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Montag, 12. August 2013 – Der Staat, das Ungeheuer

Hello, Freunde Snowdens,

Sagte Mr. O.:Whistleblower Edward Snowden habe zwar mit seinen Enthüllungen den Stein ins Rollen gebracht. Aber: «Ich denke nicht, dass Mr. Snowden ein Patriot ist.» Snowden habe die Diskussion über die Überwachungsprogramme der NSA beschleunigt. «Wenn er tatsächlich denkt, dass das, was er getan hat, richtig war, dann kann er wie jeder US-Bürger herkommen, mit einem Anwalt vor Gericht erscheinen und seine Argumente vorbringen.»“ (Antje Passenheim in der TAZ)

Ist das Rechtssystem der USA über allen Verdacht erhaben? Ein Rechtssystem, das militärische Verbrecher schützt, deren Ankläger aber einer grausamen Tortur unterzieht?

Wenn es Snowden gelang, die USA wieder demokratischer zu machen, die Überprüfung der Überwacher zu erreichen, dann ist er Patriot. Wie kann ein Präsident die richtigen Argumente für Snowdens Patriotismus in einem Satz nennen und – in Frage stellen? Sollten düstere Motivationen unterstellt werden? Dann wünscht man sich viele Demokraten, die aus falschen Motiven das Richtige tun.

Der Staat hat Taten zu beurteilen und keine Gemütslagen und Herzensstimmungen. Hier beginnt der Übergriff christlicher Regimes: sie glauben, gottähnlich zu sein und erschlichenen Zutritt in die Seele der Menschen als privilegiertes Recht zu besitzen. Kein Wunder, dass ihre Schnüffelmaschinen sich anmaßen, das

Unbewusste der Menschen durch den Hintereingang zu betreten und auszunutzen.

Vor dem Schnüffeln kommt die Ideologie: sie begehren Herren der Seelen zu sein. Doch die Seele ist verbotenes Gelände für Machtträger und Regierungen. Zutritt haben nur diejenigen, denen es freiwillig von den Menschen eingeräumt wird. Seitdem Gott und Satan ins Herz der Menschen geschlüpft sind, glauben Eliten, das Privileg über das Innere der Menschen zu besitzen.

Der Leib gehört ihnen ohnehin. Doch das schnöde Fleisch genügt ihnen nicht, die wie Gott sein wollen. Leib ist minderwertig und vergänglich, nur die Seele ist zukunftsfest. Sie ist unzerstörbar, also kann man trefflich Schlitten mit ihr fahren. Für alle Ewigkeit im Elysium oder für alle Ewigkeit im Tartaros.

„Mag Leib und Sinn mir schwinden,

Gott ist ewiglich mein Teil.

Denn siehe, die dir fernbleiben, kommen um,

du vernichtest alle,

die dir untreu werden.

Mir aber ist es köstlich,

Gott nahe zu sein.“

Taten erscheinen äußerlich und trügerisch. Was, wenn der Teufel mit guten Werken daherkäme?

Welche Motive hatte Bill Gates, um reich zu werden? Welche Motive hatte Mr. O., um mächtigster Mann der Welt zu werden? Die Beweggründe der Erfolgreichen werden nie in Frage gestellt. Wer Erfolg hat, muss automatisch die besten Motive gehabt haben. Erfolg heiligt alle Motive.

Misserfolg verdächtigt die hehrsten Absichten. Nur die Überflüssigen und Untertanen haben Motive zu haben, denen man mit exorzistischen Scherenhänden auf den „Leib“ rücken darf. Gab es nicht unendlich viele Theologen, die zu den glühendsten Bewunderern des Führers gehörten? Wurden die jemals angeklagt?

Warum kamen die Kirchen mit perfekten Persilscheinen davon? Amerika ist christlich und konnte unmöglich einräumen, dass christlicher Glaube das Böse befördert hatte. Also gab es einen kollektiven Ablasshandel für das deutsche Christentum. Einzige Bedingung: die unbußfertigen, aber mit neuer Zungenrede ausgestatteten Kirchen sollten den Nachkriegsdeutschen Moral einbläuen. Dann kämen sie mit einem billigen Stuttgarter Schuldbekenntnis davon.

