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Montag, 17. Juni 2013 – Der Garten des Menschlichen

Hello, Freunde der Idyllen,

in Deutschland stehen Idyllen unter Schutzfristen – die unwiderruflich ablaufen. Schluss mit Idylle. Die Gartenkolonien in Neukölln sollen aufgelöst und in Gewerbegebiete umgewandelt werden. So steht’s im Berliner Abendblatt: „Das Ende der Rübezahl-Idylle“.

Berlin ist noch für viele Zuwanderer „ausgelegt“, wie der OB in Fachmänner-Idiom zu sagen pflegt. Man ist erstaunt, wie grün die Hauptstadt ist, in welchem Maß anheimelnde Schrebergärten die grässlichen Hochhäuser gelegentlich vergessen machen.

Kleingärtenanlagen tragen zu wenig zum Wirtschaftswachstum bei. Das ist das Grundgesetz des Neoliberalismus: Idyllen verführen Menschen zu statischer Trägheit. Begriffe wie „urban gardening“ werden von Bezirksbürgermeistern nicht zur Kenntnis genommen. Die Bürokratie oder der exekutive Staatshobel ist das gedanklich unbeweglichste Teil eines Gemeinwesens.

Erst rasieren sie die bestehenden Idyllen ab, um sie, wenn die Städte in klimaveränderten Hitzeströmungen zu kochen beginnen, wieder mit viel Aufwand „rückbauen“ zu müssen. Erst müssen die Schwellenländer das Wohlstands- und Umweltverschmutzungsniveau der führenden Nationen einholen, bevor sie das notwendige Selbstbewusstsein aufbringen, sich auf ihre uralten buen-vivir-Weisheiten zu besinnen.

Idyllen besitzen die Unverschämtheit, den Sündenfall zu ignorieren. Eine Vertreibung aus dem Paradies ist die pädagogische Maßnahme eines rührigen Gottes, der den Menschen das Sündenmalochen beibringen muss, damit sie nicht mitten in der garstigen Natur verhungern. Die Schutzfrist für Garten-Paradiese ist,

religiös gesprochen, schon kurz nach Erschaffung der Welt abgelaufen. Im atheistischen Berlin dauert’s etwas länger.

Arm aber sexy, hat keine Zukunft. Da muss etwas getan werden, sonst bezahlen die Bayern keinen Länderfinanzausgleich mehr. Arkadien oder das Ursprungsland der Idylle ist von Baggern des Fortschritts bedroht. Der Mensch darf in der Natur keine Heimat haben. Das Arkadien-Bild Poussins zeigt einen Sarkophag – in anderen Variationen einen Totenschädel, was bedeutet: die Schutzfrist der natürlichen Heimat läuft ab. Der Platz wird gebraucht zur Ansiedlung von Start-Up-Unternehmen.

Der Tod oder der Neoliberalismus stehen vor der Tür und sorgen für arbeitsfördernde Zwietracht und Mühseligkeit. Das arkadische Schäferleben will nur Eintracht, Genügsamkeit und unentwickelte Talente. Ohne entwickelte Talente, die sich nur unter Druck entfalten, kein Zins und Profit auf die anvertrauten Pfunde (Pfunde = Talente). Wer seine Pfunde im Boden des Gartens unter Blumenkohl und Stangenbohnen vergräbt, hat den Sinn des göttlichen Gründerkredits nicht verstanden. Ihn soll der Teufel holen.

Im Jahre 1977 schrieb C.F. von Weizsäcker das Buch „Der Garten des Menschlichen“. (Der Autor, der zur obersten „protestantischen Mafia“ gehört, hat seine glühende Nazivergangenheit nie offen gelegt. Verschämt deutet er an, „daß er für die „Pseudo-Ausgießung des Heiligen Geistes von 1933“ empfänglich gewesen sei und damals geglaubt habe, im Nationalsozialismus „eine noch unenthüllte Möglichkeit eines höheren Inhalts zu spüren“. Dass er um eines höheren Inhalts willen niederste Völkerverbrechen in Kauf nahm, wurde ihm von Nachkriegsdeutschland nie angekreidet. Im Gegenteil, er war der bewunderte Star alle Adenauer-Studenten, ein enzyklopädischer Grenzgänger zwischen Physik, Theologie, Philosophie und Friedensengel der Menschheit. Der Spross eines hohen Nazi-Außenpolitikers hatte keine Probleme, die Vorzüge des alleinseligmachenden Protestantismus mit Erleuchtungserlebnissen anderer Modereligionen zu verbinden. Sein Gutachten über einen ketzerischen Pfarrer trug dazu bei, den unbequemen Pastor aus der Kirche zu entfernen. Was hohen Geistern geziemt, geziemt noch lange nicht dem Fußvolk.

