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Tagesmail

Montag, 01. Juli 2013 – 2050 vor der Tür

Hello, Freunde der Wahrheit,

zuerst das Gute: die Dinge kommen an den Tag. Doch jetzt das Gegenteil: Es sind keine guten Dinge. Genau genommen kommen sie gar nicht jetzt an den Tag. Man hat alles gewusst, man hätte alles wissen können. Das Neue ist nur, dass man ab jetzt nicht mehr tun kann, als wisse man nichts.

Vor Jahrzehnten schon erschien ein Bericht über amerikanische Geheimdienste, die mitten in Deutschland alles ausspionierten, was nicht niet- und nagelfest sei. Vor allem die Industrie, die schärfste Konkurrenz für die Wirtschaft des Großen Vetters. Da bereits fiel der Begriff NSA.

Deutschland ist für die Siegerländer noch immer Angriffsland. Die angelsächsische Völkerfamilie schart sich zusammen. Wenn böse Zeiten drohen, muss man wissen, auf wen man sich verlassen kann. Deutschland ist das beliebteste Land der Welt – aber Freunde hat es keine. Selbst innerhalb Europas haben wir es verstanden, alle gegen uns aufzubringen. Nicht mehr mit schlechten, sondern mit herausragenden Dingen.

Vor kurzer Zeit waren wir die Bösesten, nun sind wir die Besten. Aber immer noch nicht beliebt – und verstehen nur Bahnhof. Dachten wir nicht, uns mit Spitzenleistungen beliebt zu machen? Dass arrogante Überlegenheit nicht unbedingt beliebt macht, wissen hierzulande nur Briefkastentanten.

Vor wenigen Tagen hat sich der Große Freund in Berlin ganz interfamiliär seiner Jacke entledigt. Heute wissen wir, dass er seine Verbündeten bis auf die Knochen auszieht. Er will seine Freunde sehen, wie

Gott sie schuf. Nackt und bloß. Denn auch der Große Freund will Gott sein. Merkel zog ihre lutherische Jacke nicht aus, dennoch steht sie ohne Feigenblatt da und spielt die unberührte Jungfrau: Internet?

Internet ist Neuland für uns. Weiß sie schon, dass es Geheimdienste gibt? Fiel ihr nicht auf, dass ihr Großer Freund all ihre Fragen und Bedenken spontan parieren konnte, weil er sie schon lange kennt und sich sorgfältig vorbereitet hatte? War es nicht ein Angelsachse, dessen Motto lautete: der Freund ist dem Freunde ein Wolf – sofern er kein Angelsachse ist? Waren es nicht irische Masters of Universe, die sich über dumme Deutsche lustig machten?

Die Krämer misstrauen noch immer den Helden, auch wenn die Helden längst Oberkrämer geworden sind. Das ist ja das Ärgerliche an dummen Tüchtigen, dass sie ihre Lektionen stets übermäßig einpauken, gleichgültig, wie die Lektionen lauten. Gestern mit Soldaten und Kanonen, heute mit Zaster und Maschinen: Hauptsache, wir sind die Besten.

Die Nachkriegszeit als Zeitenwende, als Neubeginn der Völker, die Krieg, Hass und Misstrauen hinter sich lassen wollte: diese Nachkriegszeit ist vorbei. Der vorbildliche Westen hat seinen Sonntagsanzug ausgezogen. S’ist wieder All- und Werkeltag. Merkeltag. Alle zurück in die Startlöcher. Ab jetzt heißt es wieder in klassischer Nächstenliebe: Jeder gegen jeden.

Hat schon jemand von Weltraumarchäologie gehört? Mit gestochen scharfen Bildern aus dem Weltraum, getätigt mit Infrarotkameras, die unter die Erdoberfläche schauen, kann man die Vergangenheit der Menschheit entdecken und rekonstruieren. Mit totaler Überwachung kann man der Menschheit ebenfalls unter die Haut schauen. Obama weiß mehr über seine Freundin Merkel, als sie über sich selbst weiß.