Das internationale Christentum hält zusammen wie Pech und Schwefel. Amerikas Grundlagen wären zerstört worden, wenn die Siegernation die Möglichkeit zugelassen hätte, dass heilige Motive zu Tod und Verbrechen führen. Guantanamo und andere Liebestaten mögen gegen weltliches Recht verstoßen: nie aber verstoßen sie gegen den Geist der Liebe, der tun kann, was er will. Hauptsache, die Untaten sind von heiligen Motiven abgesegnet.

Liebe und tu, was du willst. Eine der ungeheuersten Komplizenschaften in der Geschichte zwischen amerikanischen Sieger- und deutschen Verbrecherchristen. Warum sind sie unbekannt? Warum werden sie nicht erforscht? Weil die Kirchen in westlichen Demokratien zu heimlichen Wahrheitsministerien geworden sind, die alle zehn Jahre ihre Doktrinen ändern, das Gegenteil ihrer bisherigen Predigten als untrügliche Wahrheit verkünden und alles Vergangene aus den Gehirnen der Vergesslichen tilgen.

Es können nur Theologen gewesen sein, die den Neoliberalen das Motto lieferten: nie an die Vergangenheit, immer nur an die Zukunft denken. Es steht ja nur wortwörtlich in heiligen Schriften: „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues.“

Begründung: „Ich, ich tilge alle deine Missetaten um meinetwillen und deiner Sünden will ich nimmer gedenken.“

Man vergesse nicht, das Christentum ist eine Religion der Heilsgeschichte. Doch die Geschichte besteht bei ihr nur aus zwei Zeiten, der schnell vorüberfließenden Gegenwart und der unbekannten, erhofften und befürchteten Zukunft. Die Vergangenheit ist tot. Höchstens darf sie erwähnt werden, um früherer Phantasie-Taten Gottes zu gedenken.

Böse Taten des Gottes hat es nie gegeben und wird es keine geben. Wenn doch, müssen sie auf Gebot des Himmels aus dem Gedächtnis gestrichen werden. „Ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich aus nach dem, was vor mir ist und jage, das Ziel im Auge, nach dem Kampfpreis.“

Das Prinzip des Gläubigen ist: Augen zu und durch. Lasst die Toten die Toten begraben. Dabei war das Begraben der Toten heiligste Pflicht gegenüber geliebten Familienmitgliedern.

Heilsgeschichte ist keine Geschichte, sondern bereinigte, verfälschte, verdrängte und absichtlich vergessene Geschichte. Am Jüngsten Tag wird Gott die großen Bücher aufmachen, in denen die Taten der Kreaturen beschrieben sind, seine eigenen Untaten, falschen Verheißungen und Versprechungen werden nie erwähnt.

Das ständig gepredigte und in Aussicht gestellte Neue ist – das verdrängte und wiedergekehrte Alte. Doch niemand bemerkt es, denn nicht Archive vernichten ihre Bestände, sondern die Gehirne säubern sich automatisch im Takt der Dekaden. Das ist Gnade der ständigen Taufe, dass der alte Adam permanent ersäuft werde.

Aufersteht regelmäßig ein jungfräulicher, von keiner Unheilsgeschichte befleckter Anfänger des Glaubens. Die reine Leinwand oder die Tabula rasa sind Kennzeichen des Faschismus, der von keiner Vorgeschichte belastet sein darf und stets mit vollständig gereinigter staatlicher Seele am Punkte Null beginnt.

Erinnert man die permanenten Neubeginner an die Missetaten ihrer Kirchen, winken sie routiniert ab: sie haben sich selbst vergeben. Also zählen jene Untaten nicht mehr. Tilgt sie aus dem Gedächtnis. Wer weiß heute noch von Kreuzzügen? Von der Inquisition? Von den Quäl- und Marterorgien des Kolonialismus, deren psychische Folgekosten die afrikanischen und südamerikanischen Völker noch heute tragen müssen?

Es gab den Begriff pietosa crudelta, die fromme Grausamkeit. Wer seine Frömmigkeit beweisen wollte, musste zum Schlächter der Menschheit werden. Just das war die Mentalität der NS-Schergen, die ihre Untaten im Namen des Sohnes der Vorsehung vollbrachten.