Über den Garten schreibt der Autor natürlich nichts. Der Titel sollte seine gewaltigen Gedankenmassen nur in „lockerer, gartenähnlicher Darstellung“ vorführen. Ein bekennender Christ darf die Erde nicht in einen Garten des Menschen verwandeln wollen. Das wäre Verrat am Garten Eden, der nur von Gärtner Gott verwaltet wird und seinen treuen Schäfchen am Ende der Zeiten vorbehalten ist. Hienieden ist der Wurm drin und da soll er bleiben.

„Das Christentum ist im ständigen Angriff auf die Natur; so wirkt die Bergpredigt, wo immer man ihr glaubt. [Solche Wahrheiten durften noch gesagt werden, als der Protestantismus noch nicht die neue Heilslehre gefunden hatte, dass die Bibel das naturfreundlichste Buch der Weltgeschichte sei.] Die neuzeitlichen Revolutionen sind die Erben der permanenten Revolution, die das Christentum ist. Alle Revolutionen scheitern. Und durch ihr Scheitern schreitet die Verwandlung der Welt in ein rationales, funktionalisiertes, wertneutrales Gebilde vor, in die auf den Trümmern der Natur errichtete „Realität“.“

Was folgt daraus? „Den Christen ist die Geschichte nicht als der Ort ihrer Siege bestimmt. An dem Tag, der wie der Blitz leuchtet vom Aufgang bis zum Niedergang wird ihre Arbeit nicht vergebens gewesen sein.“ Das Zitat aus Matthäus lautet vollständig: „Denn wie der Blitz vom Osten ausfährt und bis zum Westen leuchtet, so wird die Wiederkunft des Sohnes sein. Wo das Aas ist, da sammeln sich die Adler.“ Versteht sich, dass die siegreichen Adler die Rechtgläubigen sind, das Aas die Leichberge der Heiden.

Die tröstliche Botschaft des christo-buddhistischen Globalweisen: die Ungläubigen kommen auf den Schindanger; im Himmel werden die frommen Adler ihren totalen Sieg feiern. (In NTV werden die apokalyptischen Katastrophen der Offenbarung des Johannes mit medizinischen Erkenntnissen unterlegt, als ob die Naturwissenschaften das Jüngste Gericht im Labor bewiesen hätten.)

Die wertneutrale Welt der Moderne, die immer rational und funktional sein will, ist der Berg der Sünde, der so weit anwachsen muss, bis er die Wiederkehr des Herrn auslöst. Das Rationale ist das Böse, das den Fortgang der Heilsgeschichte erst ermöglicht. Revolutionen zur Verbesserung der Menschenlage sind zum Scheitern verurteilt. Die Vernunft steht im Dienst des Teufels.

Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (oder Pfunden) ist eine biblische Pädagogik zur sachgemäßen Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, die sich nur unter Druck und Mühsal entwickeln. Jeder Mensch erhält vom Großen Boss unterschiedlich viele Talente (vor Gott sind alle Menschen gleich) und soll durch Handel dieselben vervielfältigen.

Wirtschaftliches Tun ist der wahre Ackerboden, auf dem der Mensch seine unterschiedlichen Gaben zeigen soll. Wer das geliehene Vermögen des Herrn am meisten vervielfältigt, wird von ihm gelobt. Wer mit seinen Fähigkeiten zuhause im Idyll sitzen bleibt und mit ihnen nicht „wuchert“, wird hinaus in die Finsternis gestoßen.

Wer kann nach Lektüre dieses Gleichnisses auf die Idee kommen, das Neue Testament sei antikapitalistisch? Wachsen und Wuchern mit göttlichem Anfangskapital ist anti-idyllisch und muss die Natur zerstören. Pastoren sind Hirten, aber keine Hüter der menschlichen Idylle, sondern die Vernichter des Menschengartens. Auf dem Arkadienbild Poussins sieht man Hirten als Hüter der Natur, die allerdings den ersten Schreck kriegen, als sie sehen, dass sie die Natur nicht retten, sondern den Tod alles Irdischen herbeirufen werden. Fromme Pastoren sind Todfeinde irdischer Hirten.