Das ist keine ordinäre Geheimdiensttätigkeit mehr, das ist kollektive Psychoanalyse mit Hilfe verdrahteter Informationen, die als einzelne ganz harmlos daherkommen. Die Geheimdienstler sind keine Schlapphüte mehr, die aus der Kälte kommen. Sie sind digitale Freudianer. Das System Unbewusstes ist die unvermeidliche Kehrseite vieler bewusster Informationen. Der Streit zwischen C. G. Jung und S. Freud ist entschieden: es gibt ein kollektives Unbewusstes und wird sorgfältig von Mega-Giganto-Informationsspeichern behütet und bewahrt.

Eine Zahl mit 24 Nullen: so viele Informationen können die neuen Archive der Menschheit speichern. Mehr als Gottes Gehirn, das sich nach Hörensagen dem Stadium der Altersdemenz nähert.

Nein, schnurrte Papa Gauck mit einer Stimme, als sei Luther mit einer Schnurrkatze kohabitiert worden, nein, er habe nichts gegen Überwachung. Und dachte zuerst an seine Familie, die er vom Jenseitigen Großen Bruder behütet wissen will. Er wolle nur eine rechte Balance. Balance – das neue Sedativum der Mächtigen, um nicht wissen zu müssen, was aus dem Ruder gelaufen ist.

Balance aus Sicherheit und Freiheit? Sind das feindliche Brüder, die auf der Waage der Unverträglichkeiten mühsam austariert werden müssen? Seltsam, dass nie die Begriffe Recht und Unrecht fallen. Was, bitte schön, ist die Balance aus Recht und Unrecht? Ein bisschen Recht und viel Unrecht oder ganz viel Unrecht – mit Rücksicht auf die eigene Familie – und einem kostbaren Hauch von Recht Nr 5?

Nun brodelt‘s in old europe. Fragt sich nur wie lange. Die Verhandlungen über die größte Freihandelszone der Welt sollen blockiert werden. Gehören Informationen über freie Bürger nicht zum verkäuflichen Kulturgut, das mit Gewinn privatisiert werden könnte? Wäre das etwas Neues? Wie lange schon beliefert die EU den Großen Freund mit Daten ihrer nach Übersee fliegenden Untertanen? Gab es einen einzigen Untertanen, der sich aus Protest weigerte, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu reisen? Wozu auch, kommst du nicht zum Großen Freund, kommt Er freiwillig zu Dir.

„Deine Augen sahen alle meine Tage,

in deinem Buche standen sie alle;

Meine Seele kanntest du wohl,

Mein Gebein war dir nicht verborgen,

da ich im Dunkeln gebildet ward,

kunstvoll gewirkt in Erdentiefen.

Erforsche mich, Oh Großer Freund,

und erkenne mein Herz,

prüfe und erkenne meine Gedanken.

Stiege ich hinauf in den Himmel,

so bist du dort,

schlüge ich mein Lager in der Unterwelt auf,

so bist du auch dort,

Und spräche ich: lauter Finsternis

Soll mich decken,

Und Nacht sei das Licht um mich her,

so wäre auch die Finsternis

nicht finster für dich

die Nacht würde leuchten wie der Tag.“

Prüfe mich bis auf die Knochen, Obama. Nichts habe ich vor Dir zu verbergen. Sag das aller Welt, dass ich rein und unschuldig bin.

Warum rebelliert der Westen nicht? Weil er überprüft werden will. Er will ein Zeugnis von Oben bekommen über seine Unbedenklichkeit und Unbeflecktheit. Im täglichen Rennen und Hasten glaubt kein Mensch mehr seinem Mitmenschen. Jeder traut seinem Nachbarn das Schlimmste zu: Mord und Totschlag, böse Gedanken in Worten und Werken, Ehebruch und Pädophilie. Manche Penner schrecken nicht mal davor zurück, weggeworfene Lidl-Lebensmittel dem eigensüchtigen Verzehr zuzuführen. Ist denn Müll nicht mehr Bestandteil des unverletzbaren Eigentums?

BILD-Goethe Wagner will lieber überwacht als tot sein. Welcher Terrorist will ihm denn an den Kragen? Ist er nicht von der NSA ins deutsche Blatt aller Blätter gehievt worden, auf dass er deutsche Seelen subversiv verderbe und die totale Überwachung lieben lerne? Lieber rot als tot, war einst der Slogan linker Demokratieverächter im Sog des großen Bertold Brecht, auch keinem Freund der Demokratie.