Heute wird die törichte Frage gestellt: wie konnten ausgerechnet die hochkulturierten Deutschen …? Dass diese Frage überhaupt hochkommen konnte, beweist die perfekten Verdrängungsleistungen unsrer ecclesiogenen Wahrheitsministerien.

Heute schmücken sie sich mit jenen Tugenden der Aufklärung, dies sie einst bis aufs Messer bekämpften und erwecken den Eindruck, sie hätten sie als Geschenk vom Himmel erhalten. Aus jedem Schlachtfest, das sie veranstalten, erheben sie sich porentief gereinigt vom Blut ihrer Opfer, die für sie gestorben sind, gelitten unter Rom, Wittenberg, Genf und allen Glaubensburgen dieser Welt.

Immer in die Zukunft schauen: das ist die Geburt des Neoliberalismus aus dem Geist des Glaubens, der alles neu macht. Siehe, das Alte ist vom Heiligen Geist weggeräumt, aus den Gehirnen getilgt oder neu gedeutet.

Schon Hegel spottete über die Gottesgelehrten seiner Universität, die jede Debatte, die sie nicht bestanden, mit der Frage beendeten, ob der Kontrahent schon ihre neuesten Kompendien gelesen hätte, wo ihre Fündlein des Geistes in perfektem Neusprech formuliert seien. „Wie auch unsere Theologen so klug sind, ihre willkürlichen Meinungen auf die Bibel stützen zu können.“

Vergesset des Vergangenen, gedenket nicht mehr des Verflossenen: der Urtypos für Orwells Vergangenheitsvernichtungsorgien des Großen Bruders war die Theologie. Gedenket wessen? Nur der großen Taten Gottes. Nur der großen Taten seiner Gläubigen. Das Schreckliche und Unrühmliche in den Orkus des Verdrängten. „Ich will ihrer Sünden nicht mehr gedenken.“

Wer darf seiner Sünden gedenken, wenn’s der Herr nicht tut? „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend, gedenke meiner nach deiner Barmherzigkeit“. Barmherzigkeit ist die Methode der Liebe, alles Sündige der Erwählten ungeschehen zu machen. Als Lots Frau auf den Ort des Grauens zurückschaute, erstarrte sie zur Salzsäule.

Nur die Deutschen haben sich der Pflicht der nationalen Erinnerung unterzogen. Doch es geschah im Stil braver Schüler, die vorbildlich sein wollten. Das wirkliche Erkenntnisinteresse war gering. Man wollte bei den Umerziehern durch Bewältigung der Hausaufgaben gute Noten abholen. Ob sie selbst etwas verstanden hatten, das interessierte sie nicht. Sie konnten Fakten, Zahlen und Namen herleiern. Dass das Verhängnis mit ihrer christlichen Sozialisierung zu tun haben könnte, das wird heute von den Umerziehern geleugnet.

Man höre sich den bei der ZEIT schreibenden Amerikaner Eric T. Hansen an:

„Auch das Dritte Reich – das ausnahmsweise tatsächlich aus einer Demokratie hervorging – ist nicht durch die langsame, perfide Aushöhlung der Verfassung ins Leben gerufen worden, sondern schlicht, weil man Hitler wählte – in vollem Bewusstsein, dass er kein Freund der Demokratie war. Das hatte nichts mit einem „schleichenden Prozess“ zu tun, sondern mit einem massiven Misstrauen gegenüber dem eigenen System. Nach 15 Jahren Demokratie sagte sich das Volk: «Dieser neumodische Quatsch funktioniert doch nicht so toll, wie wir dachten, versuchen wirs mit einem anderen System.»“

Das Verhängnis kommt wie ein Blitz vom Himmel. Hansen beurteilt die Geschichte unverblümt in biblischen Kategorien: „Denn wie der Blitz vom Osten ausfährt und bis zum Westen leuchtet“.

Nicht nur die bösen Verlierer des Weltkrieges hätten verstehen müssen, wie das deutsche Verhängnis entstand, auch der gesamte christliche Westen war anfänglich von der Hitlerei beeindruckt.

Warum wollte Amerika – gegen den Willen Roosevelts – anfänglich nicht in den Krieg gegen den Faschismus ziehen? Warum musste Winston Churchill so viele Widerstände überwinden, um auf die wachsende Gefahr in Mitteleuropa aufmerksam zu machen?

