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Multikulti IV

Hello, Freunde des Multikulti IV,

sind Religionen veränderungsfähige Gebilde? Alle menschlichen Erfindungen sind lern- und veränderungsfähig – wenn man sie lernend verändert.

Sind unfehlbare Erlösungsreligionen veränderungsfähig? Alles ist veränderungsfähig – wenn man zuvor die Unfehlbarkeit mit teuflischem Gelächter verscheucht hat.

Ist Lernen Ersetzen des Alten durch ein Neues? Alles Alte und Neue kann wahr oder falsch sein. Wahr ist weder identisch mit Altem noch mit Neuem – sondern mit Wahrem.

Wer den Wahrheitsbegriff verwirft, kann nicht dazu lernen. Was sollte er korrigieren? Nach welchen Maßstäben überprüfen? Wahrheitslos kann er nur neue Masken überziehen, um sich der Despotie des Neuen zu unterwerfen, nachdem die Despoten und Wahrheiten des Alten geköpft wurden.

Was ist Lernen? Überprüfen und Kritisieren des Alten. Alles prüfet, das Beste behaltet. Das Beste kann alt oder neu sein. Besteht das Alte die Überprüfung, hat es sich bewährt und gilt weiterhin als vorläufige Wahrheit – bis zur nächsten Überprüfung.

Es gibt nur eine Geschichte der Menschheit, die sie ernst nehmen sollte: ihre Lerngeschichte. Es gibt nur einen Fortschritt, den sie wahrnehmen, festhalten und weiter verfolgen sollte: ihren Lernfortschritt. Alle Heilsgeschichten sind Unheilsgeschichten, aller technische Fortschritt ins Unendliche und Göttliche ist Fortschritt in den Untergang.

Gibt es ein objektives Wahrheitskriterium? Es gibt eines, vielmehr, es sollte eines geben. Noch aber gibt es keines, worauf sich die Menschheit einigen konnte. Weil es konkurrierende und unverträgliche Kriterien unter den Völkern gibt, besteht die

gegenwärtige Weltpolitik aus Hader, Elend und Krieg. Nur ein Wahrheitskriterium, (identisch mit dem eines wohlverstandenen Multikulti) könnte den weltpolitischen Hader beenden: das bedingungslose Kriterium des Friedens, der Eintracht und des Wohlergehens aller Menschen in Einklang mit der Natur.

Warum löst die Nennung dieser Utopie – der Idylle, des ewigen Friedens, des Gartens der Menschheit, des Goldenen Zeitalters, der Eintracht mit der Natur – einen höhnischen Lachanfall bei vielen Menschen aus? Sie folgen einem anderen Wahrheitskriterium, das mit diesem unverträglich ist: der Mensch ist unrettbar böse und lernunfähig, Geschichte wird von Göttern bestimmt, Geschichte ist ein Wettbewerb zwischen Erwählten und Verworfenen, Starken und Schwachen, Erfolgreichen und Versagern.

Versager und Schwache müssen überrollt und ausgeschieden werden, damit die Erfolgreichen den Lohn ihrer Überlegenheit aus der Hand der Götter entgegen nehmen können. Den Heilsgeschichtlern gilt als wahr, was der Erringung ewiger Seligkeit dient und als falsch, was zu endloser höllischer Strafe führt. Geschichte ist für sie ein Ausscheidungswettbewerb. Wer andern überlegen ist in technischer, wirtschaftlicher – und religiöser Kompetenz, gewinnt die jenseitige Utopie, wer nicht, wird überfahren und auf ewig bestraft.

Was der Mensch für wahr hält, das realisiert er in selbsterfüllender Motivation. Der christliche Westen folgt bewusst und unbewusst, ideell und materiell, politisch und glaubensmäßig, mit weltlichen und himmlischen Interessen dem Wahrheitskriterium des unbarmherzigen Ausscheidungswettbewerbs. Eine Minderheit – EINPROZENT – muss den historischen Slalom gewinnen, die gigantische Mehrheit im Diesseits wie im Jenseits verderben und verrecken.

Der nichtchristliche Rest der Welt, insofern er sich der christlich tiefengeprägten Dominanz des Westens unterworfen hat, folgt dem Wahrheitsmodell des Westens. Ob er will oder nicht. Zwar sind seine philosophischen und naturreligiösen Traditionen vom Ursprung her unverträglich mit naturfeindlichen Prinzipien der westlichen Zivilisation. Um aber nicht unter die Räder des Westens zu geraten, haben sie ihre Traditionen verdrängt, ins rein Ideelle gehoben und entmaterialisiert, um den westlichen Konkurrenten Paroli bieten zu können.

