Kategorien
Tagesmail

Montag, 13. Mai 2013 – Die reiche Erde

Hello, Freunde der Reichen,

noch nie war die Bevölkerung der Erde so reich. Noch nie ging es so vielen Menschen so schlecht wie im Jahre des Herrn 2013. Allein der versteckte Reichtum in Steuerparadiesen beträgt nach Schätzungen 21 bis 32 Billionen Dollar. Würde diese Summe im Dienst der Menschheit verwendet werden, müsste kein Kind alle zehn Sekunden verhungern, müssten keine Mütter ihre Kinder verhungern sehen.

(Heribert Prantl in der SZ)

Frühere Jahrhunderte mögen nicht so reich gewesen sein, gleichwohl verhungerten nicht so viele Menschen mitten in ihren Völkern und Clans. Entweder ging es allen gut, oder – wenn Naturkatastrophen auftraten – allen schlecht.

Als die Männer die matriarchalen Gleichheitsgesellschaften schleiften und in privilegierte Hierarchien verwandelten, gab es keine kollektiven Schicksale mehr. Der Einzelne wollte sein Schicksal unabhängig von der Gemeinschaft gestalten.

In Zeiten der Not war das Überleben des Kollektivs durch das Noah-Prinzip sicherer als das Überleben einer Gemeinschaft, in der Vereinzelung nicht lebenswert schien. Wenn Einer davonkam, konnte er hoffen, die Tradition seiner Gruppe in die Zukunft zu retten. Es müssen viele Zeiten der Not gewesen sein, als das Noah-Prinzip das Kollektiv-Prinzip ablöste.

Not kann durch Naturkatastrophen hereinbrechen, Nöte kann die Menschheit durch Verteilungskämpfe, Kriege und Rivalitäten selbst erzeugen. Wir dürfen annehmen, dass Naturnot im Verlauf der Geschichte zurücktrat und die von Menschen erzeugten Nöte in den Vordergrund traten.

Die unbedingte Zusammengehörigkeit der Clans wich der bedingten, die im Fall

einer untergehenden Stammesgruppe die Chance des Weiterlebens wahren wollte. Solange es uns gut geht, halten wir zusammen, so die Devise der bedingten Solidarität. Geraten wir kollektiv in Not, muss das Einzelschicksal wichtiger sein als das Gesamtschicksal. Besser, einer kommt davon und sorgt für die Kontinuität der Sippe, als dass die ganze Sippe für immer vom Erdboden verschwindet.

Solange die verschiedenen Menschheitsclans weit voneinander in gesicherten Terrains wohnten und nicht um lukrative Böden und Naturbedingungen rivalisieren mussten, gab es keine Notwendigkeit zur Entwicklung des Individualitäts– oder Noahprinzips. Erst als die Lebensgüter knapp zu werden drohten, der Kampf um attraktive Weiden und Wasserstellen zunahm, waren die Zeiten der bedingungslosen Gruppensolidarität vorbei.

Der Mensch musste sich auf Knappheit und Katastrophen einstellen. Die Rivalität mit fremden Gruppen wurde zum gruppeneigenen Konflikt, der durch individuelle Stärke entschieden wurde. Es begann das Prinzip Ungleichheit, das in hierarchischen Stufen fest gegossen und erhärtet wurde. Wer war am geeignetsten, die Überlebenschance der Gruppe in Notzeiten zu garantieren? Es musste der Beste sein, der Stärkste, der Klügste.

Ein ungeheurer Bruch in der Entwicklung der Menschheit muss die Abwendung von der bedingungslosen Solidarität gewesen sein. An die Stelle grenzenlosen Vertrauens und eines Wir-Gefühls trat Neid, Misstrauen und Scheelsucht zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschwistern, zwischen den Geschlechtern. Das Ich setzte sich vom Wir ab.

Es begann der Kampf jedes Einzelnen gegen jeden Einzelnen. Im Kampf gegen fremde Gruppen musste die eigene Gruppe aus pragmatischen Gründen solidarisch sein und dennoch jeden Augenblick damit rechnen, dass der alltägliche Zusammenhalt zusammenbrach und der blanke Egoismus der Einzelnen zum Vorschein kam. Das ist die Geburtsstunde der Heilsgeschichte und der Moderne. Gott selektiert unter Menschen, die bislang zusammengehörten. Abel wird bevorzugt und von seinem Bruder Kain erschlagen.