Gruppendynamisch muss man sagen: Deutschland, das dümmste, brutalste und undemokratischste Regime des Abendlandes fühlte sich berufen, die antisemitischen Vertilgungsphantasien, die im Westen – und nicht nur untergründig – vorhanden waren, stellvertretend für alle auszuagieren. Ja, sie hofften auf den Beifall der Welt, wenn sie nach getaner Arbeit sagen würden: Ihr alle habt euch nicht getraut, die grausame Barmherzigkeit auf euch zu nehmen. Nur wir haben uns nicht gescheut, die Rolle der Teufel zu spielen, um das Werk der Erlöser durchzuführen. Wir waren keine Heuchler, die immer daran dachten, es aber nie taten: wir taten, was wir dachten. Wir waren die Tapfersten und Eindeutigsten.

Erst die stellvertretende Untat der Deutschen hat den ganzen Westen von seinen eigenen Phantasien befreit. Indem er die Deutschen an den Pranger stellte, konnte er seine eigenen Projektionen mit bestem Gewissen beerdigen. Der Dümmste muss immer die unbewussten Triebbewegungen der Gesamtgruppe ausagieren und den Sündenbock für alle spielen. Wenn die Amerikaner nicht verstanden haben, was in Deutschland abging, werden sie ihre eigene Vergangenheit nie ins Visier nehmen.

Amerika ist der geschichtsloseste Kontinent der Erde. Bis heute glauben sie, sich aus Nichts erschaffen zu haben. Sie haben keine europäische Vorgeschichte. Alles Gute haben sie selbst erfunden, alle Übeltaten sind Relikte aus Old Europe. Demokratie und Menschenrechte sind Geschenke des Himmels. Von Altgriechenland haben sie noch weniger Ahnung als ihre deutschen Paradeschüler.

Dass sie in biblischem Gewissen die ganze Urbevölkerung so gut wie ausgerottet haben, ist für sie kein Gegenstand nationaler Erinnerung. Der Kontinent war ihnen verheißen, also mussten die Indianer weichen, die dort nichts zu suchen hatten. Punktum. Das war Gottes Wille in Wiederholung uralter Landnahme der Kinder Israel, von der berichtet wird, dass Gott die Urbevölkerung ihnen in die Hände gab:

„Und sie vollstreckten den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, an jung und alt, an Rind und Schaf und Esel. Die Stadt aber verbrannten sie und alles, was darin war. Nur das Silber und Gold und die ehernen und eisernen Geräte taten sie in den Schatz im Hause des Herrn.“

Man kann auf keinen Fall sagen, die Deutschen hätten verstanden, was sie zum Unheil trieb. Das wird sich nicht ändern, solange ihre Erzieher, Vorbilder und Wohltäter nicht mit gutem Beispiel vorangehen. Über-ich-gesteuert, wie autoritär gepolte Deutschen nun mal sind, murren sie in sich hinein: wenn jene es nicht nötig haben, vor der eigenen Haustür zu kehren, warum sollen immer nur wir Vergangenheit bewältigen?

Wenn der Westen nicht en bloc die Eroberung der Welt im Namen des Pantokrators aufarbeitet, wird die Geschichte in der jetzigen Sackgasse stecken bleiben. Noch heute leiden Afrikaner unter den Grausamkeiten ihrer Kolonisatoren und fühlen sich unfähig, ihr Geschick in demokratischem Geist zu gestalten. Schon werden Rufe bei ihnen nach Rückkehr der ehemaligen Herren laut. Jene seien noch immer fähiger, einen Staat zu managen als die eigenen bankrotten Eliten. (Wolf Lepenies in der WELT)

Die ganze Welt leidet an der westlichen Unfähigkeit zu trauern, zu erinnern und durchzuarbeiten. Die Weltpolitik stagniert, gefangen in kollektiver Amnesie.

In der Eröffnungsrede zu seiner Wahl zitierte Präsident Obama den 11. Vers aus dem Hohenlied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief 13: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, sann wie ein Kind, urteilte wie ein Kind; als ich ein Mann war, tat ich ab, was kindisch war.“

Das war das Signal für Amerika, nicht das Kindische, sondern das Kindliche abzulegen und machiavellistisch wie ein Erwachsener zu werden. Aus heutiger Erkenntnis könnte man sagen: Obama wollte seiner Nation das gute Gewissen zur pietosa crudelta übergeben. Die Welt ist verkommen, die auserwählte Nation muss sie zu deren eigenem Besten an die Kette legen.

