend, es findet sich nichts Großes in ihr, nicht mal ihre Siege.“

Die spätere europäische Entwicklung übernimmt die Widersprüche in Form von linken und rechten Parteiprogrammen. Anstatt die Dinge bei Namen zu nennen und ihren Gehalt theologisch, philosophisch und politisch zu formulieren, kommen quantitativ-sinnlose Begriffe ins Spiel, die bis heute für Verwirrung sorgen. Links, rechts, Mitte, ultrarechts usw.: so diffus schlängelt man sich durch den Tag in den Abgrund.

Fast niemand versteht den Ursinn dieser Vokabeln, sinnvolle Debatten um Sphinx-Begriffe sind ausgeschlossen. Für de Maistre ist die „spanische Inquisition ein Muster, ein Vorbild der Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Barmherzigkeit. Das alte Athen hingegen bildet eine Schande des Menschengeschlechts; diese elenden Athener, leichtsinnig wie kleine Kinder, wild wie wilde Hammel, mordeten ihre besten Bürger.“

Wer heute links ist, will – ob er es weiß oder nicht – zurück zur athenischen Polis, wer rechts, zurück zum mittelalterlichen Papstfaschismus. Das darf so unmissverständlich natürlich niemals gesagt werden.

Also dümpeln wir weiter, bis wir uns alle gegenseitig erschlagen haben. Gott sei uns Sündern gnädig.

Fortsetzung folgt.