Noch fanden sie bis jetzt nicht die Courage, dem dogmatischen und strukturellen Glauben des Westens ihr eigenes Lebensgefühl in Wort und Tat entgegenzusetzen. Doch die Zeit wird kommen und ist schon nahe herbeigekommen, wo Südamerika seinen archaischen Glauben an Bachamama, China die Grundsätze seiner wunderbaren Naturphilosophien wieder aufnehmen und alle naturgläubigen Menschen dieser Welt der verhängnisvollen Untergangsideologie des Westens entgegen treten werden. Der apokalyptischen Selbstauslöschungsneigung des Westens muss ein Ende bereitet werden, wenn die Menschheit auf Erden überleben will.

Können menschen- und naturfeindliche Religionen humanisiert werden? Alles kann humanisiert werden, wenn es seine inhumanen Wurzeln und Traditionen schärfstens kritisiert und in überprüfbare humane Wahrheiten verwandelt.

Nur Offenbarungsreligionen können nicht humanisiert werden, solange sie ihre göttliche Unfehlbarkeit mit Zähnen und Klauen verteidigen. Offenbarung ist die allwissende und nie irren könnende Wahrheit eines Gottes, der sich als allmächtiger Schöpfer und Vernichter der Natur vorstellt und seine Geschöpfe sanktioniert, wenn sie seiner Wahrheit nicht aufs Wort folgen.

Können Gläubige einer inhumanen Erlösungsreligion humane Demokraten sein? Gewiss, sofern sie sich von den inhumanen Grundprinzipien ihrer Religion distanzieren und lösen.

Die überwiegenden Majoritäten der drei Erlösungsreligionen haben sich wissentlich oder instinktiv, bewusst oder intuitiv von den menschenfeindlichen Dogmen ihrer Religion verabschiedet. Aber – und jetzt kommt das Problem: sie haben sich nicht buchstäblich und offiziell abgemeldet. Noch wollen sie Gläubige einer Religion heißen, deren Grundsätze sie längst nicht mehr für richtig halten. Ihre heiligen Schriften haben sie durch subjektive Deutungen humanisiert, doch den inhumanen Buchstaben der Texte verehren sie weiterhin als untrügliche Offenbarung. Das ist wie Auflösung eines Vertrags, dessen Gültigkeit man nicht anzweifelt. Oder wie Revolution, welche die Verhältnisse lässt, wie sie sind.

Aus Sicht der Offenbarung sind subjektive Deutungen eine menschliche Hybris, die sich anheischig macht, den Text besser zu verstehen als der Allwissende, der ihn den Menschen wortwörtlich diktiert hat. Fachleute sprechen von Verbalinspiration, von wörtlicher Eingebung.

Realinspiration liegt vor, wenn der himmlische Diktator seine Worte nicht auf die Goldwaage legte und nur die Sache, die er den Menschen mitteilen wollte, mit fehlbaren Wörtern übermitteln wollte.

Doch was, wenn die heilige Schrift selbst keinen Wert auf den unfehlbaren Buchstaben legt? Etwa mit dem Satz: der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig? Sollte der Geist der Gläubigen in der Lage sein, per subjektiver Inspiration den Buchstaben zu ignorieren, hat Gott seine Unfehlbarkeit aufgegeben zugunsten seiner gottgleichen Frommen.

Die Lehre von der Verbalinspiration muss gestrichen werden, wenn jeder Wiedergeborene – wie seit Schleiermacher die protestantische Theologie verkündet – seine eigene Bibel schreiben kann. Der objektive Text der vorliegenden Bibel wäre belanglos geworden, das gegenseitige Überprüfen auf dogmatische Korrektheit entfiele. Jeder vom Heiligen Geist erfüllte Fromme könnte sein eigenes Evangelium verkünden. Eine gemeinsame Sprache gäbe es nicht mehr, das Zitieren beweisführender Stellen wäre überflüssig. Wenn der Geist jedes Gläubigen unfehlbar geworden ist, kann es keinen gemeinsamen unfehlbaren Geist geben.

Auch die Lehre von der Realinspiration wäre hinfällig, wenn der objektive Buchstabe fällt. Wie könnte man die von Gott gemeinte Sache erforschen, wenn nicht durch eindeutige Worte? Gibt es aber keine eindeutigen Buchstaben, müsste man den gemeinten Sinn der göttlichen Texte bereits wissen, bevor man ihn aus dem Text ableiten kann.