Winston Smith musste eine raffinierte Verschwörung anzetteln, scheitern, Buße tun – um endlich geläutert zu stammeln: Ich liebe Dich, Großer Bruder. Heute braucht man keine romanhaften Alpträume mehr. Heute genügen BILD und jene Kommentatoren, die mit unschuldigen Augen die Frage stellen: Was sollen Geheimdienste denn sonst tun, außer schnüffeln – und Merkel im Schlafzimmer zu überwachen, ob sie noch zu Nacht betet?

Der Mann, der diese Frage stellte, hat schon den richtigen Namen: Matthias Horch, pardon, Horx, ist Zukunftsforscher und weiß längst, dass die Zukunft noch ganz andere Sachen bieten wird als ein bisschen überwacht werden. (Matthias Horx in der BLZ)

Peu a peu dringt nun an die Öffentlichkeit, wen Prism alles angezapft hat. Einfacher wäre es, festzustellen, wen die Großen Freunde nicht angezapft haben. Außer der EU sind es Japan, Mexiko, Südkorea, Indien und die Türkei, deren nationales Innengekröse in Gods own Country zutage liegt.

Die erste Reaktion der Geheimen war: wir geben keine Auskunft über uns. Sind wir denn meschugge? Wüsste die Welt alles über uns, wären wir dann noch Geheimdienste? Der oberste Chef mit Namen – psst, Geheimnis – James Clapper ließ verlautbaren: „Die Regierung wird der Europäischen Union angemessen über unsere diplomatischen Kanäle antworten.“

Doch zu früh gefreut, Freunde der Wahrheit. „Während wir grundsätzlich bestimmte, mutmaßliche Geheimdienstaktivitäten nicht öffentlich kommentieren, haben wir klargemacht, dass die USA ausländische Geheimdienstinformationen in der Weise sammeln, wie es alle Nationen tun.“ (DER SPIEGEL)

Cosi fan tutte, sie treiben es alle. Also zögern wir nicht, um es unverschlüsselt zu sagen: wenn sie es alle treiben, sollen sie alle zum Teufel. Wir wollen eine friedliche Menschheit, die vertraulich zusammenarbeitet. Vertrauen und Schnüffeln: das passt nicht zusammen und wird nie zusammen passen.

Ist der Präsident der Vereinigten Staaten überhaupt noch Herr des Verfahrens? Ist er nicht selbst schon Gejagter und Überwachter? Hat nicht bereits ein Clique Wahnwitziger das Regiment über die Welt übernommen? Fieberträume eines Geistersehers?

Schon Eisenhower warnte vor dem militärisch-technischen Komplex. Im Vergleich zu heutigen Mächten war der damalige Komplex ein Betverein. Und in der Tat: aus geheimen Quellen haben wir den Präsidenten hinter Gittern ausfindig gemacht. (Andreas Borcholte im SPIEGEL)

Selbst der SPIEGEL bestätigt:

„Der mächtigste Mann der freiheitlich-westlichen Welt, gefangen hinter eisernen Stäben – das illustriert sehr eindringlich die Situation Obamas in der amerikanischen, aber auch in der globalen Politik.“ Hat er seine Situation nicht klar beschrieben, dass 100%ige Redefreiheit und 100%ige Sicherheit nicht zusammenpassen?

„You can’t have 100 percent security and also have 100 percent privacy and zero inconvenience“, hatte Obama zur Enthüllung des sogenannten Prism-Programms durch den ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden gesagt. Ein einleuchtender, ein fataler Satz. Denn eine Gesellschaft, die von ihrer Regierung ausspioniert und kontrolliert werden muss, um eine höchst zweifelhafte Sicherheit zu gewährleisten, ist kaum mehr freiheitlich zu nennen. Sie ist gefangen, eingesperrt in ihrem Angstkomplex.“

Ist es nicht ein Witz der Weltgeschichte, dass Obama ausgerechnet in jenem Gefängnis, in dem Mandela für die Freiheit seines Landes einsaß, die Überwachungsmethoden seines Landes verteidigt, welche die ganze Welt in ein planetarisches Gefängnis verwandeln? Die größte, bis gestern noch immer eindrucksvollste Demokratie der Welt, hat sich als Super-1984 entlarvt. Im Zwiesprech wird Freiheit als Gedankengefängnis und Gedankengefängnis als Freiheit propagiert.