Die Moderne ist Heilsgeschichte im Gewand des technischen Fortschritts und des ökonomischen Wachstums. Die Heilsgeschichte beantwortet die Fragen, welche Einzelne es verdient haben, privilegiert zu sein und den drohenden Untergang der Sippe zu überleben. Sei es in diesem oder in einem jenseitigen Leben.

Der moderne Individualismus sorgt für Kontinuität der Menschheit in Zeiten realer – oder befürchteter und geglaubter Not. Das Noah-Prinzip funktioniert noch immer, obgleich keine Sintflut mehr droht. Ersatzweise muss die Natur zerstört werden, damit sie rächend über den Menschen kommt. Wessen Existenz sich der Not verdankt, muss selbst für Not sorgen, um seine privilegierte Situation zu rechtfertigen.

In hierarchischen Systemen muss der hervorragende Einzelne jene Bedingungen schaffen, die seine Privilegien am besten schützen und garantieren. Wie der Bienenstock dazu da ist, kollektiv das Überleben der Königin zu garantieren, weil nur sie für Nachwuchs sorgen kann, so die hierarchischen Männerherrschaften, die seit Beginn der Hochkulturen vor allem für das Überleben der herausragenden Individuen sorgen mussten. Sowohl im irdischen Leben, als auch im Tod, der zusehends als Übergang in ein neues Leben definiert wurde. Anders sind die Pyramiden und unterirdischen Grabmäler in Ägypten nicht zu erklären. Das Haus für die exzellenten Toten wurde größer und eindrucksvoller als die Paläste für die Lebenden.

Der hervorragende Einzelne erhielt eine doppelte Funktion. Er sorgte a) für das Überleben der Gruppe, indem er sie b) nach seinen individuellen Bedürfnissen unterjochte. Der Herr ward geboren, der sich seine Knechte schuf. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Mächtige wurde zum Reichen, um in Zeiten der Volksherrschaft nicht von der Gunst der Massen abzuhängen. Der Reiche sorgt für Arbeitsplätze, indem er die Arbeiter zu abhängigen Knechten erniedrigt.

Die notgeborene Spaltung in Reich und Arm muss die Not zum geheimen Lebensprinzip machen, um die Spaltung zu legitimieren. Über den reichsten Nationen hängt das Damoklesschwert ständig drohender Not. Wenn nicht ununterbrochen die Wirtschaft wächst, droht der Absturz. Deutschland lebt – folgt man den Parolen seiner Talkshows – ständig am Abgrund. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, mitten im Wohlstand von Armut und Verderben.

In keinen Büchern kann man den Begriff Knappheit öfter lesen als in Handbüchern der Ökonomie. Die erfolgreichsten und reichsten Länder der Geschichte befinden sich auf dem Ritt übern Bodensee. Der geringste Ausrutscher und wir brechen durchs Eis und werden von den Fluten verschlungen. Die Sündflut ist direkt unter unseren Füßen und kann jederzeit die Menschheit überschwemmen.

Der größte Wohlstand aller Zeiten ist unfähig, das Gefühl angstfreier Sattheit, Sicherheit und Geborgenheit auf Erden zu schaffen. Ja, er soll es nicht einmal. Frieden und Saturiertheit müssen als die größten Gefahren für den heilsnotwendigen Fortschritt eingeschätzt werden. Nichts Abstoßenderes und Unkreativeres als Gesättigt- oder Saturiertsein.

„Die Grünen sind gesättigt“, heißt: die Grünen sind am Ende. Kommt nicht das große Wagnis, der Sprung ins Unbekannte, das unberechenbare Risiko, verenden wir im Paradies des Sattseins. „Schon seid ihr satt geworden“, bedroht der Apostel des verordneten Dauerhungers seine Gemeinde in Korinth. Hungrig sein heißt ruhelos unterwegs sein. Ständig ein neues Ziel anpeilen.

Wer Wohlstand mit Sättigung verbindet, hat unser Wirtschaftssystem nicht verstanden. Es gibt nur eine legitime Utopie: die Utopie des Lustverbots. Nirgendwo dürfen wir ankommen. Kapitalismus ist die Lehre, wie man Wohlstand schafft, ohne Wohlstand zu empfinden. Ständig muss er Not schaffen, um sie zu beheben. Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts – oder: der Mensch ist ein sündiges Wesen.