Im Gleichnis vom verlorenen Schaf überlässt der treue Hirte 99 ungläubige Schafe dem Verderben, um das eine erleuchtete Schäfchen zu erretten. Der Hirte freut sich über das eine auserwählte Schäfchen mehr als über die 99 heidnischen. Ursprünglich war das eine errettete Schaf das Volk Israel. Später wurde es zu den auserwählten Schafen aus allen Völkern: so begann die Geschichte des Christentums. Ursprünglich unterschied der Herr genau zwischen Kindern Israels und allen Heiden dieser Welt, die er in christlicher Liebe „Hunde“ nannte. „Ich bin nur zu den verlornen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen“.

Die Hirten des Himmels sind die Totengräber des irdischen Gartens. Nachdem Robert Grözinger mit seinem Büchlein „Jesus, der Kapitalist“ bewiesen hat, dass wahres Christentum und wahrer Kapitalismus ein Herz und eine Seele sind, hat nur wirtschaftliches Tun die Fähigkeit, die Talente der Menschen zur Entfaltung und zum Wachstum zu bringen. Geburtshilfe für den talentierten Menschen durch unfreundliche bis feindselige Widersprüchlichkeit.

Kant hätte von Antagonismus (Widerstreit) gesprochen. Die Entwicklung des Menschen geht nur über Kampf und fremdschädigenden Streit. Sein vierter Satz aus der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ lautet: Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d.i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.“

Nur durch beständige Androhung, die Gesellschaft zu spalten und zu trennen, nur durch gesellschaftsfeindliche Umtriebe (= ungesellige Geselligkeit), nur durch Widerstreit zwischen jedem und jedem (= Antagonism) kann die Gesellschaft zur Entfaltung ihrer angeborenen Talente kommen, die ohne darwinistischen Zoff im Boden der Natur verkümmern würden. Der Mensch bei Kant ist kein zoon politicon, kein freundschaftsfähiges Wesen, sondern ein missgünstiges, auf eigenen Vorteil bedachtes Wirtschaftssubjekt.

Hier sehen wir die Nachteile der deutschen Aufklärung, die von Aufklärung in Religion nicht viel und von der in Wirtschaft und Politik so gut wie nichts wissen wollte. Die deutschen Dichter und Denker haben mehr vom frühkapitalistischen England übernommen, als heutige Antikapitalisten wahrnehmen wollen, die im Reiche Albions nur geldgeile Krämer und im Inland nächstenliebende Prachtmenschen vermuten.

Der Garten Eden war das Paradies auf Erden, Sinnbild der Mutter und der symbiotischen Einheit mit der Mutter. Zugleich Sinnbild für den weiblichen Körper, das Land, wo für das Kind Milch und Honig fließt und Mann & Frau sexuelle Erfüllung erleben.

Lorenzo der Prächtige aus dem Geschlecht der Medici, beschreibt das Paradies, indem er die Schönheit des Himmels schildert: „Nichts anderes als ein herrlicher Garten, voll aller schönen und köstlicher Dinge, Bäume, Äpfel, Blumen, lebendiger Wasserläufe, Vogelgezwitschers und aller Annehmlichkeiten, die des Menschen Herz begehrt; und hierdurch bestätigt sich, dass das Paradies dort ist, wo eine schöne Frau ist, denn hier findet sich das Abbild jeglicher Anmut und Süße, die ein gütiges Herz nur ersehnen kann.“

In Salomos Hohelied ist der „verschlossene Garten“ die jungfräuliche Braut, deren Quell an lebensspendem Naß noch nicht geöffnet ist. „Ein verriegelter Garten ist meine Schwester und Braut, ein verriegelter Garten mit versiegeltem Quell“. „Mein Gartenquell ist ein Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon strömt.“ (4, 12, 15)

Die Erinnerungen an das verlorene Paradies – auf der Suche nach der verlorenen Zeit findet Marcel Proust die Düfte seiner Mutter – sind die Sehnsüchte nach den Müttern.

Ein Kikuyu-Häuptling erinnert sich an seine Mutter: „Zuerst war sie da, ich erinnere mich an das angenehme Gefühl ihres Körpers, als sie mich auf dem Rücken trug, und an den Geruch ihrer Haut in der Sonnenhitze. Alles kam von ihr. Wenn ich hungrig oder durstig war, schwenkte sie mich nach vorne an ihre vollen Brüste. Noch jetzt fühle, wenn ich heute die Augen schließe, dankbar das Behagen, das mich erfüllte, wenn ich meinen Kopf an ihrer weichen Fülle barg und die süße Milch trank, die sie mir gab. Nachts, wenn die Sonne nicht mehr wärmte, traten ihre Arme, ihr Körper an ihre Stelle und als ich älter wurde und mich für andere Dinge zu interessieren begann, konnte ich dies von ihrem Rücken aus betrachten. Wenn ich schläfrig wurde, brauchte ich nur die Augen zu schließen.“

Der christliche Westen machte das Paradies zum verlorenen Paradies. „Keine andere Kultur hat so viele Entschuldigungen erfunden, eine Mutter von ihrem Kind fernzuhalten“. Heute muss die Mutter sich der väterlichen Sündenfall-Welt unterordnen, um nicht zu darben oder die Anerkennung der Umwelt zu verlieren.