Erlösungsreligionen sind moralische Mischgebilde. Human klingende Sentenzen stehen neben schrecklich-barbarischen Worten. Nun beginnt der typische Selektionskampf zwischen Verteidigern und Kritikern des Glaubens. Während die Frommen die wohlklingenden Stellen zur Bestätigung ihres Glaubens auswählen, wählen ihre Kritiker die barbarischen Stellen, um die Inhumanität des Glaubens zu beweisen. Beide Parteien werfen sich unisono vor, willkürliche Stellen zur Bestätigung ihrer Position ausgewählt zu haben. Welche Partei hat Recht?

Gehen wir von der verbalinspirierten Unfehlbarkeit der Schrift aus, sind alle Stellen von gleicher Wertigkeit und also sakrosankt. Jedes Verhalten, sei es human oder barbarisch, kann sich mit gleicher Stringenz auf den Wortlaut der Schrift berufen. Wenn gute und böse Stellen von gleicher Wertigkeit sind, wird jedes gute und böse Verhalten von Gott gebilligt. Gute Menschen lassen sich von guten, böse Menschen von bösen Stellen leiten und legitimieren. Der Mensch kann tun und machen, was er will, in jedem Fall kann er sich auf einen göttlichen Text berufen.

Solange die Frommen Gutes tun – wird es für die Welt heilsam sein. Was aber, wenn die Gläubigen im Namen Gottes Böses tun? Dann erhalten wir den Fall des totalitären Faschismus, der nichts anderes ist als Beglückung der Menschen durch böse Gewalttaten (Zwangsbeglückung). Gutes soll erreicht werden durch böse Methoden.

Bei Beginn der Neuzeit sollte das Böse in den Dienst des Guten gestellt werden. Doch das Böse war listiger als das Gute und kostümierte sich als Gutes, um als Böses die Menschen zu zerstören. (Mandeville, Goethes Mephisto, Kants „Unvertragsamkeit“, Hegels List der Vernunft, die unbarmherzige Konkurrenz der modernen Wirtschaft als Stimulans des Fortschritts ins immer Bessere.)

Platons philosophischer Urfaschismus wurde durch die christliche Lehre vom allmächtigen Erlöser, der mit ewigem Lohn und ewiger Strafe hantiert, zu einem religiösen Ereignis. Hitler, Stalin und alle abendländischen Zwangsbeglücker sind ohne den Humus des christlichen Totalitarismus nicht denkbar.

Gläubige, die human sein wollen ohne den Text ihrer heiligen Schriften völlig aufzugeben, verändern den Buchstaben der Texte solange, bis sie für humane Menschen human klingen. Die Anpassung inhumaner Texte an humane Ideologien der Gegenwart nennen die Gläubigen: Deutungen.

Sind Deutungen legitim?

Zur privaten Erbauung kann jeder sich von allen Texten dieser Welt inspirieren lassen, um seine Seele zu delektieren. Geht es aber um die Frage nach der Bedeutung dieser Texte für die abendländische Entwicklung, um den Streit, welche Texte und Traditionen für welche Folgen verantwortlich sind, gilt das Recht des unbeugsamen Buchstabens.

Kein Buchstabe tötet. Er ist Produkt der menschlichen Intelligenz, die sehr wohl in der Lage ist, die Sprachen der Menschen so zu gestalten, dass diese sich methodisch streiten und verständigen können. Streiten um Wahrheit gelingt nur mit klarer Sprache und präzisen Buchstaben. Wer den Buchstaben missachtet, um ins Reich willkürlicher Deutungen zu flüchten, verrät die Logik des menschlichen Denkvermögens, das in der Erfindung der wahrheitsfindenden und verständigungsfördernden Sprache zum weltgeschichtlichen Ereignis wurde.

Müssen Texte nicht interpretiert werden? Sind sie nicht häufig doppelsinnig und mehrdeutig?

Gewiss, doch jede sachgemäße Interpretation muss sich auf weitere Texte und Buchstaben stützen, um eine möglichst genaue Version des Gemeinten anzupeilen. Willkürliche Deutungen, die aus jedem X ein Y machen, begehen Verrat an den Gedanken der Texteschreiber. Welcher Jurist würde willkürliche Deutungen an Gesetzestexten zulassen? Welcher Richter dürfte den Buchstaben der Gesetze nach Lust und Laune in alle Buchstaben des Alphabets verwandeln, anstatt Gerechtigkeit durch möglichst präzise Auslegung der Gesetze zu erzielen.

Würde theologische Deutungswillkür im politischen und juristischen Bereich gelten, käme jeder Faschist auf die Idee, die Buchstaben des Grundgesetzes so lange zu stauchen und zu dehnen, bis sie verträglich werden mit der Willkürherrschaft einer zwangsbeglückenden Elite. Die Würde des Menschen sei unantastbar? Die Würde rassisch vollwertiger Menschen! Nicht degenerierter Untermenschen!