„Obama zahlt einen hohen, vielleicht zu hohen Preis für den Erhalt der Freiheit. Und er wird überall auf der Welt damit konfrontiert: Vor der Universität und im Township Soweto hatten sich in den vergangenen Tagen und am Sonntag, als Obama noch auf Robben Island weilte, wütende Demonstranten versammelt. Auf ihren Plakaten und Transparenten waren antiamerikanische Parolen wie „Obama mass killer“ und „End drone wars now“ zu lesen.“

Doch langsam scheinen sich die Europäer zu regen. Trittin fordert, Snowden nach Europa zu holen. Der SPIEGEL plädiert für die Einsetzung eines europäischen Untersuchungsausschusses. Merkel & Friedrich hätten völlig versagt. Zum ersten Mal fällt das Wort totalitär.

Das ist die neue Dimension. Mit den heutigen technischen Mitteln sind Demokratie und totalitärer Staat so vereinbar, dass kein Mensch gestört wird – außer denen, die sich dagegen auflehnen. „Freimütig definiert die NSA Deutschland als Partner und Gegner zugleich, als sogenannten Partner dritter Klasse. „Wir können die Signale der meisten ausländischen Partner dritter Klasse angreifen – und tun dies auch“, heißt es in einem Dokument, das der SPIEGEL einsehen konnte. Der totalitäre Informationsanspruch der NSA betrifft nicht nur Staaten und Behörden, er betrifft nicht nur Wirtschaftsunternehmen. Er betrifft uns alle. Er betrifft selbst jene, die glauben, gar nichts zu verbergen zu haben.“ (SPIEGEL-Kommentar von Laura Poitras, Marcel Rosenbach und Holger Stark)

Auch NSA-Experte James Badford bestätigt in der TAZ, dass die NSA nicht zur Terrorbekämpfung eingerichtet worden ist – viele Attentate wurden nicht vorausgesehen, obgleich ihre Planer vom NSA-Raster geführt wurden –, sondern die Kapazität habe, eine „totale Tyrannei“ zu errichten“. (Interview von Wolf Schmidt in der TAZ)

Wäre das nicht die Stunde der Opposition, wenn die Regierung in den Grundprinzipien eines Rechtsstaates auf der ganzen Linie versagt? Wo bleibt Steinbrück? Wo bleiben Milliardäre und Geldeliten mit ihrem Protest gegen die planetarische Entsorgung von Briefgeheimnis und Gedankenfreiheit?

Nicht nur Gedankenfreiheit, auch Denkfreiheit wird immer mehr durch bewusste Sprachregulierung im Dienste der Einprozentweltelite (EWE) eingeschränkt. Wer hat das als Zeichen eines ultimativen Überwachungsstaates schon lange vorausgesehen? „Zum Schluss werden Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht werden, da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte.“

Wenn Menschen wissen, dass bestimmte Worte von den Allwissenden besonders aufmerksam herausgefiltert werden, um potentielle Feinde ausfindig zu machen, werden sie verräterische Slogans durch vorauseilende Zensur unterdrücken.

„Hast du schon mal bedacht, Winston, dass um das Jahr 2050 kein Mensch mehr am Leben sein wird, der ein solches Gespräch, wie wir es eben führen, überhaupt verstehen könnte? Mit dem Jahre 2050 wird jede wirkliche Kenntnis der Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neusprech-Fassungen vorhanden sein. Das ganze Reich des Denkens wird anders sein. Es wird überhaupt kein Denken mehr geben – wenigstens nicht, was wir heute darunter verstehen. Staatsunterwürfigkeit bedeutet: nicht mehr denken – nicht mehr denken zu brauchen.“ (George Orwell)

Mit Macht steuern wir dem Jahre 2050 entgegen. Was sagen unsre öffentlich-rechtlichen Eliten zu den Problemen? „Es gibt keine Lösungen. Und das ist gut so.“ („Kulturzeit“ im öffentlich-rechtlichen 3-Sat)