Sünde heißt Hunger, Unvollkommenheit, Unzufriedenheit als religiöse Dauererscheinung. Wer in Sünde lebt, darf mit sich nicht zufrieden sein. Er muss den Zustand der Sündlosigkeit ansteuern, den er nie erreichen wird. Sündenlosigkeit ist unter Sterblichen nicht vorgesehen.

In einem ZEIT-Gespräch mit Otto Fricke, FDP, und Katja Kipping von der Linken, beschwört Fricke die unaufhebbare Unvollkommenheit des Menschen: „Das ist die Grunderkenntnis der Bibel: Der Mensch ist mit Fehlern behaftet, er ist halt ein Sünder. Und es ist auch Sache des Staates, immer wieder denjenigen, der „gesündigt“ hat, auf die Folgen zu verweisen.“ (ZEIT-Gespräch)

Wenn es Sache des Staates wäre, jeden Bürger mit seiner Sünde zu konfrontieren, wäre der demokratische Staat zu einem Ajatollastaat verkommen. Der demokratische Staat kennt keine Sünde. Er weiß um die Fehlerhaftigkeit des Menschen, aber auch um seine Lernfähigkeit. Sünde ist irreversibel – wenn sie sich nicht einem Erlöser in die Arme wirft. In einem nichtreligiösen Staat müsste man nicht perfekt sein, um das Gefühl der Sattheit zu genießen.

Die sündige Unvollendbarkeit des Menschen ernährt die Kirchen und – die Wirtschaft. Wenn Reichsein Auserwähltheit bedeutet, muss die bedrohte Erwähltheit verteidigt werden. Durch endloses Unterwegssein und permanente Unzufriedenheit. Die Sucht nach dem Neuen wächst auf dem Boden der Sünde, des Hungerns nach dem Besseren, das sich just in dem Moment als schlecht erweist, wenn es erreicht wird.

Das Neue ist die für jeden Fortschritt notwendige Illusion, nur die Zukunft bringe das Bessere. Selbst wenn das Alte das Paradies wäre, der Sündenfall müsste aus freiem Willen wiederholt werden, um das unerträgliche Paradies hinter sich zu lassen. Die Erbsünde wäre die beste Tat des Menschengeschlechts. Jede moderne Ökonomie wäre mit dem Garten Eden unverträglich. Der Garten Eden ist statisch, fortschrittsfeindlich, neuerungsallergisch. Bei ihm gab es nur ein Neues und das war der Sündenfall.

Die Zufriedenheit mit dem arkadischen Schäferleben wäre der Tod der Geschichte. Dass die Menschheit das Paradies verlor, war demnach kein Verlust, sondern die conditio sine qua non der Heilsgeschichte. Wenn Unheil mit Gegenwart identisch wird, brauchen wir Zukunft als Versprechen, die Gegenwart zu überwinden. Die Wiederkunft des Herrn ist die Bratwurst vor der Nase der Moderne, um ununterbrochen nach dem Neuen Ausschau zu halten und das bereits Gewonnene und Erarbeitete zu verwerfen.

Die Botschaft der Moderne ist: es darf kein Ergebnis geben. Alles beginnt jeden Moment von vorne. Alles Geleistete und Erschaffene muss ungeschehen gemacht werden. Kehre zurück zum Nullpunkt! Tue, als beginnest du in jedem Augenblick die Geschichte von vorne. Werde permanent neugeboren, damit du nicht alt und weise wirst. Weise sein ist Eitelkeit vor dem Herrn, der die Fähigkeit der Menschen fürchtet und sie vernichten muss.

Die Lehre von der creatio continua – der unaufhörlichen Schöpfung – bildet den Kern der Moderne. Gott hat die Welt nicht in einem einmaligen Akt von sechs Tagen erschaffen. Er schafft sie ständig neu. In jedem Augenblick wird sie uralt, stirbt ab und muss jungfräulich neu geboren werden. Das Alte ist vergangen, ich schaffe alles neu. Nicht erst am Ende der Geschichte wird die alte Erde apokalyptisch vernichtet und eine neue erschaffen: der doppelte Prozess der Vernichtung und Erneuerung geschieht in jedem Augenblick.