Käme irgendein Altphilologe auf die wahnwitzige Idee, Platon mit theologischen Phantasiedeutungen auszulegen? Dann dürfte es ihm nicht schwer fallen, ihn einmal demokratisch, ein ander Mal faschistisch auszulegen.

Dürfte ein Kantianer den kategorischen Imperativ nach Lust und Laune in einen hypothetischen verwandeln? Die „Pünktlichkeit der Begriffe“ (Kant), identisch mit der Pünktlichkeit des Buchstabens, ist die Grundlage aller redlichen Hermeneutik. Erst die aufklärungsfeindlichen Romantiker verwarfen die Pünktlichkeit des Buchstabens und erfanden die Phantasmagorie der autistischen Sprache jedes unvergleichlichen Individuums. Buchstäbler nannte Novalis verächtlich die peniblen Aufklärer.

Wenn jeder seine eigene Sprache spricht, die sich durch mangelnde Vergleichbarkeit nicht in die Sprache des Anderen übersetzen lässt, dann haben wir babylonische Sprachverwirrung in Perfektion. Bessere Voraussetzungen für permanente Zerwürfnisse und Kriege gibt es nicht als das heillose Nicht- und Missverstehen der Menschen.

Es ist der präzise Buchstabe ihrer Texte, der alle drei Erlösungsreligionen als totalitäre Gebilde entlarvt. Wer den totalitären Buchstaben durch humanistische Deutung ungeschehen machen will, hat nicht den Mut, sich radikal von seiner Religion zu lösen. Seine verklärenden Deutungen mögen ihn vor der Barbarei des Buchstabens schützen. Doch was, wenn Entwurzelte und Ausgeschlossene sich des Buchstabens bedienen, um ihre Ausweglosigkeit durch heilige Gewalt zu kurieren?

Dschihadisten sind im Recht, wenn sie sich auf den Buchstaben der Offenbarung berufen, um ihre schrecklichen Taten mit Heiligkeit zu begründen. Menschenfeindliche Buchstaben wird man nicht los durch Deutungsmagie. Man löst sich von ihnen durch konsequente Kritik, die zur kompletten Distanzierung von den Erlöserreligionen führen muss. Deutungen enthüllen die religiösen Wünsche des Deutenden, der die barbarischen Urformen seiner Religion nur überwinden kann durch eine radikal neue und humane Religion, für deren Erfindung jeder Mensch selbst zuständig ist. Die Gläubigen sollten es eigentlich wissen. Hatte ihr Herr und Meister es ihnen nicht verraten?

„Man faßt auch nicht Most in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche und der Most wird verschüttet, und die Schläuche kommen um. Sondern man faßt Most in neue Schläuche, so werden sie beide miteinander erhalten.“

Humane Religionen und Philosophien erkennt man an humanen Taten, die aus ihnen folgen. Gute Bäume bringen gute Früchte. Der totalitäre Buchstabe kann nur durch den humanen Buchstaben zu Fall gebracht werden. Wer mit schweifenden Deutungen den barbarischen Buchstaben bekämpfen will, bekämpft Hitler &Co mit magischen Gebetsformeln.

Müssen Texte nicht aus historischen Zusammenhängen (Kontexten) verstanden und erklärt werden, die mit der Gegenwart nichts mehr zu tun haben?

Unfehlbare göttliche Texte spotten jeder zeitlichen Relativierung: sie sind immer wahr. Doch was, wenn sie selbst den Zeitfaktor bemühen, um neue Wahrheiten den alten entgegen zu stellen? („Euch wurde gesagt, Ich aber sage euch“). Dann werden alle Deutungen veralteter Texte sinnlos und überflüssig. Wie Hegel die Wandlungen des Objektiven Geistes durch alle Zeiten hindurch in genialer Intuition erfasste, so müssen die Frommen die neuesten Offenbarungen durch mystische Versenkung erfassen, damit sie begreifen, was der jeweilige Zeitgeist als göttlicher Geist der Menschheit mitzuteilen hat.

Alle Ereignisse in der Welt können nur verstanden werden, wenn ihre historischen Kausalitäten wahrgenommen und verstanden werden. Verstehen ist empathisches Versetzen in relevante Umstände und Ursachen eines Geschehens. Doch Empathie darf nicht zur Überidentifikation führen. Sonst wird Verstehen zum distanzlosen Billigen.