„Dass wir die Säuglinge in Bettchen ablegen“, widerspricht allen Erfahrungen der höchsten Tiere. Der Mensch ist ein Geist- und Arbeitswesen, das die Stufe der Tiere überwunden hat. Anzeichen der Unnatur ist das „abnorm häufige Schreien des Verlassenseins, das man von Kindern der Naturvölker kaum je hört.“ Hierzulande genießen Kinder das Vorrecht des Schreiens und Jammerns, es fördert die Kraft ihrer Lungen und den Ablöseprozess, der vom BDI für gesund und notwendig erachtet wird. Profitorientierte Ausbeuter sind zurzeit die besten Kinder- und Frauenpsychologen.

Frauen und Kinder wollen Eintracht und Paradies, der BDI weiß es besser. Er will Heulen und Zähneklappern. Allzu langes Stillen verformt die Brust und erniedrigt das Wohlstandsniveau.

Die Rückkehr des Menschen in die ewige Seligkeit ist die Vorstellung der Wiedergewinnung des Paradieses. Der Paradiesgarten, aus dem die Menschheit durch Sünde fiel, war ein genitales Symbol: Garten, Tor, Höhle, heiliger Berg („Mons veneris“). Im Hebräischen heißt Garten Eden der Ort der Freude.

Die christliche Tradition schloß sinnliche Freuden aus dem Paradies aus (Matth. 22,30), doch die abgespaltenen Lüste wanderten in die heidnischen Vorstellungen des Paradieses ein. Aus dieser Abspaltung der sinnlichen Erfahrungen aus dem christlichen Paradies erwuchs die Vorstellung, dass es im Paradies langweilig sein müsse. Nichts unsinnlicheres, freudloseres als das Paradies.

Das Lust- und Paradiesverbot ist die Quelle der neuzeitlichen Aversion gegen alle Utopien, sie mögen so rational sein, wie sie wollen. Bei Platon muss die Höhle der Frau überwunden werden, um ans Licht der männlichen Erkenntnisse zu gelangen. Die Höhle war das Reich der Gefangenschaft und des Selbstbetrugs. In diesem Punkt waren Heide Platon und die christliche Frohbotschaft einer Meinung.

Ein sinn- und freudenleeres Paradies muss seit dem Mittelalter für neuheidnische Franzosen die Hölle und die Hölle das wahre Paradies sein. Aucassin, Held der altfranzösischen Fabel, schildert die beiden gegensätzlichen Orte, indem er den Himmel zur Hölle und die Hölle zum sinnenfrohen Paradies macht:

„Denn ins Paradies geht niemand ein als die, die ich euch nennen will: es kommen die alten Priester hinein und die alten Lahmen und Einäugigen, welche Tag und Nacht vor den Altären und den alten Krypten hocken und mit alten Lappen bekleidet sind und alten Mönchskutten, welche nackt und barfuß und ohne Hosen sind, welche vor Hunger und Durst, vor Kälte und Kummer sterben. Die gehen ins Paradies ein, und mit denen will ich nichts zu schaffen haben. Aber in die Hölle will ich gehen … dorthin kommen die schönen höfischen Damen, welche zu ihren Eheherren zwei oder drei Freunde haben. Und dort gibt es Gold und Silber und köstliche Stoffe, und Harfenspieler und Sänger und die Könige dieser Welt. Mit diesen will ich hausen, wenn ich Nicolette, meine herzliche Freundin, bei mir habe.“

(Alle Zitate aus dem Lexikon „Das geheime Wissen der Frauen“)

So seitenverkehrt sind heute die Triebelemente der Moderne, die auf Erden das Paradies errichten will, aber die Hölle erschafft. Bei ihrer Warnung vor der totalitären Hölle beim Bau des Himmels haben Popper und Hayek die christlichen Wurzeln dieses Paradigmenwechsels ignoriert.

Solange die männliche Vorstellung herrscht, der Ort der erfüllten Sehnsucht – das Reich der Frau – sei eine unerreichbare Utopie, muss die Erde eine erfüllbare Utopie der Hölle werden.