Wie der Gläubige in Taufe und Gebet ständig seinen alten Adam vernichten muss, um als Neugeborener die Herrschaft der Welt zu übernehmen, so die ganze Schöpfung, die sich ununterbrochen vernichten muss, um neu geboren zu werden. Mit seiner „fruchtbaren Zerstörung“ meinte Schumpeter nichts anderes als die creatio continua des ökonomischen Prozesses.

Hier sehen wir die Perversion der Urschlange Uroboros, die sich verschlingt, um sich ständig zu erneuern. Das war ein Symbol der Natur, das von der Religion auf Gott übertragen wurde. Die Erneuerung der Natur lässt die Natur, wie sie ist. Sie erneuert sich, indem sie das Gleiche ewig wiederholt. In der Heilsgeschichte hingegen muss das Alte zugunsten eines chimärischen Neuen ständig ausgemerzt werden.

Das Neue der Heilsgeschichte ist die Vernichtung des Alten, das Neue in der Natur die verjüngte Wiederholung des Alten. Jeder Mensch ist entzückt über die Natur im Frühling, wo sie das Alte in frischer Gestalt zum Leben erweckt. Doch derselbe Mensch, der sich des Frühlings erfreut, wirft das menschengemachte Alte von sich, um neue Geräte, neue Erfindungen, neue Abenteuer, neue Herausforderungen zu erleben.

Adam Smith begründete seinen Kapitalismus als Schaffung von Wohlstand, den er – nach der Lehre von der creatio continua – als Vernichtung des Erreichten und Sucht nach dem Neuen hätte definieren müssen. Der moderne Kapitalismus muss den Wohlstand vernichten, den er geschaffen hat. Er muss sich verschlingen, um in ewig wechselnden Formen wieder aufzuerstehen. Er wiederholt das Golgatha-Spektakel des Heilands, der sterben muss, um wieder aufzuerstehen.

Goethe zeigt erneut seine Zugehörigkeit zum neoliberalen Lebensgefühl:

„Und so lang du das nicht hast,
dieses Stirb und Werde,
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.“

Was ist der Zweck des Wohlstands? Die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse?

Wenn er das wäre, würde „der Lohn des geringsten Arbeiters“ ausreichen, um „diese zu befriedigen“, so Adam Smith. „Wir sehen, dass er ihm Nahrung und Kleidung gewährt, den Komfort eines Hauses und einer Familie. Wenn wir seine Haushaltung strenge prüften, dann würden wir finden, dass er einen großen Teil des Lohns auf Luxusbedürfnisse ausgibt, die als überflüssig betrachtet werden dürfen, und dass er bei außerordentlichen Gelegenheiten sogar etwas dafür anwenden kann, um seine Eitelkeit zu befriedigen und vornehm auftreten zu können.“

Teure Vornehmheit definieren die Eitlen gern als Kunst, die sie als lebensnotwendiges Bedürfnis ausgeben. Als ob ärmere Länder keine Kunst hätten, die ihnen erlaubte, ihr Leben überschwänglich zu feiern. Wenn die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse nicht der Zweck des Wohlstands sein kann, welchen Sinn hat das Reichwerden?

Smith: „Weil die Menschen geneigt sind, aufrichtiger mit unserer Freude zu sympathisieren, als mit unsrem Leid, pflegen wir gewöhnlich mit unserem Reichtum zu prunken und unsre Armut zu verbergen.“ Wir müssen Schätze anhäufen, „dass man uns bemerkt, dass man auf uns Acht hat, dass man mit Sympathie, Wohlgefallen und Billigung von uns Kenntnis nimmt, das sind alle Vorteile, die wir daraus zu gewinnen hoffen dürfen. Es ist die Eitelkeit, nicht das Wohlbefinden oder das Vergnügen, was uns daran anzieht. Eitelkeit aber beruht immer auf der Überzeugung, dass wir der Gegenstand der Aufmerksamkeit und Billigung sind. Der reiche Mann rühmt sich seines Reichtums, weil er fühlt, dass dieser naturgemäß die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn lenkt. … Bei dem Gedanken daran schient sich ihm das Herz in der Brust zu weiten und er pflegt aus diesem Grunde mehr in seinen Wohlstand vernarrt zu sein als wegen aller anderen Vorteile, die ihm dieser verschafft.“

Adam Smith’ Analyse ist zwiespältig. Der Mensch will reich werden, um anerkannt – sagen wir geliebt – zu werden. Gleichzeitig nennt er das Bedürfnis: Eitelkeit. Ist es eitel, von seinen Mitmenschen akzeptiert zu werden? Geht vom Reichtum Freude aus? Dann würde er den Armen nicht den Krieg erklären, um sie zu besiegen, um Warren Buffet zu zitieren.