Wider alle neudeutsche Sprachverhunzung: Verstehen ist nicht Verzeihen. Ein Richter sollte sich in die Ankläger wie in die Angeklagten versetzen können. Doch urteilen muss er mit dem eigenen Kopf. Schrecklicher Unsinn, dass man aus gegenwärtiger Perspektive nichts verstehen könne. Mit ihrem abscheulichen Historismus haben die Historiker die Unmündigkeit der Gegenwart zur pflichtgemäßen Methode erklärt.

Weder können wir aus unserer Haut noch aus unserem Kopf. Wir sollen es auch nicht. Alles andere ist schwärmerische Magie. Verstehen, Erklären und Beurteilen kann man nur mit dem eigenen Kopf. Habe Mut, dich deines eigenen Verstehens und Bewertens zu bedienen – wenn du dein Ich nicht verlieren willst in mystischer Verschmelzung mit dem Universum, in dem alle Katzen grau sind.

Durch Anempfinden und Überidentifizieren mit der ganzen Welt wollten die Romantiker die gesamte Welt verstehen. Dabei negierten sie ihr persönliches Ich, das keinen eigenen Standpunkt vertreten durfte. Doch seltsam, dass die Ich-schwachen Deutschen, verschmolzen mit aller Welt, dieselbe Welt in Schutt und Asche legen mussten, um ihre himmlische Auserwähltheit zu beweisen. Übermäßige Ich-Schwäche, nicht zu verwechseln mit Toleranz, und erbarmungslos verurteilende Ich-Abgrenzung bedingen sich gegenseitig.

Die Vertreter der ad-libitum-Deutung verweisen gern auf die historisch-kritische Methode, um das vergangenheits-fixierte Verstehen zu begründen. Ein gigantischer Kategorien-Fehler. Die historisch-kritische Arbeit versucht, durch Stiluntersuchungen oder statistisches Wortezählen die alten Texte zu datieren und in ihrer redaktionellen Zusammenstellung zu erklären. Methoden, die bei allen weltlichen Texten angewandt werden können.

Geht es aber um heilige, verbal inspirierte, unfehlbare, göttliche Texte, hat die historisch-kritische Methode zu schweigen. Denn fehlbare Texte sagen nichts über unfehlbare Inhalte – an die man glauben muss. Wissenschaft kennt kein Göttliches. Das Datieren der Texte kann zur Deutung derselben nur beitragen, wenn der göttliche Offenbarungsgrund nicht beachtet wird. Wie sagte jener Pastor? Unter der Woche sei er eifriger historischer Kritiker der biblischen Texte, am Sonntag aber auf der Kanzel Verkünder des Evangeliums im Auftrage Gottes. Wenn Gott der Verfasser der Texte ist: sollte er dann nicht fähig sein, in, mit und unter zufällig collagierten Texten seine überirdische Botschaft zu vermitteln?

In der gegenwärtigen Debatte um verwerfliche oder sachgemäße Islamkritiker geht es nicht nur um den Islam. Es geht gleichzeitig um Christentum und Judentum. Alle drei Religionen werden mit gleichen Methoden gedeutet oder missdeutet. Wer einen Islamkritiker als Bösewicht beschimpft, will möglicherweise sein heiliges Evangelium schützen.

Nirgendwo in der Debatte gibt es den kleinsten Hinweis auf die gleiche hermeneutische Problematik bei allen Offenbarungsreligionen. Da keimt der Verdacht, der Islam könnte stellvertretend für Christen- und Judentum gescholten – oder verteidigt werden. Ich-schwache christliche Multikulturalisten verstehen und billigen alles am Islam, um unterschiedslos alles im Judentum oder Christentum zu billigen. Gleichzeitig schüren sie Ängste vor dem terroristischen Potential des Islam, ohne die geringste Selbstkritik am weltpolitischen Gesamt-Terror der westlichen Politik zu äußern.

Ich akzeptiere deine Frauenverachtung, wenn du meine Beschneidung billigst – oder die „Scharia“ des klerikalen Sonderrechts der christlichen Kirchen. Der Streit um Multikulti wird zum Kuhhandel dreier Religionen, die sich gegenseitig Privilegien zuschieben, um die eigenen zu schützen. Oder aber die archaischen Rituale der Rivalen diskriminieren, um die eigene „Aufgeklärtheit“ in vorteilhaftem Licht zu präsentieren.

Sie unterschlagen ihre erbarmungslose Konkurrenz und multikulturelle Unfähigkeit, heucheln brüderliche Nächstenliebe und attackieren die Rückständigkeit der anderen, um die eigene Modernität vor den Menschen leuchten zu lassen.

 

Fortsetzung folgt.