Sonst so stolz auf die Kindlichkeit des Glaubens – lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich der Himmel nicht erlangen – haben sie plötzlich keine Schwierigkeiten mehr, das Kindliche ins Kindische zu verstümmeln und alles Kindsein wegzuwerfen, um endlich als Erwachsene „Verantwortung für die Welt“ zu übernehmen, was bedeutet: ihre Waffen und Prismenaugen rund um den Planeten zu installieren.

Wo sind unsere Feuilletonisten, die nie erwachsen werden wollen, verblieben, die den Paradigmenwechsel bei unseren Freunden bemerkt und sie vor unübersehbaren Folgen des Erwachsenwerdens gewarnt hätten?

Erwachsenwerden heißt in abendländischen Kreisen nicht weise werden, sondern die Welt für erlösungsbedürftig halten. Damit man eine heilige Motivation hat, um schuldlos Schuld auf sich zu nehmen. Ohne schmutzige Hände könne man nicht die Führung der Welt übernehmen. Man darf nicht nur, man muss schuldig werden, um Gottes Geschichte dem Ende entgegen zu führen.

Seine Motive zu erforschen ist sinnvoll für den Menschen, der sich selbst erkennen will. Um seine Widersprüche wahrzunehmen und einstimmiger mit sich zu werden. Das Innere des Menschen ist das Feld des Probehandelns. Triebe agieren gegen Moral, Widersprüche bekämpfen sich und schließen verhängnisvolle Kompromisse.

Dies alles zu erkennen ist notwendig und nützlich – für den Einzelnen. Aber nicht für den Staat, der den Untertanen als potentiellen Dauerverbrecher betrachtet, der rund um die Uhr überwacht werden muss, um Unheil von der Gesellschaft zu wenden. Weder ist der Mensch ein permanentes Ungeheuer, noch darf im Namen der Prophylaxe die ganze Menschheit in Sippenhaft genommen werden.

Die beste Prophylaxe ist demokratisches Vorbildsein und friedensstiftende Gesinnung. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wer allen misstraut, dem wird von allen misstraut. Wer alle Menschen als mögliche Straftäter einschätzt, vergrößert die Zahl der Straftäter ins Endlose. Der Staat züchtet genau die Menschen, die er bekämpfen will.

Das sind Trivialitäten, die einem Rechtsprofessor an der Spitze der Welt abhanden gekommen sind. Die Taten der Menschen sprechen für sich. Durch Gesinnungsschnüffelei werden sie nicht transparenter. Eine Tat mag ein Zufall sein, viele Taten können das Gesetz ihres Handelns nicht verbergen.

Das Innere des Menschen ist sein Allerheiligstes, das kein Staat betreten darf. Ob ich ehebrecherische Gedanken habe, hat keinen Erlöser zu interessieren, ob ich terroristische Gedanken habe, keinen Staat. Verantwortlich bin ich nur für meine Taten.

Mein Inneres finde ich vor. Es ist der Abdruck meiner Geworfenheit, für die ich nicht zuständig bin, da ich sie nicht gewählt habe. Zuständig bin ich nur für meine Taten, die für jedermann sichtbar sind und demokratischer Bewertung unterliegen – sofern sie öffentlich und politisch sind.

Für mein Inneres bin ich erst nach einem langen selbstkritischen Leben zuständig. Doch nur ich entscheide, wem ich es offenbaren will. Wenn ein Staat sich erkühnt, das Innere des Menschen zu Machtzwecken zu durchleuchten, ist er ein Ungeheuer aus der Tiefe:

Siehe das Ungeheuer, das ich schuf. Steif macht es seinen Schwanz wie eine Zeder, der Erstling von Gottes Schaffen, gemacht zum Beherrscher seiner Genossen. Wer kann vor ihm bestehen? Wer hat je aufgedeckt sein Kleid? Wer dringt ihm in das doppelte Gebiss? Die Tore seines Rachens, wer hat sie geöffnet? Sein Herz ist wie ein Stein so hart. Alles, was ist, fürchtet sich vor ihm. Es ist ein Despot über alle stolzen Menschen.