In der matriarchalischen Urhorde wurde der Mensch um seinetwillen geliebt. Er musste keine Leistung erbringen, um zu beweisen, dass er liebenswert sei. Erbin der Urhorde ist die Familie, die sich immer mehr dem Diktat des Kapitalismus unterstellt: belobigt wird, was Leistung bringt. Leistung wird identisch mit Reichtum scheffeln.

Wenn Adam Smith Recht hätte, wäre der ganze Kapitalismus gescheitert. Niemand wird heute um seines Reichtums willen geliebt. Gelegentlich wird er bewundert. Er muss Glück haben, wenn er nicht beneidet wird. Zumeist wird er verachtet oder gehasst.

Der Reichtum hat nichts dazu beigetragen, den psychischen Hunger der Menschen nach Akzeptanz zu stillen. Im Gegenteil. Die Spannungen steigen, je heftiger die Klassenkonflikte werden. Der Kapitalismus ist kein Therapeutikum gegen seelische Notstände. Im Gegenteil: er lässt sie ununterbrochen wachsen. Je mehr eine winzige Minderheit den Reichtum der Welt kassiert, je mehr wächst die Menge der Armen. Im Vergleich mit Warren Buffett sind selbst Multimillionäre arm.

Was fühlt der Arme, der ständig aussortiert und an den Rand gedrängt wird? „Der Arme auf der anderen Seite schämt sich seiner Armut. Er fühlt, dass sie ihn entweder aus dem Gesichtskreis der Menschen ausschließt oder dass diese doch, wenn sie irgend Notiz von ihm nehmen, kaum irgendwelches Mitgefühl mit dem Elend und der Not haben werden, die er erduldet. Über beides kränkt er sich Unbeachtet kommt und geht der arme Mann und inmitten einer Menschenmenge befindet er sich in der gleichen Verborgenheit, wie wenn er in seiner Hütte eingeschlossen wäre.“

Solche Worte der Empathie für Arme hört man bei Karrieristen der Proletenpartei vergeblich. Wer dort den Aufstieg schafft, verachtet alle, die es nicht schaffen. Aufstieg ist der Gott, dem die Ehrgeizigen huldigen und sie bewundern die Reichen, denen sie sich als Domestiken andienen. Ludwig von Mises, der Lehrer Hayeks, glaubte, mit Geld alles kaufen zu können, selbst Liebe und Anerkennung. Wäre dem so, müssten die Reichen dieser Welt sich über alle Maßen geliebt fühlen.

Die Funktionäre des Tafel-Kapitalismus füttern die Armen, dass sie gerade noch vegetieren. Von Liebe zu den Armen ist in den Fütterungsstationen nichts zu spüren. Die Caritativen haben genug zu tun, ihre heimlichen Verachtungsgefühle zu unterdrücken.

Das Christentum rühmt sich, die Armen selig zu preisen. Es preist nur die Reichen. Denn im Himmelreich werden die einstmals Armen zu finalen Reichen, die die einstmals Reichen als finale Arme in die Hölle schicken. Lazarus avanciert zum Reichen in Abrahams Schoß. Der ehemalige Reiche darbt im Totenreich, von Qualen geplagt. Seine Bitte um Linderung seiner Armutsqualen wird mit unerhört heiliger Brutalität abgeschmettert:

„Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt.“

Wie in jeder ordinären Revolution werden im Himmel die Mitglieder der Klassen ausgetauscht, die Klassen jedoch bleiben. Selig die Armen, denn sie werden im Himmel reich werden. Verflucht die Reichen, sie werden im letzten Akt des Dramas in Armut stürzen. Armut auf Erden ist die instrumentelle Methode, um dereinst alle Schätze der Welt zu erben. Das Goldene Jerusalem ist ein Eldorado aus Gold und Edelsteinen.

Selig die Armen, denn sie wissen, wie man ultimativ reich wird. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.